Luzerner Ex-Gefängnis feiert 35-Jahr-Jubiläum

zentralplus crasht das Sedel-Open-Air – und keiner merkt’s

Sorgten für gute Laune und Stilaugen: Kadebostany auf dem Vorplatz des Sedels.

(Bild: lwo)

Nach 35 Jahren hat das sagenumwobene Musikhaus Sedel erstmals ein Open-Air organisiert. Mit vielen merkwürdigen Bands und Möglichkeiten, einen indiskreten Einblick in das ehemalige Gefängnis zu erhalten. Um einen möglichst authentischen Einblick zu gewinnen, hat zentralplus undercover recherchiert. Das wär zwar nicht nötig gewesen, hat aber Spass gemacht.

Freitagabend, kurz vor 20 Uhr. Vor dem Sedel, dem alternativen Luzerner Musikzentrum, reihen sich ein paar Hundert Velos, Sicherheitsleute kanalisieren die eintrudelnden Besucher zum eingezäunten Vorplatz, laute Musik wabert uns aus der Richtung des ehemaligen Gefängnisses entgegen. Wir stellen fest: Das erste Sedel-Open-Air der Geschichte hat am Tag eins von zweien bereits Fahrt aufgenommen. Wir gehen rein und bestellen, um nicht aufzufallen, gleich mal ein Bier. Denn heute wollen wir undercover recherchieren. Das kommt viel authentischer rüber, glauben wir.

Tolle Musik, wenig Besucher zum Auftakt

Noch ist der Vorplatz, um es freundlich zusagen, nicht rappelvoll. Zwar nachvollziehbar, weil das Sedelpublikum normalerweise erst drei Stunden später in die Gänge kommt. Aber auch etwas schade, denn die Musik ist richtig gut.

Überschaubarer Besucheraufmarsch um 20 Uhr (Bild: lwo).

Überschaubarer Besucheraufmarsch um 20 Uhr (Bild: lwo).

Die Berner Combo I Made You A Tape, von der wir noch nie etwas gehört haben, besteht aus zwei Frauen und zwei Jungs und serviert einen überraschend eigenständigen Wave-Cocktail. Tolle Entdeckung, danke Sedel! Da verzeihen wir auch eher bemühte Ansagen der Sängerin wie: «Ihr macht mich so durcheinander, dass ich jetzt fast mein Wasser nicht mehr gefunden hätte.» Und das auf Berndeutsch.

Auftritt von I Made You A Tape am Freitagabend (Bild: lwo).

Auftritt von I Made You A Tape am Freitagabend (Bild: lwo).

Guter Auftakt also, wir sind zufrieden und begiessen das mit einem Bier, um auch weiterhin nicht negativ aufzufallen. Und deshalb machen wir Fotos und Videos auch nur mit dem Handy, die grosse Kamera zerstört zudem auch oft die Natürlichkeit und Spontaneität einer Szenerie. Allerdings taugt ein Handy nicht für Fotos im Dunkeln, wie wir zu spät feststellen mussten und Sie sicher auch schon bemerkt haben: Von den 130 Bildern waren zwei tauglich und die Videos … ach, sehen Sie selbst. Das nächste Mal, versprochen, machen wir’s besser.

An Schlaf ist nicht zu denken

Es ist nun 20.15 Uhr, nächste Station ist das «Garten» genannte Plätzchen hinter dem alten Knast, mit tollem Blick runter auf den Rotsee. Auf der kleinen Bühne sitzt eine kleine unscheinbare Frau mit einer Gitarre. Schon wieder eine Frau – ist heute Ladies Night? Wir wissen es nicht, sind aber schon sehr bald sehr angetan von der Westschweizerin. Normalerweise schlafen wir bei Singer-Songwriter-Musik sofort ein. Aber diese Emily Zoé, die hat was. Die singt zwar auch ganz ruhig, aber an Schlafen ist nicht zu denken, dazu ist der Sound viel zu spannend. Erneut dürfen wir sagen: Gute Wahl, lieber Sedel!

Emily Zoé auf der Garten-Bühne hinter dem Sedel (Bild: lwo).

Emily Zoé auf der Garten-Bühne hinter dem Sedel (Bild: lwo).

Auf zu den Proberäumen!

Und jetzt, um 20.30 Uhr, wird’s richtig spannend. Denn das coole an diesem Open-Air ist, dass man auch dort reinschauen kann, wo man sonst aussen vor steht: In die Proberäume der Musiker. 54 hat’s davon, bespielt von rund 100 Bands. Wie’s dort wohl aussieht?

Neugierig steigen wir ins Sedel-Obergeschoss und quetschen uns in den Bandraum von Hellvis. Erste Überraschung: Da singt schon wieder eine Frau. Zweite Überraschung: Diese Räume sind superklein. So vier mal vier Meter, was heisst: Mit zehn Besuchern ist’s ausverkauft. Da hätte es den Gratis-Schnaps, der abgegeben wird, nicht einmal gebraucht. Aber die Erklärung dafür leuchtet ein: «Weil wir gerne betrunken sind, sollt ihr es auch sein.» Wir prosten abgeklärt in die Runde, erfreuen uns an der Musik und lassen uns weiter treiben.

Im Proberaum von Hellvis (Bild: lwo).

Im Proberaum von Hellvis (Bild: lwo).

Auch Männer können singen

20.45 Uhr, nächster Halt: Der Bandraum von Preamp Disaster. Der ist genauso winzig wie jener zuvor, was aber durch den grosszügigen Einsatz von Kunstrauch clever verschleiert wird. Und siehe da: Es steht ein Mann am Mikro. Bye Bye Ladies-Night. Auch hier hätte es als Anreiz, dem Konzertli der schön lauten Band beizuwohnen, kein Gratisbier benötigt – die Besucher stehen sich draussen eh die Beine in den Bauch. Aber weil man Geschenke nicht ablehnen soll, und weil wir unsere Tarnung nicht aufgeben wollen, greifen wir zu. Und nehmen dann das wohl unprofessionellste Musikvideo schlechthin auf:

Punks in der Pianobar

Nach Preamp Disaster brauchen wir eine Auszeit und inspizieren gleich mal das Klo. Alles sauber. Dann lassen wir uns durch die Gänge schieben, beäugen die Merchandising-Artikel, linsen in diesen und jenen Bandraum und landen schliesslich in der Pianobar.

Dort lässt sich einer geduldig von einer Tele1-Reporterin interviewen. Muss sich um einen Vertreter der Luzerner Punklegende Möped Lads handeln, nehmen wir an, denn die laden hier ein zu einem Rückblick auf 40 Jahre Punk und 35 Jahre Sedel. Um unser Unwissen zu übertünchen, bestellen wir an der Bar bei Sony Mopeds aka Martin Gössi geschmeidig ein Bier.

In der Pianobar gibt sich Gössi (mit Kopftuch) die Ehre (Bild: lwo).

In der Pianobar gibt sich Gössi (mit Kopftuch) die Ehre (Bild: lwo).

Ziemlich lässig hier, viele Tatoos, viel (Zigaretten-)Rauch und viele von Gössis coolen Konzertplakaten. Aber kein Konzert, und auch schon bald 22 Uhr, drum ab nach draussen.

Friede, Freude, Kadebostany

Der mit vielen Ess- und Trinkständen schmuck rausgeputzte Vorplatz ist jetzt gut gefüllt. Die Stimmung ist enorm friedlich, alle plaudern, lachen und erfreuen sich am warmen Herbstabend. Dank der Dunkelheit und der Gratisgetränke schwinden unsere Sorgen, enttarnt zu werden. Wir lümmeln unauffällig vor der Bühne rum und tun beschäftigt.

Dann starten Kadebostany ihr Set. Kadewer? Noch nie gehört? Wir auch nicht, wie eigentlich vom kompletten Programm dieses Open-Airs. Aber Neues zu entdecken macht Spass, besonders wenn’s den eigenen Geschmack trifft. Das ist – Respekt, lieber Sedel – auch bei den Genfern nicht anders.

Auftritt Kadebostany am Freitagabend auf dem Vorplatz des Sedels (Bild: lwo).

Auftritt Kadebostany am Freitagabend auf dem Vorplatz des Sedels (Bild: lwo).

Zwar ist ihre Live-Show nun wirklich nicht «verdammt wild», wie auf dem Open-Air-Flyer steht, sondern eine eher sphärische Angelegenheit, mit gelegentlichen Aufmuckern. Aber der von zwei Bläsern und etwas Synthie untermalte Gesang der – ha, schon wieder – Frontfrau hat etwas Packendes. Nun schunkeln doch einige der Besucher im Takt, was zu dieser frühen Stunde als eine Art tosender Applaus aufgefasst werden darf. Sicher nicht negativ für die Band wirkt sich aus, dass die Sängerin nicht nur weiss, dass sie gut aussieht, sondern das freundlicherweise auch dem Publikum nicht vorenthält. Tolle Beine.

Auch von diesem Auftritt haben wir ein Video gemacht. Wenn man den Ton leise dreht, ist es gar nicht so schlimm geworden:

Wohl zwei Mal ausverkauft

So, es ist 22.30 Uhr. Für Ü40 wie uns ist es Zeit, in die Heia zu gehen. Aber wer jetzt schon abdampft, muss ja Journalist sein. Oder Langweiler. Wir wollen zum Schluss nichts riskieren und starten ein gewagtes Manöver: Rauchpause vortäuschen, wie zufällig zum Ausgang schlendern – und dann rassig ab durch die Dunkelheit.

Mit insgesamt rund 700 Besuchern ist der erste Abend ausverkauft. Für den Samstag hat’s ab 15 Uhr nur noch 100 Tickets an der Abendkasse. Wer hingeht, hat nicht nur gute Chancen, tolle Musik zu entdecken. Allein die Begehung des durch und durch versprayten und zuplakatierten Ex-Gefängnisses Sedel ist ein Ereignis. Ob in cognito oder nicht, ist Wurst. Prost.

Hinweis 1: Auf zentralplus.ch gibt’s morgen Sonntag eine Rezension übers Sedel-Open-Air zu lesen.

Hinweis 2: Der Fotograf Jakob Ineichen hat für den Sedel vor Ort fotografiert und uns freundlicherweise ein paar seiner Bilder zur Verfügung gestellt. Sehen Sie hier:

Deine Ideefür das Community-Voting

Die Redaktion sichtet die Ideen regelmässig und erstellt daraus monatliche Votings. Mehr zu unseren Regeln, wenn du dich an unseren Redaktionstisch setzt.

Die Kommentarfunktion für diesen Beitrag wurde deaktiviert.
5 Kommentare
  • Profilfoto von HELVETIAROCKT
    HELVETIAROCKT, 06.09.2016, 14:31 Uhr

    Gerne nehmen wir mit Zentral+ direkt Kontakt auf was diesen Artikel betrifft.
    Danke für die Kommentare und die Aufmerksamkeit allerseits!

    👍0Gefällt mir👏0Applaus🤔0Nachdenklich👎0Daumen runter
  • Profilfoto von Christian Hug
    Christian Hug, 05.09.2016, 10:04 Uhr

    Für zentralplus sind Frauen auf den Bühnen selbstverständlich. Aus diesem Grund ist auch die Kritik für uns nur schwer nachzuvollziehen. Wäre es unsensibel, würde der Satz stattdessen «Schon wieder ein Mann – ist heute Herrenabend?» heissen? Eher nicht. Setzt man stattdessen die Frau ein, wird es offenbar sexistisch. Aber wie sagt man doch so schön: Sexismus liegt im Auge des Betrachters oder vielmehr der Betrachterin.

    👍0Gefällt mir👏0Applaus🤔0Nachdenklich👎0Daumen runter
    • Profilfoto von Stoph Ruckli
      Stoph Ruckli, 06.09.2016, 02:44 Uhr

      Der Autor verweist mehrere Male darauf, dass eine Frau auf der Bühne steht plus hebt er noch die äusserlichen Attribute einer Musikerin besonders hervor, und dies auf eine Art und Weise, die hier oft genug kritisiert wurde – und für Sie ist die Kritik nicht nachvollziehbar? Zumal der Artikel offensichtlich bei mehreren Betrachterinnen und Betrachtern Unmut hervorruft? Haben Sie denn schon einmal Phrasen wie «wieder ein Mann – ist heute Herrenabend?» in einem seriösen (Musik)text gelesen? Oder «ha, schon wieder – ein Frontmann»?

      Mir ist bewusst, dass es zum Job eines Geschäftsführers gehört, hinter seinem Team zu stehen. Das finde ich lobenswert. Aber in so einem groben Fall hätte eine Entschuldigung wesentlich mehr geholfen. Und die Lektüre von Artikeln wie beispielsweise diesem (https://www.woz.ch/-6eab) oder jenem hier (http://www.annabelle.ch/leben/gesellschaft/sexismus-musikbranche-42228). Und für die Zukunft eine Sitzung mit Helvetiarockt (www.helvetiarockt.ch), welche hoffentlich hilft, solche Artikel zu vermeiden.

      👍0Gefällt mir👏0Applaus🤔0Nachdenklich👎0Daumen runter
  • Profilfoto von Stoph Ruckli
    Stoph Ruckli, 04.09.2016, 23:49 Uhr

    Die Meinung zu den Bands und die Kenntnis derer mag die eine Seite sein – man darf sich ja gerne mal überraschen lassen. Die andere Seite und berechtigte Kritik an jener «Kritik» ist, wie der Autor punkto Frauenthematik vorgeht. Das ist unsensibel und nicht angemessen. Phrasen wie «Schon wieder eine Frau – ist heute Ladies-Night?» haben in einem Text im Jahre 2016 einfach nichts verloren. Es gibt auch andere Wege, den löblich-hohen Frauenanteil am Sedel Open Air zu umschreiben. Am liebsten wäre mir aber, wenn dieser gar nicht erwähnt wird. Frauen auf Bühnen sollten selbstverständlich sein.

    👍0Gefällt mir👏0Applaus🤔0Nachdenklich👎0Daumen runter
  • Profilfoto von jungesblut
    jungesblut, 04.09.2016, 14:16 Uhr

    Kann den Kommentar nicht nachvollziehen, habe mich gut unterhalten gefühlt durch diesen ehrlichen Erlebnisbericht. Braucht nicht immer eine klassische Konzertkritik zu sein. Auch mir waren diese Bands nicht bekannt, dank der positiven Worte höre ich bei Kade… wie auch immer sehr gerne mal rein.

    👍0Gefällt mir👏0Applaus🤔0Nachdenklich👎0Daumen runter
Apple Store IconGoogle Play Store Icon