Zwanzig Sekunden nachdem sie auf ein Touchpad in ihrer Wohnung drückt, wartet der Lift im sechsten Stock des Hochhauses auf Heidy Schumpf. Diese Zeit hat die Seniorin im Haussystem eingestellt, als sie im Jahr 2019 einzog.
Im Lift gibt es keinen Knopf. Stattdessen hält die Seniorin ihren Badge an einen Sensor, und auf einem Touchscreen erscheinen Zahlen. Sie drückt die Nummer 17, für die Gemeinschaftsterrasse. Manchmal nehme sie dort einen «Aperitif», sagt sie. Heute will sie nach den Pflanzen sehen.
Die gebürtige Baarerin lebt seit fünf Jahren im Aglaya-Hochhaus in der Gemeinde Risch-Rotkreuz. Täglich sehen Hunderte Pendler den grünen Turm, auf der Strecke Zürich-Luzern. Das 70 Meter hohe bepflanzte Gebäude steht gleich neben dem Bahnhof Rotkreuz und ist in der Schweiz einmalig.
Oben auf dem Dach läuft die Seniorin zu den jungen Eichen und Ahornbäumen. Vögel mit rotem Köpfchen flattern um die Baumwipfel. Plötzlich schiesst einer der Distelfinken über die Dachkante in die Tiefe. Heidy Schumpf eilt ans Geländer, blickt dem Vogel nach und ruft: «Sturzfluuug.» Dann lacht sie und widmet sich dem Unkraut in den Trögen.
Heidy Schumpf ist pensioniert. Ihr gehört eine 2-Zimmer-Wohnung im sechsten Stock des Wohnturms. Niedrig genug, dass sie laufen kann, wenn die Technik mal versagt. Sie lacht, wenn sie das sagt. Über den Kaufpreis der Wohnung will sie nicht sprechen. Sie betont aber, wegen ihres Jobs keinen Vorteil bei der Bewerbung gehabt zu haben.
Bis zu ihrer Pension arbeitete die ehemalige Sekretärin für die Immobilienfirma Zug Estates. Die Firma begann im Jahr 2010 auf einem verlassenen Industrieareal am Bahnhof Rotkreuz, ein modernes Quartier zu bauen. Wo früher die «Sauerstoff- und Wasserstoff-Werke Luzern» produzierten, entstand die Suurstoffi mit 32 Gebäuden, 2500 Arbeitsplätzen, 550 Wohnungen, einem Campus der Hochschule Luzern und einer internationalen Schule.
Ein Wohnturm wie aus dem Star-Wars-Universum
In der Mitte der Suurstoffi ragt Aglaya in die Höhe. Das 90-Millionen-Franken-Hochhaus der Ramser Schmid Architekten wirkt aus der Nähe wie Star-Wars-Architektur. Aus dem welligen Sichtbeton ragen abgerundete Balkons, auf denen Pflanzen wuchern. Im Sockel befinden sich ein Restaurant und Büros. Zwei verbundenen Türme wachsen daraus empor.
«Vom ersten Strich bis zur Vollendung des Gebäudes war ich bei jeder Sitzung dabei», sagt Heidy Schumpf. Sie kennt das moderne Quartier in- und auswendig: weiss, wie geheizt wird und welche Auflagen die Gemeinde beim Bau machte. Zum Beispiel habe Rotkreuz gefordert, dass die Wohnungen im Turm verkauft werden.
Die Rede ist von den 85 Eigentumswohnungen mit 1,5 bis 5,5 Zimmern im Aglaya. Zwischen 645'000 und 2,77 Millionen Franken kosteten sie vor acht Jahren. Inklusive der grossen Tröge mit Pflanzen auf den Balkonen. Dreimal im Jahr kommen Gärtner in die Wohnung, zum Schneiden. Im Juni und Oktober seilen sie sich dafür an der Fassade ab.
Heidy Schumpf ist die gute Seele des Hauses
Heidy Schumpf steht auf ihrem eigenen Balkon. Sie zeigt auf zwei lila Hortensien im Pflanzentrog. Ein netter Gärtner habe sie ihr geschenkt, wegen ihrer Lieblingsfarbe. Versteht sie sich mit allen so gut? Ja, sagt sie mit einem Lächeln. Im Haus würden sie alle beim Namen kennen. Es scheint, als wäre Heidy Schumpf die gute Seele des grünen Turms.
In ihrer 2-Zimmer-Wohnung gibt es ein Schlafzimmer, ein Bad und einen modernen Wohnraum mit offener Küche. An den Wänden hängen Gemälde von Zuger Künstlern, in der Ecke steht ein hölzerner Sekretär. Per Touchscreen lassen sich Licht und Jalousien steuern. Aus den Fenstern blickt man auf die Hochhäuser des Areals.
Dass die Baarerin einmal hier leben würde, war nicht absehbar. «Der Ruf von Rotkreuz war früher nicht wirklich verlockend.» Doch dann fügte sich das Leben. Als Kind einer Schneiderin und Enkelin von Bauern machte sie eine kaufmännische Lehre. Jahrelang arbeitete sie in internationalen Firmen in Zug und kurz in Paris. Dann wechselte sie zu Zug Estates.
Ihr damaliges Büro lag auf dem Suurstoffi-Areal und ihre Meinung änderte sich. «Die Gemeinde ist dynamisch, jung und gut aufgestellt», sagt sie. Heute kenne sie mehr Leute in Rotkreuz als in Baar. Mit ihnen spricht sie wahlweise Deutsch, Französisch oder Englisch, denn ihre Freunde stammen aus der ganzen Welt. Getroffen wird sich im International Women Club Zug – oder im Turnverein.
Pflanzen kühlen im Sommer die Wohnungen
Doch nicht nur die Gemeinde hat es der Seniorin angetan. Auch das Leben zwischen Pflanzen begeistert sie. 140 Bäume und Grosssträucher, 1300 normale Sträucher, 15'000 Stauden und 25'000 Zwiebelpflanzen: So beziffert die Firma Zug Estates, was auf ihrem grünen Turm so wächst.
Die Pflanzen spenden Schatten und kühlen die Wohnungen im Sommer. «Ich habe auf dem Balkon im Sommer mindestens 2 Grad weniger Lufttemperatur», meint Heidy Schumpf. Das sei eine ganz andere Lebensqualität. Bepflanzte Hochhäuser sind in der Schweiz noch Neuland, in Singapur dagegen fast schon normal. Die berühmtesten grünen Türme in Europa stehen in Mailand und heissen «Bosco Verticale», «vertikaler Wald».
Hybride SUVs im Keller, PV-Anlagen auf dem Dach
Auch den echten Wald liebt Heidy Schumpf. Eifrig zeigt sie Bilder von Skitouren auf den norwegischen Lofoten und erzählt vom Mountainbiken in Südostasien. Wegen ihrer Naturliebe habe sie sich für die Wohnung in der Suurstoffi entschieden.
Denn das Areal sieht nicht nur grün aus. Das Energiesystem des Suurstoffi-Areals stösst im Betrieb kein CO₂ aus. Die Energie für Warmwasser, Heizung und die Kühlung im Sommer liefern grosse Erdsondenfelder unter dem Areal, auf den Dächern liegen Fotovoltaikanlagen.
Ein Stück oberhalb der Erdsonden liegt die Tiefgarage. Sie zeigt, dass der Traum von grünen Leben seinen Preis hat. Wer sich eine Wohnung im grünsten Turm der Schweiz leisten kann, fährt SUV. Audi, BMW, Porsche, Tesla: Teure Marken und grosse Autos, so weit das Auge reicht. Dafür leuchtet hinter jedem der 122 Parkplätze eine blaue Ladesäule: Wer hier wohnt, fährt Hybrid.
Auch Heidy Schumpf hat einen Hybrid-Toyota. Lieber aber hat sie ihr Velo, mit dem sie an die Reuss fährt. Oder die lila Ski für die Berge. Und wenn mal keine Zeit für weite Reisen ist, gibt es nur eine Liftfahrt entfernt eine Dachterrasse mit Bäumen, Narzissen, Distelfinken und Amseln. Manchmal spreche sie mit ihnen.
hat Politikwissenschaften, Philosophie und Wirtschaft studiert und an der Universität Luzern zur Mobilität von Gesetzen geforscht. Seit 2022 bei zentralplus, zuständig für die Ressorts Bauen&Wohnen und Verkehr&Mobilität. Parallel absolviert er die «Diplomausbildung Journalismus» am MAZ Luzern.
Hier wird einiges grün gefärbt. Dieses Haus ist niemals energieautark, insbesondere im Winter ist es weit davon entfernt. Die PV-Anlage kann gar nicht genug Strom für Wärmepumpen (Heizung, Warmwasser) und E-Autos produzieren. Berufstätige laden ihre E-Autos meist in der Nacht zum Niedertarif aus dem Netz. Und längst nicht alle Hybridautos fahren mit Strom von Ladestationen oder Steckdosen (Plug-in). Toyota ist Pionier bei Normalhybriden, also Benzinern, die Strom für ihren zusätzlichen Elektromotor durch Rekuperation beim Bremsen gewinnen.