Im August ziehen die ersten Mieter in den dritten Neubau auf der Reussinsel in Luzern ein. Damit endet deren Geschichte als legendärer Industrieort – wären da nicht die Turbinen.
Vor zwei Jahren riss die Axa-Versicherung für die letzte Etappe ihrer Überbauung ein Industriegebäude auf der Luzerner Reussinsel ab. Nun ist das Projekt «Reussinsel III» fast fertig, am 1. August ziehen die ersten Mieter ein. Damit endet die Geschichte eines Ortes, der Luzerns Erfolg als Wirtschaftsstandort entscheidend mitgeprägt hat. Hier soll ein Szenequartier entstehen.
Ein Augenschein vor Ort zeigt: Im neuen Gebäude ist bisher nur eine Musterwohnung eingerichtet. Warme Töne, eine offene Küche und grosse Glasfronten fallen direkt auf. Alle 64 Wohnungen im Haus haben eine Terrasse zur Reuss und fast alle eine zweite in Richtung Sonnenberg. Durch die Dreifachverglasung sind die angrenzende Bahnstrecke und die direkt dahinterliegende Baselstrasse nicht zu hören.
Mietzinse von 1700 bis 5000 Franken pro Monat
Das Bauprojekt sei gut verlaufen, sagt Patrick Koch bei einer Besichtigung. Er ist der Bauprojektleiter bei der Axa Investment Managers, einem Fonds der Versicherung. Keine Verzögerung, keine Mehrkosten – trotz Pandemie und Ukraine-Krieg, so sein Fazit. Insgesamt hat das Gebäude 30 Millionen Franken gekostet, geplant hat das Luzerner Architekturbüro Scheitlin Syfrig.
Die Mieten in der «Reussinsel III» sind breit gestreut: Eine 5,5-Zimmer-Wohnung im Attikageschoss mit grossen Balkonen kostet 5000 Franken Miete pro Monat; eine 3,5-Zimmer-Dachwohnung mit Blick auf die Stadt rund 3000 Franken. Günstigere 2,5-Zimmer-Wohnungen gibt es für 1700 Franken. «So können wir für eine ganz breite Masse Wohnungen anbieten», sagt Stephanie Oefele. Sie arbeitet ebenfalls für den Axa-Fonds.
Schon heute wohnen im «künftigen Szenequartier»
Im Gebäude gibt es 42 Wohnungen mit 3,5 Zimmern. Heute würde die Versicherung weniger von ihnen planen. «Wir merken, dass die Nachfrage nach grösseren Wohnungen wächst», sagt Stephanie Oefele. Luzern habe eine grosse Anziehungskraft für internationale Firmen. «So kommt Klientel in die Stadt, die nach hochwertigem Wohnraum sucht.» Und ihn auf der Reussinsel finden soll.
Die Lage des Hauses, direkt am Fluss und nahe der Innenstadt, sei ein grosses Plus, meint Shirin Mallasch. Sie ist Teil der Geschäftsleitung von Smeyers Immobilien in Emmen und für die Vermietung verantwortlich. 70 Prozent des Gesamtmietertrags sei bereits vermietet, sagt sie zufrieden. Das Quartier rund um die Baselstrasse bezeichnet sie als «künftiges Szenequartier». Dass es heute als Luzerns Brennpunkt gelte, sei den künftigen Bewohnern bewusst.
Reussinsel war Luzerns erster Industrieort
Überraschend kam dagegen der Fund von zwei alten Turbinenrädern. Sie steckten im Uferboden der Reuss und mussten beim Bau mit dem Bagger ausgegraben werden. Rund vier Meter Durchmesser hat jedes der rostigen Räder. Sie zeugen von der Geschichte des Ortes.
«Die Reussinsel ist die Wiege der Luzerner Industrie», sagt Urs Häner. Der 68-Jährige organisiert Führungen rund um die Baselstrasse und beobachtet ihren Wandel seit Jahrzehnten. Auf der Reussinsel habe die Firma Swiss Steel ihren Ursprung, damals als Eisenwarenhersteller Von Moos; und auch der Lifthersteller Schindler, der dort 1874 seine erste Werkstatt eröffnete.
«Vor 25 Jahren entschied die Politik dann, dass die Reussinsel zum Wohnort werden soll», erinnert sich Häner. Die alten Häuser, in denen damals Studenten und Gastarbeiter lebten, liess die neue Eigentümerin Axa abreissen und begann zu bauen. Im Jahr 2006 wurde die «Reussinsel I» eröffnet, zwei Jahre später die zweite Etappe «Reussinsel II», mit insgesamt 57 Wohnungen.
«Aus Quartiersicht waren die neuen Gebäude ein brutaler Eingriff.» Aus der gewerblich-industriellen Reussinsel sei eine postindustrielle Wohnzone geworden, findet Häner. Mit der dritten Etappe der Axa-Überbauung sei dieser Prozess nun abgeschlossen. «Jetzt ist das Industriezeitalter hier definitiv vorbei.» Die letzte Firma, die gehen musste, war die 1895 gegründete Schreinerei Obrist. Sie zog 2017 nach Inwil.
Zwei Räder sollen die Geschichte der Reussinsel bewahren
Nur noch drei Gebäude auf der Reussinsel zeugen von den alten Tagen als Industrieort. Es sind die kleinen Genossenschaftshäuser nahe der St.-Karli-Brücke. Doch auch ihre Tage sind gezählt, denn die Stadt plant mit dem Reusspark und dem Quartierplatz Dammgärtli einen neuen Park. Dafür werden die Gebäude abgerissen. Noch ist unklar, wann (zentralplus berichtete).
Urs Häner gefallen die städtischen Projekte trotzdem. Er fragt sich aber, warum das Gewerbe vollständig von der Reussinsel verdrängt werden musste. «Auch Kleingewerbe sollte seinen Platz haben», findet er. Daher hat Häner ein Herzensanliegen: Das gefundene Turbinenrad soll vor Ort bleiben, um an die Geschichte der Reussinsel zu erinnern.
Ob es dafür Chancen gibt? Patrick Koch von der Axa erzählt, was mit den Rädern passiert ist. Eines sei vor Ort auseinandergebrochen. Das andere habe die Firma eingelagert. Auf dem Axa-Grundstück gebe es leider keinen Platz, um das Rad aufzustellen. Und die Stadt Luzern, die auf einer Nachbarparzelle einen Spielplatz baut, habe kein Interesse am Rad bekundet. Jetzt seien gute Lösungen gesucht.
Hinweis: Nach Publikation des Artikels hat die Stadt Luzern auf eine Medienanfrage zum Projekt Reusspark und Dammgärtli geantwortet. Die Ausschreibung für einen Projektwettbewerb werde im Herbst 2024 starten. Die Ergebnisse sollen etwa im Juni 2025 vorliegen.
- Website der Reussinsel
- Augenschein vor Ort
- zentralplus Medienarchiv
- Gespräch mit Urs Häner, Untergrundgänger
- Artikel in der «Schreinereizeitung»
- Informationen über die Geschichte von Schindler
- Schriftlicher Austausch mit der Stadt Luzern