Luzerner Architekt verfrachtet Hunderte Fenster in die Ukraine
Von links nach rechts: Christoph Stalder, Tiefbau Schüpfheim, Félix Dillmann, Verein Re-Win,
Bruno Hermann, Architekten-Gemeinschaft A4AG, Andrei, Chauffeur aus der Ukraine und Mirco Balinzo, Architekten-Gemeinschaft A4AG. (Bild: zvg)
Hunderte Fenster schickt der Luzerner Architekt Bruno Hermann los in Richtung Ukraine. Im Interview mit zentralplus sagt er, ob er um den Chauffeur des Lastwagens bangt, der die Fracht mitten ins einstige Kriegsgebiet fahren muss.
2500 Kilometer ist Schüpfheim von der ukrainischen Stadt Dnipro entfernt. Mit dem Auto dauert die Fahrt 30 Stunden. Mit dem Sattelschlepper wohl etwas länger – wenn Krieg herrscht, erst recht. Die Fenster, die momentan noch im beschaulichen Luzerner Dörfchen lagern, sollen schon bald in der kriegsnahen Millionenstadt im Osten der Ukraine verbaut werden.
Am Freitagabend ist der Sattelschlepper losgefahren. Nur, um im November erneut Hunderte Fenster ins Kriegsgebiet zu verfrachten. Architekt Bruno Hermann hofft, dass bis dann die letzten Finanzierungslücken geschlossen sind. Denn die in Luzern bei einer grösseren Renovation ausgebauten und ersetzten Fenster schaffens nur dank zahlreichen Spendern und der Zusammenarbeit mit dem Basler Verein Re-win in die Ukraine.
Gegenüber zentralplus erzählt Hermann, ob er mit Sorgen auf den Transport der Luzerner Fenster in die Ukraine blickt, wie gut er über das Kriegsgeschehen in Dnipro unterrichtet ist und wie er auf die verrückte Idee kam, normalerweise als Bauschutt entsorgtes Material für humanitäre Zwecke zu spenden.
zentralplus: Bruno Herrmann, am Freitagnachmittag gings mit den ersten 100 von total 290 Fenstern los Richtung Ukraine. Sind Sie, nach der ganzen Planung, von der Konzeption bis zum Organisieren des Sattelschleppers, nervös?
Bruno Hermann: Nein, ich freue mich einfach, dass die Planung dieser «Fensterrettung» nun tatsächlich Früchte trägt. Wir haben dem ukrainischen Chauffeur gestern gegen 17 Uhr in Schüpfheim eine gute Fahrt gewünscht. Er fährt nun in den nächsten Tagen nach Dnipro.
zentralplus: In der Ukraine herrscht Krieg. Könnten Sie sich dennoch vorstellen, im Sattelschlepper mitzufahren?
Hermann: Nein, das ist kein Thema. Was sollte ich da tun? Dnipro ist eine Millionenstadt. Die Menschen gehen da, so weit möglich, ihrer gewohnten Tätigkeit nach und versuchen ein normales Leben zu führen.
zentralplus: Bestehen Sicherheitsbedenken, was das Personal angeht, welches die Fenster ausliefert? Halten Sie Ihre Kontakte in der Ukraine über die Geschehnisse auf dem Laufenden?
Hermann: Ich habe keine Bedenken, welche denn? Die Transporteure sind Ukrainer, die aus der Region stammen und regelmässig Material in die Schweiz liefern. Wir nutzen die Leerfahrt auf dem Rückweg. Diese Fahrer sind ortskundig und wissen, wie sie mit Checkpoints und Grenzübergängen in frontnahen Gebieten umgehen müssen. Natürlich ist bei Einsätzen in kriegsnahen, aber befreiten Gebieten Vorsicht geboten. Re-win arbeitet eng mit ukrainischen Partnern zusammen, die die Risiken evaluieren. Wichtig zu wissen ist, dass in diesen Regionen weiterhin Hunderttausende von Menschen ihren Alltag bestreiten, zur Arbeit und zur Schule gehen. Die lokalen Partner von Re-win führen regelmässig Bedarfs- und Risikoanalysen durch, um die Zweckmässigkeit der Fenster mit Blick auf den Einsatz zu bewerten.
zentralplus: Wie gut können Sie einschätzen, wie prekär die Lage in Dnipro ist, wo die Fenster eingebaut werden sollen?
Hermann: Die Fenster werden in kriegsbeschädigten Gebäuden in frontnahen Gebieten eingebaut. Die Lage ist dynamisch und stark von politischen Entwicklungen abhängig, die auch Re-win als Nichtexperten nur schwer einschätzen können. Deshalb arbeiten sie mit NGOs vor Ort zusammen, die die Situation besser beurteilen können. Zudem orientieren sie sich an internationalen Vorgaben für Wiederaufbau und Nothilfe in der Ukraine.
zentralplus: Wer an Hilfsgüter für Kriegsgebiete denkt, würde wohl eher Wasser, Nahrung oder warme Kleider senden wollen. Wie sind Sie auf die Idee gekommen, Fenster zu spenden?
Hermann: Viele Gebäude in der Ukraine sind immer noch in intaktem Zustand, aber durch Druckwellen wurden die Fenster zerstört, was die Wohnräume unbewohnbar macht. Die Menschen sind der Witterung und Kälte ausgesetzt. In der Schweiz hingegen gibt es einen massiven Überfluss. Qualitativ hochwertige und funktionstüchtige Fenster werden von der Bauindustrie systematisch verschrottet. Die Kombination der humanitären Notlage mit Prinzipien des zirkulären Bauens bietet eine sinnvolle Alternative zur Verschwendung und sensibilisiert auch in der Schweiz für verantwortungsbewussteres Handeln im Bauwesen. Zudem möchten wir, dass die Nothilfe von Beginn weg Strategien verfolgt, die langfristige Lösungen ermöglichen. So hoffen wir, dass unsere 290 immer noch sehr guten Fenster den Bewohnern auch nach dem Ende des Krieges dienen können.
zentralplus: Als Architekt haben Sie einen besonderen Bezug zu Gebäuden. Was machen die Bilder von zerstörten Wohnblocks und aufgerissenen Strassen mit ihnen?
Hermann: Entsetzen! Wir zerstören wertvolle Infrastrukturen und Kulturen und damit immer auch Raum von und für Menschen. Sinnlos. Aber jedes unserer Fenster ermöglicht im Kriegsgebiet zumindest einen weiterhin bewohnbaren Raum für zwei Menschen.
zentralplus: Nicht nur in der Ukraine herrscht Krieg, sondern auch im Nahen Osten, in der Demokratischen Republik Kongo oder im Sudan. Doch Fenster in diese Gebiete zu transportieren, wäre wohl logistisch kaum machbar und ökologisch fragwürdig – oder könnten Sie sich sowas vorstellen?
Hermann: Grundsätzlich ist vieles möglich, wenn der Wille da ist. Viele unserer Konsumgüter in der Schweiz reisen teils mehrfach um die Welt, bevor sie in unseren Regalen stehen. Was die ökologische Frage betrifft, so sparen wir durch die Wiederverwendung der Fenster, trotz Rückbau und Transport in die Ukraine etwa 91 Prozent der grauen Energie ein, die für die Herstellung neuer Fenster anfiele. Angesichts der Auswirkungen des Klimawandels – wie Erdrutsche in Brienz oder Fluten in der Zermatt – sollten wir uns stärker auf ökologische Entscheidungen fokussieren und negative gesellschaftliche Auswirkungen verhindern. Unser Ziel muss es also sein, so schnell wie möglich zirkulär und bestmöglich regional zu handeln.
zentralplus: Was gilt es bei derartiger Entwicklungszusammenarbeit Ihrer Meinung nach sonst noch zu beachten?
Hermann: Es ist wichtig, vor Augen zu halten, dass wir in unserem wirtschaftlichen Drang, möglichst bald die Kriegsgebiete mit unseren eigenen Produkten zu überschwemmen, ihnen einen Bärendienst erweisen. Selbst wenn humanitär gemeint, verursachen wir mit dieser Art Wiederaufbau eine Abhängigkeit. Wenn Wirtschaftshilfe, dann insbesondere mit Wissenstransfer und Aufbau von Produktionen vor Ort. In unserem Fall sollten wir helfen, die ehemalige Fensterfabrikation vor Ort wieder aufzubauen – nicht neue Fenster liefern.
zentralplus: Sie engagieren sich auch in Luzern für Jugendliche, die es schwer haben. Sehen Sie es als Pflicht, als eher privilegierter Mensch der Gesellschaft etwas zurückzugeben?
Hermann: Nein, ich denke es liegt mehrheitlich immer noch in unserem Selbstverständnis als Menschen, anderen und anderem Aufmerksamkeit zu schenken und sich nach Möglichkeit zu engagieren. Uns selber geht es erst wirklich gut, wenn auch um uns herum Zufriedenheit herrscht.
Einst Moderator und Redaktor beim Radio 3FACH und bei Jam On Radio, schreibt Joel Dittli seit 2023 bei zentralplus. Um auch den künftigen Herausforderungen im Medienalltag gewachsen zu sein, absolviert er die «Diplomausbildung Journalismus» am MAZ Luzern. Als Reggae-Musiker und FCL-Fan ist er am Wochenende oft in Kulturlokalen oder Fussballstadien anzutreffen.