Ein Velokurier-Selbstversuch in Zug

«Wo bleibt mein verdammtes Endorphin?»

Der Velokurier Luzern-Zug ist auch ohne Elektromotor schnell unterwegs.

 

(Bild: zVg)

Sind sie nicht anmutig, diese Velokuriere! Wie sie zwischen Autos mäandern und in Windeseile Aufträge erfüllen, dabei fit werden und an der frischen Luft sind? Das kann nur gut sein. Und darum wollen wir’s auch probieren. Nur vergisst die Redaktorin dabei eine wichtige Tatsache.

Sie sind irritierend fokussiert unterwegs. Haben ein Ziel vor Augen, wissen, wo sie hin wollen, sind eine ganz eingeschworene Gruppe Mensch. Mit schnellen Velos und unbeirrbarem Blick sind sie unterwegs. In Zugs und Luzerns Strassen sieht man sie in ihren orange-schwarzen Trikots vorbeiflitzen. Vor lauter Würde sieht nicht mal der Velohelm blöd aus.

Ach, einmal Velokurier sein, denk ich mir. Den Tag draussen verbringen an der frischen Luft, sich stramme Waden anradeln, viel Neid einheimsen bei Sonnenschein, viel Mitleid wenn’s mal regnet. Stets auf wichtiger Mission. Was sie da wohl in ihren Rucksäcken tragen? Scheidungsunterlagen hoher Politiker? Patente für ein neues Krebsmedikament? Eine Niere, die zu ihrem neuen Inhaber will?

Ich beschliesse kurzerhand, es selbst zu versuchen. Denn oft schon habe ich Sätze gehört wie: «Einmal Kurier, immer Kurier» und «wenn man einmal angefixt ist, dann lässt’s einen nicht mehr los». Wird das mein neuer Plan B? Voller Euphorie melde ich mich beim Velokurier und lasse mich für eine Schicht einteilen. Frühmorgens oder lieber am Nachmittag? Zweiteres, natürlich.

Am Tag X steige ich also das enge, finstere Treppenhaus hinauf, das nach kaltem Rauch stinkt. Es befindet sich an der Neugasse in Zug, gleich über der «Why Not»-Bar.

Ode an die Thermoleggins

Das Zuger Kurier-Büro ist winzig. Das scheint jedoch zu reichen. Eine Kurierin begrüsst mich und zieht gleich wieder von dannen. Ab zum nächsten Auftrag. Für die Schicht erhalte ich eine eigene, brandneue, orange-schwarze Kleidergarnitur. Wenig später werde ich froh sein um die Thermohosen mit Po-Polster, und die beiden dünnen, aber erstaunlich warmen Jacken.

Aufgeräumt unaufgeräumt ist es hier. Und trotz hängender Socken riecht es angenehm im Zuger Kurier-Büro.

Aufgeräumt unaufgeräumt ist es hier. Und trotz hängender Socken riecht es angenehm im Zuger Kurier-Büro.

(Bild: wia)

Erika Bütler oder «Eri», meine Mentorin für den Tag, kommt gut gelaunt im Büro an. Sie ist bereits umgezogen und knabbert an ihren Pizzaresten, während sie mir erzählt, wie der Laden läuft. Währenddessen zwänge ich mich in die Thermoleggins. So richtig streng kann’s ja gar nicht werden, so gemütlich wie’s die Eri nimmt. Und ich vergesse dabei, dass sie das, neben ihrem Job als Grafikerin, seit sieben Jahren mehrmals wöchentlich macht.

Der Helm sitzt, ebenso der riesige Rucksack, den ich während der Schicht tragen werde. Ein schnelles Velo mit dünnen Pneus darf ich ausleihen. Der erste Auftrag schneit herein. Im Zug von Luzern, der um 13 Uhr hält, liegt ein Päcklein für eine Baarer Firma bereit. Wir schwingen uns aufs Velo, los geht’s!

Toll, dieses Frischluft-Gefühl

Eri legt ein hohes Tempo vor, macht ja nichts, mit meinen dünnen Pneus. Der Himmel ist grau, die Luft kalt, ich freu mich, draussen zu sein. Noch. Auf dem Perron warten wir, bis der Zug einfährt. Es empfielt sich, etwas früher parat zu sein, denn in Zug halten die Züge jeweils nur eine Minute. In dieser Zeit muss der Kurier mittels Schlüssel den Postwagen öffnen, in den Zug einsteigen, das Paket herausholen, aussteigen und die Tür wieder schliessen. Nun denn. Wir schaffen es, eilen zu unseren Velos und rauschen gen Baar.

Eri und ich warten auf den Interregio-Zug von Zürich, in dem ein Brief für einen Kunden liegt.

Eri und ich warten auf den Interregio-Zug von Zürich, in dem ein Brief für einen Kunden liegt.

(Bild: wia)

Eri fährt in einem Affenzahn, ich versuche, mitzuhalten. Das erste Ziel: Eine Firma im Baarer Industriequartier. Wir liefern ab, die Empfangsdame unterschreibt, schaut schon etwas mitleidig, als sie uns fragt, ob’s noch immer so windig sei. Es geht also schon los mit dem Mitleid. Fantastisch!

Zurück nach Zug, nachdem Eri der Zentrale per Handy mitgeteilt hat, dass der Auftrag abgegeben wurde. Eine Stimme am Telefon erklärt, dass es da noch einen Auftrag gebe in Rotkreuz. Wo denn das Paket hin soll? «Hasebüel», sagt die Stimme aus dem Telefon, und Eri lacht lauthals. Hasenbühlweg, das heisst nichts anderes als ziemlich steil den Zugerberg rauf bis zur Bus-Endhaltestation Gimenen. Ich schlucke leer und verdränge den Gedanken an die Fahrt, denn zuerst haben wir noch was anderes vor.

«Wenn ich keine Lust darauf hätte, Aufträge zu fahren, wäre ich wohl im falschen Job.»

Erika Bütler, Velokurierin

Zielsicher lenkt Eri ihr Rennvelo wieder in Richtung Zug. Unsere Fracht: Ein Karton voller Cupcakes aus der Confiserie Speck, die – heil – vom Bahnhofplatz zu einer Firma im Siemensareal transportiert werden müssen. Auch dort fragt man uns nach dem Wetter.

Zug–Rotkreuz–Zug–Gimenen

Wir machen uns auf den Weg in Richtung Ennetsee. Der Himmel ist noch immer finster, hält aber dicht. Ob es denn vorkomme, dass Eri die Strecke Rotkreuz–Zug mehrmals fahren müsse pro Schicht, frage ich ausser Puste. «Ja, durchaus», sagt sie ungerührt. Ob sie das denn nie anöde? «Nun, es kommt sicher vor, dass ich eine Strecke nach dem dritten Mal während der gleichen Schicht nicht mehr ganz so spannend finde. Aber wenn ich keine Lust darauf hätte, Aufträge zu fahren, wäre ich wohl im falschen Job.» Da hat sie recht.

Ich indes blicke von Rotkreuz aus immer wieder bang in Richtung Zugerberg. Kurz vor Rotkreuz, wir sind noch nicht einmal eine Stunde unterwegs, beschleicht mich zum ersten Mal das Gefühl, schon ziemlich kaputt zu sein. Das Tempo ist schlichtweg zu hoch für meinen Wohlfühlmodus. Und auch mein Knie beschliesst, dass nun genug sei. Ich ignoriere sowohl Müdigkeit als auch Knie.

Die Destination, die wir in Rotkreuz anpeilen, ist auch für Eri eine neue. Nach wenigen Minuten der Suche landen wir bei einer Couture-Schneiderin, bei der wir ein Paket abholen. Was es beinhaltet, bleibt uns unbekannt. Sie ist sichtlich beeindruckt von unserem sportlichen Einsatz, ich fühle mich gebauchpinselt.

«Eri, ist gut, wenn ich mein eigenes Tempo fahre?»

Ich, ausser Atem

Und es geht im Affenzahn zurück nach Zug. Dem See entlang, wehmütig am Büro vorbei in Richtung Friedbach, von dort die Meisenbergstrasse hoch. – Keuch. – «Eri, ist gut, wenn ich mein eigenes Tempo fahre?», japse ich, sie findet, «ja sicher» und je steiler die Strasse, desto grösser wird auch der Abstand zwischen uns. Bis Eri nur noch ganz klein ist.

Schwitzend, fluchend und im Zickzack den Berg rauf

Mein Ego ist gekränkt, während ich schwitzend, fluchend und im Zickzack den Hang hoch krieche. Spaziergänger grüssen mich, ich mache gute Miene zum bösen Spiel. Das Velo stossen? Im Kurier-Tenue ausgeschlossen. Ich würde vor Schmach im Boden versinken. Also weiterstrampeln. Als ich zuoberst am Hasenbühl ankomme, ist Eri schon längst im Haus verschwunden. Ich kann eine Minute Luft schnappen, einen Schluck Wasser trinken, die Aussicht nach Rotkreuz geniessen, und schon kommt Eri gut gelaunt und leichten Fusses angetrabt.

Endlich, endlich bin auch ich oben angekommen. Man beachte die Aussicht am linken Rand.

Endlich, endlich bin auch ich oben angekommen. Man beachte die Aussicht am linken Rand.

(Bild: wia)

Es geht weiter. Zwei Aufträge in Baar locken, sagt unsere Disponentin, die uns von Luzern aus erklärt, was wo zu erledigen ist.  Wir transportieren Blutproben aus einer Arztpraxis ins nahegelegene Kantonsspital und hängen gleich noch einen zweiten Auftrag an.

Danach lockt eine Pause, denn erst um 16 Uhr müssen wir den nächsten Zug abpassen. Wir fahren also zurück ins Büro, ich setze mich – etwas zu euphorisch – aufs Sofa. Und Eris Telefon klingelt. Helm auf, Handschuhe an, los geht’s zum Bahnhof, wo wir erneut einen Zug abpassen.

Mein eigener Auftrag

Und weil plötzlich erneut ein Auftrag hereinschneit, macht meine, zugegeben, bisher etwas sinnlose Präsenz plötzlich doch noch Sinn. Ich kriege meinen eigenen Auftrag. Darf ganz allein nach Baar brettern, bei einem Anwaltsbüro ein Dokument abholen und dieses im Handelsregisteramt abgeben. Mit Stolz erfüllt mache ich mich also auf den Weg. Etwas gemütlicher als bis anhin, man gönnt sich ja sonst nichts. Alles klappt reibungslos, keine der Empfangsdamen ahnt, dass ich gar nicht zum Clan dazugehöre.

Eri treffe ich in Zug wieder. Wir holen bei einem Ölkonzern eine Lieferung ab – warum die wohl auf Velokuriere setzen? – bevor wir uns, zum vierten Mal an diesem Tag, auf den Weg nach Baar machen. Wir nehmen die Abendtour in Angriff. Mittlerweile ist es dunkel geworden, der Verkehr verdichtet sich, wir brausen auf dem Velostreifen an den Autos vorbei. Es hat zu regnen begonnen. Und es ist mir schnuppe. Denn ich bin hundemüde, das Knie ist beleidigt. Egal, ich folge meiner Gefährtin. Versuche, den Abstand zwischen Eri und mir nicht noch grösser werden zu lassen. Vergebens. Stau im Baarer Dorfzentrum, zum Glück.

Die latente Angst vor einem Anruf

Eri muss anhalten, und ich hole auf. Ha! Wir sind unter Zeitdruck und müssen darum Gas geben, erklärt sie. Und nun klappern wir sternförmig unsere Pflichtstationen ab. Arztpraxen, Büros, holen Briefe und Blut, liefern ab. Und immer dieselben Ausrufe der Sekretärinnen: «Bei diesem Wetter?! Ui streng, wow.» Nur ist mein Ego mittlerweile so ernüchtert wie mein Knie, will am liebsten Forfait geben. Und das viele Mitleid nervt langsam.

Kurz vor 18 Uhr sind wir zurück in Zug, wie ich das geschafft habe, ist mir ein Rätsel.

Zurück im Büro schäle ich mich aus meiner feuchten, erstaunlich geruchsneutralen Kurier-Kleidung. Bin zwar happy, angekommen zu sein, fürchte mich aber ein wenig davor, dass das Telefon noch einmal läuten könnte. Vielleicht möchte doch noch jemand eine Kirschtorte in die Schönegg geliefert haben. Es bleibt jedoch ruhig. Eri legt die Beine hoch, sie erledigt noch die Abrechnung des Tages und ist noch genauso gut gelaunt wie vor sechs Stunden. «Doch, ich fand’s jetzt auch eine eher strenge Schicht», sagt sie munter.

Nach der Schicht macht Eri noch die Abrechnung.

Nach der Schicht macht Eri noch die Abrechnung.

(Bild: wia)

Wenn wenigstens ein Cappuccino winken würde …

Ich mache einen Abgang. Blicke aufs Display meines Telefons. Das GPS hat mitgezählt, verrät mir, dass wir 66 Kilometer zurückgelegt haben. Warum ich wohl nicht euphorisch bin? Wo bleibt mein verdammtes Endorphin? Nichts. Mein Knie flüstert mir ein murriges «ganz selber Schuld» ins Ohr.

Die Strecke, die Eri und ich zurückgelegt haben während der 5 Stunden und 20 Minuten. 65,8 Kilometer waren es.

Die Strecke, die Eri und ich zurückgelegt haben während der 5 Stunden und 20 Minuten. 65,8 Kilometer waren es.

(Bild: MapOut Screenshot)

Tatsächlich merke ich, dass man für diesen Job weit taffer sein muss, als ich es bin. Velofahren: ist gut und recht. Wenn danach ein Cappuccino winkt. Gas geben: tiptop, wenn ich nachher zur Belohnung den Zug erwische. Und mir wird auf einen Schlag bewusst, warum die Euphorie ausbleibt. Als Kurier macht man genau das, was ich im Privaten liebend gern auf die lange Bank schiebe. Die Abstimmungsunterlagen zur Gemeinde bringen? Das kann bis kurz vor der Abstimmung warten. Auf der Post ein Paket abholen? Es gibt nichts Schlimmeres. Ich hasse diese Art Botengänge. Ob es sich lohnen würde, dafür einen Velokurier zu engagieren?

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