Vom reichsten Luzerner und seinen Schiffen

Sie belogen die Ermittler – er wurde Multimilliardär

Diese Geschichte spielt auf dem Schiff Viking Eistla. (Bild: Rolf Heinrich, 2014, in Köln, Wikipedia)

Kreuzfahrten auf Rhein und Donau boomen – dank Viking Cruises und vieler anderer Firmen in Basel. Doch die Industrie hat Schattenseiten. Es geht um Druck, Lügen, Versagen – und wie der reichste Luzerner profitiert. 

Es ist der 22. April 2024 und Mitarbeiter des Kantons Basel suchen nach Opfern von Ausbeutung und Menschenhandel. Ihr Ziel ist ein Luxuskreuzfahrtschiff in einem Hafen am Rhein. Der Name: Viking Eistla – Eigentum der Basler Reederei Viking Cruises.

An Bord kontrollieren die Beamten 63 Angestellte. Die meisten stammen aus China, einige aus Malaysia und Osteuropa. Sie sollen erzählen, wie viel sie arbeiten, ob sie Pausen machen und was sie verdienen.

Die Malaysierin Amira* ist eine von ihnen. Drei Tage später schreibt sie einer Freundin, die auf einem anderen Schiff der Firma arbeitet: «Die Polizei, das Wirtschaftsministerium und die Einwanderungsbehörde haben vor ein paar Tagen nach unseren Arbeitszeiten gefragt.»

Dann: «Der Hotelmanager wollte, dass wir lügen. Wenn nicht, müssen wir packen und gehen. Also … haben viele Leute gelogen. Kannst du dir vorstellen, dass mehr als 50 Leute gleichzeitig lügen?»

Dieser Chat stammt vom 25. April 2024. (Bild: zvg)

Und auf Chinesisch: «Das ist die grösste Lügengeschichte, die ich in meinem Leben je gehört habe.» Ihre Freundin auf einem anderen Viking-Schiff antwortet lachend: «Wenn du nicht mehr arbeiten willst, kannst du ihnen ja die Wahrheit sagen.»

Eine Woche nach diesen Nachrichten geht die Holding von Viking Cruises in New York an die Börse. Dort legt sie einen der besten Starts des Jahres 2024 hin. Seither zählt Torstein Hagen, CEO und Gründer von Viking, zu den 250 reichsten Menschen der Welt.

Was viele nicht wissen: Der Norweger lebt in einer Villa in der Stadt Luzern – und ist mit zehn Milliarden Dollar Vermögen seit diesem Jahr die wohl reichste Person des Kantons.

In der Stadt sieht man den 81-Jährigen auf Wirtschaftsempfängen. Im Tourismussektor gilt Hagen als Selfmademan, der durch kluge Entscheide Viking zum grössten Anbieter von Flusskreuzfahrten weltweit gemacht hat. Er sei «stolz» auf sein Lebenswerk, sagen Menschen in Luzern, die ihn kennen.

Viking-Mitarbeiter erzählen, was auf seinen Schiffen geschieht

Über 10'000 Angestellte arbeiten weltweit auf den Schiffen von Viking. Hotelpersonal wie Kellnerinnen, Köche, Reinigungskräfte, Gästemanager, aber auch Nautiker wie Matrosen und Steuerfrauen. Weil die Jobs des Hotelpersonals nicht der Sicherheit dienen, sind ihre Auflagen schwächer. Wie es ihnen geht, war lange unklar.

Das ändert sich nun. Für diese Recherche haben Amira und ein halbes Dutzend andere Mitarbeiter von Viking ausgepackt. Mit Arbeitsverträgen, Stundenzetteln, Lohnauszügen, Nachrichten, E-Mails und in Interviews geben die asiatischen Saisonarbeiter einen Einblick in den Hotelbereich der Luxusschiffe.

Ihre Geschichte handelt von Überstunden, Druck, Lügen und dem blinden Auge der Justiz. Zum Schutz wurden ihre Namen anonymisiert. Denn nicht nur Viking könnte sich strafbar gemacht haben – das Unternehmen streitet das ab. Sondern auch die Angestellten selbst.

Wie konnte es soweit kommen? Dafür lohnt sich ein Blick zu den Anfängen.

Viking Cruises: Exklusive Reise, ohne Kinder, auf den Flüssen Europas

Das Unternehmen Viking Cruises wurde 1997 vom damals 54-Jährigen Torstein Hagen gegründet. Zuvor war der norwegische Physiker in Harvard tätig, hatte für die Beratungsfirma McKinsey & Company gearbeitet und sich in der Kreuzfahrtindustrie einen Namen gemacht.

Seine ersten vier Schiffe kaufte der Unternehmer zwei russischen Oligarchen ab und liess sie von Moskau nach St. Petersburg fahren. Schnell kamen weitere Schiffe dazu. Was Hagen US-Amerikanern anbot, war eine exklusive Alternative zum gängigen Reisebus-Tourismus in Europa. Das stiess auf Anklang – und bald explodierte die Nachfrage.

Auf seinen Schiffen gibt es keine Casinos, Kinder, Schirmchengetränke und Wasserrutschen. Dafür Vorträge, Opern- und Kochvorführungen, gediegene Ledercouches und Kunstwerke. Sein Publikum ist nach eigenen Aussagen wohlhabend, gebildet und über 55 Jahre alt. Acht Tage entlang des Rhein von Amsterdam nach Basel kosten etwa 2000 US-Dollar.

Hier führt Hagens Tochter Karine durch ein Viking-Schiff. Sie ist Vize-Präsidentin des Unternehmens.

Seit einem Jahrzehnt bietet Viking auch Fahrten auf den Weltmeeren an. Für 75’000 Dollar kann man vom Nord- zum Südpol reisen. 89 Schiffe für Flüsse und 13 Ozeanschiffe besitzt die Reederei insgesamt. Sie fahren auf dem Nil, Mississippi und Mekong. Das Kerngeschäft aber sind Fahrten auf Flüssen in Europa, wie der Donau und dem Rhein.

In der Schweiz am Rheinufer läuft auch das Geschäftliche. Die Viking River Cruises AG und andere Tochterfirmen des Konzerns haben ihren Sitz in Basel. Ausserdem sind dutzende Schiffe der Firma dort registriert.

Vier Viking-Schiffe in Europa sind nur für Chinesen

Vikings Geschichte ist eine Geschichte des Wachstums und der neuen Märkte. Hagen fiel zum Beispiel auf, dass die meisten Chinesen Europa im Bus bereisen, ähnlich wie 20 Jahre zuvor die Amerikaner. Also «nahm er, was Viking bereits tat, und machte es Chinesisch», erklärte er seinem Ex-Arbeitgeber McKinsey & Company in einem Interview vor fünf Jahren. Er baute eine neue Flotte auf.

Die Idee: Luxusflusskreuzfahrten mit chinesischem Essen und Personal für reiche Chinesen. 2016 fuhr das erste Schiff dieser Art in Europa, heute gibt es vier. Die Viking Eistla ist eines von ihnen. Rund 50 Personen in der Hotellerie und zehn Nautiker arbeiten darauf für etwa 190 Gäste. Die Angestellten in der Hotellerie stammen aus China und Malaysia. Für sie klang das Jobangebot von Viking verlockend.

«Als ich die Vorstellungsgespräche hatte, wurde mir viel Positives über Viking erzählt», sagt die Chinesin Sina*. Die Mitte-20-Jährige erfuhr von dem Kellnerjob über eine Agentur, die für Viking in Asien Arbeitskräfte sucht. «Du kannst Europa bereisen und verdienst dabei Geld», erinnert sich die Malaysierin Amira. «Ausserdem sagte man mir, unsere Verträge würden unter Schweizer Arbeitsrecht fallen.» Auch sie fand den Job über eine Agentur, die vor allem auf Facebook Aufrufe wie diesen schaltet.

Nach mehreren Gesprächen erhielten die Frauen die Saisonverträge für April bis Dezember. Darin festgelegt ist eine Regelarbeitszeit von 8 Stunden pro Tag an 6 Tagen die Woche. Überstunden sind bis 12 Stunden pro Tag möglich, auch eine Reduktion auf 2 freie Tage pro Monat ist erlaubt. Dafür verdient eine Kellnerin monatlich 2500 Euro brutto, ein Koch 3000.

Was für Mitteleuropäer nach viel Arbeit für wenig Geld klingt, war für Sina und Amira ein gutes Angebot. In ihren Heimatländern liegen die Einkommen deutlich tiefer. Doch als die Saison im April begann, änderte sich ihre Meinung.

Massig Überstunden, Rumgeschreie und überaschende Abzüge vom Lohn

«Als ich auf dem Schiff ankam, habe ich herausgefunden, dass die guten Sachen, die mir erzählt wurden, nicht stimmen», sagt Sina heute. «Es gibt viel zu viel Arbeit und zu viel Druck. Ich fühlte mich so depressiv.»

Ihr Kollege Han* sieht es ähnlich: «In der Küche schrien uns die Vorgesetzten jeden Tag an. Ich mag es nicht, wenn man mich anschreit. Ich habe in vielen Küchen gearbeitet, aber so etwas ist mir noch nie passiert. Wir sind keine Esel, wir sind keine Hunde, wir sind menschliche Wesen.»

«Als ich dort arbeitete, fühlte ich mich wie ein Sklave.»

Sina

Der Kellner Bo* erzählt: «In den ersten Wochen der Saison haben wir 15 bis 17 Stunden am Tag gearbeitet.» Andere Mitarbeiter berichten von 14 Stunden Arbeit am Tag, teils auch in der Nacht. Aufgezeichnet wurden die Überstunden nicht. Freie Tage habe es in den ersten drei Wochen garnicht gegeben.

Sina findet dafür drastische Worte: «Als ich dort arbeitete, fühlte ich mich wie ein afrikanischer Sklave im 15. Jahrhundert. Doch wir konnten nichts sagen, weil man uns andeutete, dass wir sonst keinen Vertrag für die nächste Saison erhalten.»

Ein Schock für viele war auch der Abzug von 400 Euro für eine Zweierkabine und Verpflegung. «Als ein Mitarbeiter von Viking nach Malaysia kam und uns interviewte, sagte er nichts über diese Abzüge», berichtet der Kellner Yong*. Ihm blieb nach allen Abzügen ein Nettolohn von 1980 Euro – so wie den anderen in der untersten Gehaltsstufe auch.

Jurist hält Abzug für Kost und Logis für inakzeptabel

Sind solche Arbeitszeiten und Löhne legal? Michael Meier, Oberassistent für Arbeitsrecht an der Universität Luzern, erklärt, dass die relevante EU-Richtlinie 12-Stunden-Schichten erlaube. Mehr aber nicht. Ausserdem müssten die anfallenden Überstunden kompensiert werden. Einen Mindestlohn gebe es darin allerdings nicht.

15-Stunden-Schichten sind somit illegal. Ausserdem müssten die Überstunden dokumentiert werden.

Scharf kritisiert der Jurist auch den Abzug für Kost und Logis. In der Schweiz müsse der Arbeitgeber Unterkunft und Essen zahlen, wenn der Angestellte nicht am gewöhnlichen Ort arbeite. «Das Schiff ist ein aussergewöhnlicher Arbeitsort per se», findet Meier. «Deswegen muss das Viking zahlen.»

Im Video erklärt der Jurist die Rechtslage.

Ausserdem kritisiert der Rechtsexperte eine Klausel in den Arbeitsverträgen, nach der ein Teil des Trinkgelds im Bruttolohn der Angestellten «enthalten» sei. «Das ist intransparent gegenüber dem Gast», findet Meier. Dieser gebe das Trinkgeld schliesslich für das Personal – und nicht Viking.

Die Firma schreibt auf Anfrage, ihre Richtlinien bezüglich Arbeitszeit und Freitage seien «vollumfänglich» im Einklang mit dem EU-Recht. Schweizer Ämter würden ihre Verträge «akribisch» überprüfen. Zur Kritik bezüglich Kost, Logis und Trinkgeld äussert sich Viking nicht – und ebensowenig zu den Vorwürfen der Mitarbeiterinnen.

Auch die Gäste auf den Luxusschiffen hören den Frust der Angestellten nicht. «Viele haben uns gesagt: Ihr arbeitet wirklich hart. Aber ich glaube nicht, dass sie wussten, wie viele Stunden wir arbeiten», erinnert sich Bo. Er hat dieses Jahr zum ersten Mal auf einem Schiff von Viking gearbeitet – so wie viele seiner Kollegen auch.

Dieses Jahr wuchs das Vermögen des Gründers wie nie zuvor

2024 war für viele Mitarbeiter nicht nur das erste Jahr bei Viking – sondern für das Unternehmen auch das erfolgreichste in seiner Geschichte. Als die Viking Holding – eingetragen auf Bermuda – am 1. Mai an die Börse ging, vollführte der Konzern einen Glanzstart. Der Börsenwert liegt aktuell bei 20 Milliarden Dollar.

Das spürt der Gründer, Verwaltungsratspräsident und CEO Torstein Hagen auch auf dem Konto. Der Börsenstart hat ihn auf der Reichsten-Liste von «Forbes» rund 1800 Plätze nach vorne katapultiert. Das Magazin schätzt sein Vermögen per Ende Jahr auf zehn Milliarden Dollar – das ist Platz 249 unter den Reichsten der Welt.

Dennoch fehlt der Multimilliardär in der bekannten «Bilanz»-Liste der 300 Reichsten in der Schweiz. Warum ist das so? Aus der Redaktion des Wirtschaftsblattes ist zu erfahren, Hagen sei «erst seit Kurzem auf dem Radar». In der nächsten Ausgabe werde er «höchstwahrscheinlich» aufgenommen.

In Luzern steht die Villa des Multimilliardärs. Mit dem Pilatus im Rücken begrüsste Hagen dort bereits die Viking-Gäste per Videobotschaft. Zwei mächtige Golden Retriever liegen hinter ihm in der Sonne, seine Büsche wirken opulent. Auch Tochter Karine, das Aushängeschild des Konzerns, soll in der Nähe leben.

So begrüsste der Gründer seine Gäste nach der Aufhebung der Reiseeinschränkungen wegen der Pandemie. (Bild: Viking.tv)

Doch Luzern ist mehr als seine Wahlheimat. Die Stadt ist auch ein wichtiger Stopp für Reisegruppen von Viking. Wer für Amerikaner und Chinesen Reisen anbietet, darf die Schweizer Touristenhauptstadt nicht aussparen.

Luxushotels in Luzern machen mit Viking ein Riesengeschäft

Oktober 2024: Ein Car mit dem Logo von Viking hält vor einem Viersternehotel in der Neustadt von Luzern. Ein Dutzend Amerikaner steigt aus, eine Reiseführerin lenkt sie vor den Hoteleingang. Gleiches geschieht regelmässig am Schweizerhof, dem Montana-Hotel oder an der Talstation der Titlis-Bahnen in Engelberg.

Die Gruppe kommt aus Basel, wo sie nach ihrer Flusskreuzfahrt angekommen ist. Nun stehen zwei Übernachtungen in Luzern auf dem Programm – für viele ist das der «Höhepunkt» ihrer Reise. Danach wird die Gruppe zum Flughafen fahren. Viking bietet die Stadt Luzern als Extra an, vor oder nach einer Flusskreuzfahrt auf dem Rhein.

Gruppen wie diese sorgen in der Tourismusindustrie für Freude. Der Luzerner Hotelier Alessandro Pedrazzetti vom Hotel Continental erzählt, die Zusammenarbeit mit Viking Cruises verlaufe sehr professionell und sei ein gutes Geschäft. «Das sind Luxusreisen. Die bringen sehr viele gut zahlende Gäste nach Luzern.»

Marcel Perren, Tourismusdirektor von Luzern, freut sich ebenso über das Geschäft: «Viking ist seit vielen Jahren sehr aktiv in Luzern.» Für Tagesgäste aus China organisiere Luzern Tourismus regelmässig Stadtführungen auf Chinesisch. Weiter erzählt er, dass die Bedeutung von Viking in der Region seit Jahren zunehme.

Cars von Viking parkieren während der Saison vor den besten Hotels der Stadt. (Bild: kok)

Der Grund: Die Branche für Kreuzfahrten auf europäischen Flüssen boomt. Laut Recherchen der «bz» waren 2023 etwa 240 Flusskreuzfahrtschiffe in Basel registriert. 2019 waren es noch hundert weniger. Die Firmen wählen die Schweiz, weil die Schiffsanmeldung vergleichsweise leicht ist und die Steuern tief. Die Angestellten kommen allerdings fast ausschliesslich aus dem günstigeren Ausland.

Asiatische Saisonarbeiter sind besonders gefährdet

Angestellte auf Schweizer Flusskreuzfahrtschiffen seien seit langer Zeit in Osteuropa rekrutiert worden, erzählt Piet Dörflinger. Er arbeitet für Nautilus International, eine Gewerkschaft für Seefahrer und Binnenschiffer in Basel. Mitteleuropäer könnten mit den Löhnen schlicht nicht existenzsichernd leben. Neu kämen viele Angestellte aber auch aus Südostasien.

Die Gefahr von Ausbeutung sei dann grösser, erklärt Dörflinger. Nichteuropäer hätten weniger Sprachkenntnisse, kein soziales Netz in Europa und seien mit der Rechtslage nicht vertraut. Ausserdem würden viele Gewerkschafter meiden. «Ich habe es öfter versucht, bin zu den Schiffen gegangen und habe Leute am Land angesprochen. Aber sie haben sich sehr schnell entfernt.»

Im Video erzählt Dörflinger, warum Saisonarbeitsverträge ein Unding sind.

Viking zahle zwar im Vergleich zu anderen Firmen eher mehr – einen Gesamtarbeitsvertrag (GAV) mit Mindestnettolohn und Pflicht zur Zeiterfassung hat das Unternehmen aber nicht unterzeichnet.

Heute laufe es vielerorts so: «Wenn eine Arbeitsstundendokumentation bei einer Inspektion vorgewiesen wird, heisst das nicht, dass sie der Wirklichkeit entspricht.» Denn Firmen würden Zettel ändern – oder Mitarbeiter aus Angst vor Kündigung lügen. Bemerkenswert: Genau das ist im April 2024 auf der Viking Eistla passiert.

Arbeitsinspektoren befragen Mitarbeiter auf Viking Eistla

Ermittler des Kantons Basel-Stadt haben in der letzten Aprilwoche nicht nur auf der Viking Eistla, sondern auch in 30 anderen Betrieben nach Opfern von Menschenhandel und Arbeitsausbeutung gesucht. Zu der gross angelegten Aktion hatten nationale und internationale Polizeibehörden aufgerufen.

Basierend auf dem Öffentlichkeitsgesetz wurden für diese Recherche die Untersuchungsergebnisse verlangt. Das kantonale Amt für Wirtschaft und Arbeit (Awa) Basel-Stadt hat die Resultate schriftlich mitgeteilt. Sie zeigen: Der Entscheid zur Kontrolle der Viking Eistla erfolgte «risikobasiert». Ob es einen konkreten Verdacht gab oder die Branche allgemein verdächtig ist, bleibt offen.

An Bord wurden orts-, berufs- und branchenübliche Lohn- und Arbeitsbedingungen festgestellt. Das Staatssekretariat für Migration (SEM) verlangt auf Flusskreuzfahrtschiffen nämlich gewisse Mindeststandards, damit eine Person von ausserhalb der EU eine Arbeitsbewilligung erhält: mindestens 2560 Euro Bruttolohn, maximal 12-Stunden-Schichten, Überstundenabrechnung, korrekte Quellensteuer- und Sozialabgaben. Und kontrolliert das auch.

Auf dem Papier hält sich Viking an die Auflagen. Sina, Amira, Bo und die anderen Viking-Mitarbeiter erzählen aber, die Ermittler beim Thema Überstunden belogen zu haben.

Mitarbeiter von Viking Cruises sollten Beamte anlügen

«Sie kamen auf das Boot und fragten uns, wie viele Stunden wir am Tag arbeiten und wie es uns dabei geht», erzählt Sina. «Unser Chef sagte, wir sollen lügen. Wir sollten sagen, dass wir 9 oder 10 Stunden arbeiten. Und wir sollten sagen, dass wir gerne hier arbeiten, sonst würde uns die Firma dorthin zurückschicken, wo wir herkommen.»

Drei Angestellte erzählen auf Englisch, was ihnen passiert ist. Ihre Stimmen wurden unkenntlich gemacht.

Bo bestätigt das: «Damals sagte uns eine Managerin, wenn diese Behörde fragt, wie viele Stunden wir arbeiten, sollen wir einfach sagen, 10 Stunden oder 8 Stunden. Sie wollte, dass wir lügen.»

Und Amira erzählt: «Viele meiner Kollegen, die kein Englisch sprachen, logen die Beamten an. Sie hatten zu grosse Angst, heimgeschickt zu werden.» Geschockt von der Situation entschied sich die Malaysierin, eine Ermittlerin des Kantons ins Vertrauen zu ziehen.

«Wir gingen in eine Ecke, und ich erzählte einer Mitarbeiterin, dass einige meiner Kollegen in der Küche 16 Stunden am Tag arbeiten. Ich sagte der Beamtin auch, dass ich in den ersten drei Wochen keinen einzigen freien Tag hatte», berichtet Amira.

«Auf den Schiffen fühlt es sich an, als würde man in China arbeiten.»

Amira

Die Beamtin soll ihr gesagt haben: «Wir können nur eine Verwarnung ausstellen. Viel mehr können wir nicht tun.» Einige Tage später wandte sich Amira auch per E-Mail an eine Inspektorin des Kantons Basel-Stadt. Beim Departement für Wirtschaft, Soziales und Umwelt lässt sich herausfinden, dass das Departement die Inspektorin nach dem Erhalt von Amiras Nachricht beraten und an die Schlichtungsstelle des Zivilgerichts verwiesen hat.

Die Reederei weist die Vorwürfe schriftlich zurück: «Viking steht fest zu seiner Verpflichtung, die höchsten Standards bezüglich Integrität zu erfüllen und alle Gesetze und regulatorischen Vorgaben einzuhalten.»

Jurist sagt, Anstiftung zur Lüge sei strafbar

Dass bei der Schlichtungsstelle des Zivilgerichts oder sonst irgendwo Behörden aktiv wurden, weil auf der Viking Eistla über die Arbeitszeiten gelogen wurde, ist unwahrscheinlich.

Das kantonale Amt für Wirtschaft und Arbeit hat keine Strafanzeige eingereicht – obwohl mindestens eine Inspektorin von der Lüge gewusst haben muss. Auch das SEM habe «keine Kenntnis» von Verfehlungen auf dem Schiff, schreibt ein Sprecher. Die zuständige Staatsanwaltschaft in Basel teilt mit, in «identifizierbaren Kontexten» nichts über Strafanzeigen sagen zu dürfen.

Damit kommt die Firma vorerst gut weg. Denn sollten Manager bei Viking nachweislich Mitarbeiter zum Lügen gegenüber den Behörden angestiftet haben, um sich Arbeitsbewilligungen zu erschleichen, hätten sich die Firma und auch die Mitarbeiter strafbar gemacht, sagt der Arbeitsrechtler Michael Meier von der Universität Luzern.

Im Video erklärt der Jurist die Rechtslage.

«Es ist davon auszugehen, dass das SEM solche Anzeigen macht, wenn es belastbare Indizien hat», sagt Meier. Allein die Vermutung sollte dafür ausreichen. Warum das in diesem Fall nicht geschehen ist, bleibt eine offene Frage.

Amira, Sina, Bo, Han und die anderen ehemaligen Mitarbeiter werden nach dem Ablauf ihres Saisonvertrags Viking den Rücken kehren. Nicht nur die Arbeitsbedingungen haben die Mitarbeiter geschockt. Sie berichten auch von Grenzüberschreitungen durch Vorgesetzte und anderen unangenehmen Situationen.

Das meint der Luzerner Multimilliardär Torstein Hagen dazu

Amira sagt: «Ich möchte nicht über die gesamte Viking-Firma sprechen, aber auf den chinesischen Schiffen fühlt es sich an, als würde man in China arbeiten. Es ist so autokratisch, sie respektieren keine Menschenrechte oder Privatsphäre.» Viking streitet dies ab und bekennt sich – wie erwähnt – zu «höchsten Standards bezüglich Integrität». Alle weiteren Einzelvorwürfe liess die Firma unbeantwortet.

Aber warum sind Amira und die anderen nicht früher von Bord gegangen, wenn die Bedingungen sie belastet haben? «Viele Menschen sind bereit, ausgebeutet zu werden. Sie wollen Geld verdienen, sie wollen die Welt bereisen. Ich wusste, dass ich ausgebeutet wurde», erklärt die Malaysierin.

Und Torstein Hagen? Auf eine private Interviewanfrage zu seinem Lebenswerk hat der Luzerner Multimilliardär höflich geantwortet: «Vielen Dank für Ihre E-Mail und die freundlichen Worte. Leider habe ich über das hinaus, was öffentlich bekannt ist, nicht viel hinzuzufügen.» 

Eine zweite Interviewanfrage zu den konkreten Vorwürfen liess der 81-Jährige unbeantwortet.

*Die Namen der Viking-Mitarbeiter wurden zu ihrem Schutz geändert.

Über diesen Artikel: Autor Konstantin Kreibich arbeitet seit zwei Jahren bei zentralplus. In diesem März schliesst er die Diplomausbildung Journalismus am MAZ in Luzern ab. Dieser Artikel ist im Rahmen der Diplomarbeit entstanden.

Verwendete Quellen
  • Hintergrundgespräche mit den Mitarbeitern
  • Diverse Dokumente zu den Geschehnissen
  • Telefonat mit Piet Dörflinger, Nautilus International
  • Gespräch mit Michael Meier, Oberassistent Universität Luzern
  • Telefonat mit Marcel Perren, Tourismusdirektor von Luzern
  • Schriftlicher Austausch mit dem Staatssekretariat für Migration (SEM)
  • Schriftlicher Austausch mit dem kantonalen Amt für Wirtschaft und Arbeit (Awa) Basel-Stadt
  • Schriftlicher Austausch mit der Staatsanwaltschaft Basel-Stadt
  • Schriftlicher Austausch mit dem Migrationsamt und dem Steueramt des Kantons Basel-Stadt
  • Schriftlicher Austausch mit dem Department für Umwelt, Soziales und Arbeit Basel-Stadt
  • Hintergrundgespräche zu Torstein Hagens Rolle im Luzerner Tourismussektor
  • Hintergrundgespräche mit NGOs
  • Einbettcode von der Karte Cruise Ship Tracker
  • Vollständige Handelsregisterunterlagen der Firmen Viking River Cruises AG, Viking Catering AG, Viking Cruises (Switzerland) AG
  • Schriftlicher Austausch mit Viking Cruises
  • Schriftlicher Austausch mit Torstein Hagen, Gründer von Viking Cruises
  • Schriftlicher Austausch mit der Redaktion von «Bilanz» und die 300-Reichsten-Liste der Zeitung
  • Schriftlicher Austausch mit Stadt und Kanton Luzern
  • Schriftlicher Austausch mit den Titlis-Bergbahnen
  • Onlinebewertungen des Luzern-Angebots von Viking auf «Tripadvisor»
  • Interview mit Torstein Hagen auf der Website von McKinsey & Company
  • Artikel auf «Seatrade Cruise» zum China-Geschäft von Viking
  • Diverse Medienmitteilungen von Viking
  • Artikel im «Marketscreener» zum Börsengang und Börsenwert der Viking Holding
  • Artikel auf «Fairunterwegs» zur Branche in Basel
  • Artikel in «Forbes» zu Torstein Hagen
  • Profil von Torstein Hagen auf «Forbes»
  • Medienmitteilung des Kantons Basel zur Untersuchung im April 2024
  • Artikel in der «Workzeitung» zu Piet Dörflinger
  • Artikel auf «Trade Winds News» zu Torstein Hagens Vermögenswachstum
  • Artikel in der «bz Basel» zur Branche
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