Lucerna: Politiker spielten Schoggibaron

Luzerns süsser Albtraum

Die Lucerna um 1915, als sie bereits Konkurs gegangen war. (Bild: Postkarte / althofdere.ch)

Sie planten nichts Geringeres, als den Weltmarkt zu erobern: Vor über 100 Jahren gründeten hochrangige Politiker in Hochdorf die Lucerna. An die Schokoladenfabrik hegten sie höchste Erwartungen – und erlebten damit ihren tiefsten Fall.

Die Schweiz und Schokolade – das passt doch, eigentlich. Doch nicht immer, wenn sich die Eidgenossen an die edle Bohne wagen, wird auch etwas draus. Manchmal gehen süsse Träume baden. Etwa im Fall der Lucerna, der Schokoladenproduzentin aus Hochdorf, von deren Existenz heute noch ein paar Dokumente im Staatsarchiv und verstaubte Werbeschilder in Sammlerstuben zeugen.

Von der Hoffnungsträgerin zum Politskandal

1904 gegründet, galt sie als Hoffnungsträgerin der Wirtschaft. Wenige Jahre später wurde sie zum Gegenstand eines veritablen Politskandals, der die prominenten Geldgeber der Fabrik mit in den Abgrund zog.

Die Gründung der Hochdorfer Fabrik fiel in die grösste Erfolgssträhne der Schweizer Schokoladenindustrie. Zwei Erfindungen hatten diesen Boom ins Rollen gebracht. Daniel Peter hatte in den 1870er Jahren die Milchschokolade entwickelt, wenig später war die Neuheit von Rudolf Lindt auf den Markt gekommen: Schokolade, die dank Kakaobutter in der Masse formbar und zartschmelzend ist. Bis nach 1900 blieb die Schweiz die einzige Herstellerin von Milch- und Schmelzschokolade. Die Wachstumschancen, welche die Industrie bot, zeigt das Beispiel Cailler: Das Aktienkapital der Fabrik hatte sich von 1900 bis 1905 verfünffacht.

«Einheitlich das Erprobteste und Neueste»

Kein Wunder also, dass die Gründer der Lucerna sich ein Stück vom Schokoladenkuchen sichern wollten. Zunächst schienen die Dinge auch unter einem guten Stern zu stehen. Zwei Jahre nach ihrer Gründung weihte die Fabrik 1906 ihre Anlage in Hochdorf ein. Die Architekten Emil Vogt und Oskar Balthasar hatten mit dem dreistöckigen Fabrikgebäude ein Prunkstück geschaffen, das Sinnbild für hohe Ambitionen war. Alles war mit modernsten Maschinen ausgerüstet, man hatte «einheitlich das Erprobteste und Neueste» gewählt, wie das Luzerner CVP-Blatt «Vaterland» schrieb. Auch «Der Bund» zeigte sich beeindruckt, betonte die «Umsicht und Intelligenz» der Konstruktion, während der «Tages-Anzeiger» das Management für seine «Tatkraft und Intelligenz» lobte.

Politprominenz stellte Verwaltungsrat

Nicht nur präsentierte sich die Fabrik in modernstem Kleid, die Lucerna sonnte sich auch im Glanz hochrangiger Politiker, die den Verwaltungsrat steuerten. Der erste Verwaltungsratspräsident war der katholisch-konservative Nationalratspräsident und spätere Bundesrat Josef Anton Schobinger. Für das Vizepräsidium engagierte man Josef Anton Balmer, ebenfalls katholisch-konservativer Nationalrat und Präsident der Steuerprüfungskommission im Kanton Luzern.

Buch zur Geschichte

Roman Rossfeld, Wirtschaftshistoriker an der Universität Zürich, beleuchtet den Aufstieg und Niedergang der Lucerna im Buch «Pleitiers und Bankrotteure: Geschichte des ökonomischen Scheiterns vom 18. bis 20. Jahrhundert».

Josef Schmid, liberaler Regierungsrat und Finanzdirektor des Kantons Luzerns und die liberalen Grossräte Willy Hauser und Hans Studer ergänzten die illustre Runde. Bei den Investoren schürte so viel Prominenz die Erwartungen: Das Aktienkapital von zunächst drei Millionen Franken wurde innerhalb weniger Wochen zwölffach überzeichnet.

Erste Schwierigkeiten bald nach Gründung

Die Strahlkraft ihrer Steuermänner konnte allerdings nicht verhindern, dass die Lucerna bald ins Schleudern geriet. Nach einem Senkrechtstart – die Zahl der Arbeiter hatte sich von 1905 bis 1906 auf 200 vervierfacht – sah sich das Unternehmen schon bald mit Schwierigkeiten konfrontiert. Die Gründe dafür waren vielfältig. «Auf steigende Rohstoffpreise folgte ein harter Preiskampf im kleinen Heimatmarkt, der durch die viele Neugründungen übersättigt war. Dann verpasste eine von den USA ausgehende Wirtschaftskrise der Schokoladenbranche einen Dämpfer», sagt Historiker Rossfeld (siehe Kasten).

«Mit dem Marktumfeld ist es für die Firma ganz einfach schlecht gelaufen.»

Roman Rossfeld, Wirtschaftshistoriker an der Universität Zürich

Selbst etablierte Unternehmen traf es schwer. Beim Branchenschwergewicht Peter&Kohler brach der Aktienkurs ein, bei Chocolat Tobler brachte erst die Erfindung der «Toblerone» und die mühsame Umorientierung auf den angelsächsischen Markt die rettende Wende. Dass der Branchenneuling Lucerna diesem rauen Wind nicht habe standhalten können, erstaune nicht, sagt Rossfeld: «Das schlechte Marktumfeld war zum Zeitpunkt der Gründung nicht absehbar gewesen. In dieser Hinsicht ist es für die Firma ganz einfach schlecht gelaufen.»

Kaum Fachleute an Bord

Sterbehilfe kam aber auch aus den eigenen Reihen – durch eine unprofessionelle Herangehensweise der Führung. So hat es dem Verwaltungsrat zwar nicht an schillernden Persönlichkeiten, wohl aber an Fachleuten gemangelt, weiss Rossfeld: «Es waren lediglich zwei Branchenkenner vertreten, von denen einer 1906 bereits wieder ausstieg.»

Auch in der Produktion fehlte das Fachwissen. Während die technische Leitung bei Suchard über drei Generationen in den Händen derselben Familie lag, wurde der Direktionsposten bei der Lucerna in den ersten drei Jahren gleich dreimal neu besetzt. «Es fehlte nicht nur ein bewährtes Rezept für die Herstellung von Schokolade», sagt Rossfeld, «sondern auch Stabilität und eine unveränderte Qualität der Produkte – zwei Faktoren, die für das Vertrauen der Kunden wichtig gewesen wären.»

«Unfähig, wirklich gute Schokolade zu machen»

Branchenzeitung «Gordian»

Die Branchenzeitung «Gordian» warf der Hochdorfer Fabrik derweil «Unfähigkeit, wirklich gute Schokolade zu machen» vor. Auch der rettende Durchbruch im angelsächsischen Markt blieb aus – zu mittelmässig die Produkte, zu dilettantisch das Vorgehen. In den USA etwa liess sich die Lucerna auf zweifelhafte Abmachungen mit Detaillisten ein, welche die Ware schliesslich gar nie verkauften.

Grössenwahn in Hochdorf

Grössenwahn hatte die Chocolatiers in Hochdorf erfasst. Obwohl das Unternehmen nicht einmal den Schweizer Markteintritt richtig geschafft hatte, brüstete es sich in seiner Werbung mit internationalem Anspruch. «Lucerna isst die ganze Welt», stand auf den Plakaten. Der «Nebelspalter» konterte mit einer bitterbösen Karikatur: «Lucerna frisst das ganze Geld!» Damit spielte das Satiremagazin auf die finanziellen Nöte der Fabrik an. Es gab Absatzprobleme, die Kostenrechnung war ungenügend, die Bilanzpraxis undurchsichtig.

«Schönfärberei und unverfrorene Vertuschungssucht»

«Luzerner Tagblatt»

Um die Probleme im Absatz und Export zu verschleiern, teilte das Management die Warenvorräte in der Bilanz 1907/08 auf verschiedene Posten auf. Die Verluste im Export nach England und Amerika schrieb es zunächst nicht ab, sondern buchte sie einfach unter den Vorräten ab. Nach dem 4,8 Millionen schweren Verlust im Geschäftsjahr 1908 beklagte sich ein frustrierter Anleger im «Luzerner Tagblatt» über die «Schönfärberei und unverfrorene Vertuschungssucht» im Verwaltungsrat. «Vermutlich hat die Lucerna nie schwarze Zahlen geschrieben», sagt Historiker Rossfeld, «diesen Verdacht legen die noch vorhandenen Geschäftsberichte nahe.»

Luzerner Kantonalbank und Finanzdirektor im Zwielicht

Die Lucerna kam unter Beschuss. Medien kritisierten die Zusammensetzung des Verwaltungsrates, die direkte Beteiligung von Regierungsräten – und die immer wieder erhöhten Kredite der vom Kanton betriebenen und mit einer Staatsgarantie versehen Luzerner Kantonalbank (LUKB). Auch das Doppelmandat von Lucerna-Verwaltungsrat Josef Schmid sorgte für Unmut: Als Finanzdirektor des Kantons Luzerns und Direktor der Bankenkommission leitete er nämlich auch die Geschicke der LUKB, der wichtigsten Geldgeberin der Lucerna.

Blick auf Hochdorf von Westen mit der Lucerna im Vordergrund

Blick auf Hochdorf von Westen mit der Lucerna im Vordergrund

(Bild: Postkarte / althofdere.ch)

PUK schon vor über 100 Jahren

Im Juni 1909 führte dann eine ausserordentliche Grossratssitzung zur Einsetzung einer parlamentarischen Untersuchungskommission zum Engagement der LUKB im Fall Lucerna. «Aus diesen Protokollen geht hervor, dass die Bank zwar zunehmend misstrauisch geworden, aber angesichts ihrer hohen Investitionen auch am Überleben des Unternehmens interessiert war», sagt Rossfeld. So sei, wie es in den Protokollen von damals heisst, «um Kleineres zu retten, Grösseres neu riskiert» worden. Die Kommission kritisierte zwar das Engagement von Regierungsrat Schmid als «ungehörig», verzichtete aber auf weitere Schritte und ging von der «Redlichkeit» der Akteure aus.

Konkurs und Verkauf an Mitbewerber

Die Leidensgeschichte der Lucerna fand 1911 ein Ende: Es folgten der Konkurs und im Folgejahr die Versteigerung der Fabrik für 1,4 Millionen Franken an den Marktführer Peter-Cailler-Kohler. Mit der Summe deckte die Kantonalbank einen Teil ihrer Verluste. Der Verwaltungsrat der Lucerna blieb zwar von einer Verantwortlichkeitsklage verschont, seine Quittung hatte er allerdings auch so bekommen. 25 Prozent des Aktienkapitals hatte die Verwaltungsräte bei der Firmengründung selbst erworben – und damit im Lauf der Jahre immense private Verluste eingefahren. Zudem hatte die Bankenkommission die Kredite an die Lucerna schon Ende 1907 «nur noch gegen die persönliche Mitverpflichtung der Verwaltungsräte» erhöht.

Der Fall Lucerna war wohl ganz einfach, wie der «Centralschweizerische Demokrat» 1909 titelte, «bittere Chocolade» – für alle, die davon kosteten.

Lucerna – geschmolzener Schokoladen-Traum: Beitrag aus der SRF-Sendung «ECO kompakt» vom 10.09.2012.

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