Basel-/Bernstrasse: 20 Jahre «UntergRundgang»

«Wir gehören zur Quartiermöblierung»

Urs Häner zeigt auf einem historischen Foto, wie die Gütschbahn früher ausgesehen hat. (Bild: rob)

Seit 20 Jahren führen die «UntergRundgänger» Tausende von Leuten durch die Basel- und Bernstrasse und haben dabei schon viele verrückte und erstaunliche Geschichten erzählt. Urs Häner ist der Mann der ersten Stunde. Er will zwar nicht im Zentrum stehen, der Theologe und Druckereiarbeiter ist aber mindestens so speziell wie sein Quartier. So hat er sich – unter anderem – in seinem ganzen Leben noch nie rasiert.

Ich solle nicht über ihn schreiben, sondern über die Führungen durch den Untergrund, über die Geschichte der Basel- und Bernstrasse und über die Menschen, die hier leben. «Ich bin nicht so wichtig, viel spannender ist das, was hier alles schon passiert ist.»

Er hat schon Recht, irgendwie. Wie sonst wäre es möglich, dass es die «UntergRundgänge» immer noch gibt? Vor genau zwanzig Jahren fand der erste historische Rundgang mit dem Namen «UntergRundgang» statt – und immer noch ist das Interesse daran ungebrochen. Auch dieses Jahr werden es wieder über 70 Führungen sein, welche die neun Untergrundgänger in ihrer Freizeit und zu jeder Tages- und Nachtzeit durchführen. «Dieses Jahr sind es bisher just 777 Leute, die an einem unserer Anlässe teilgenommen haben», sagt Urs Häner.

Verarmte Bauern aus dem Seetal

20 Jahre Führungen in den «Untergrund»

1995 wurde der UntergRundgang als Arbeitsgruppe des LABA (Luzernernetz Arbeit und Bildung für alle) gegründet. Die Untergrundgänger erzählen seither die Geschichte ausserhalb der touristischen Altstadt. Die Touren beginnen dort, wo die klassischen Stadtführungen aufhören: am Kasernenplatz vor dem Historischen Museum. «Die rund zweistündigen Rundgänge werfen Schlaglichter auf die Geschichte des Untergrundquartiers, das nicht nur im Schatten des Gütsch liegt, sondern für viele noch immer als Schattenseite der «Leuchtenstadt» Luzern gilt. Denn nicht erst in den letzten Jahren regt sich zwischen der Basel- und Bernstrasse ein erstaunlich buntes Leben», schreiben die Veranstalter auf ihrer Homepage.

Zu den Rundgängen sind in den letzten zwanzig Jahren dazu passende Broschüren veröffentlicht worden. Das Team wurde immer wieder durch Private, die öffentliche Hand und weitere Organisationen unterstützt. 2005, 2009 und 2013 gehörte auch die Albert Köchlin Stiftung dazu.

Warum nur interessieren sich die Menschen für das Quartier, das gemeinhin als das Armenhaus Luzerns bezeichnet wird? Dort, wo der Ausländeranteil über 50 Prozent beträgt, wo der Verkehr dicht und die Häuser meist renovationsbedürftig sind? «Im Mittelalter war hier die Vorstadt, beim Kasernenplatz anfangs Hirschengraben war die Stadtmauer. Das Quartier war seit eh und je ein Zuwanderungsort.» Heute leben über 70 Nationen auf engstem Raum zusammen, früher seien es verarmte Bauern aus dem Entlebuch und dem Seetal gewesen, die sich hier ansiedelten, später waren es die Italiener.

In permanentem Umbruch

Lange Zeit war das BaBeL-Quartier, wie es das Gebiet um die Basel- und Bernstrasse heute auch genannt wird, aber auch ein Ort der Auswanderung. «Bis etwa 1890 gab es Inserate für Auswanderungswillige», so Häner. «Wir helfen Ihnen beim Auswandern, stand da geschrieben.» Deshalb sei die Basel- und Bernstrasse schon immer ein Ort mit viel Unruhe, Bewegung und Veränderung gewesen. «Und das ist der Grund, warum die Geschichte dieses Quartiers so spannend ist», sagt Urs Häner.

Unzählige Geschichten sind wegen dieser bewegten Vergangenheit entstanden – einige davon haben die Untergrundgänger – und Gängerinnen – ausgegraben, um sie dem interessierten Publikum in zweistündigen Führungen vor Ort zu erzählen. Da ist etwa von Heiratsverboten in der Unterschicht die Rede, von «frevelhaft wühlerischer Lust» oder von einem Möchtegern-Hitler. Vieles haben Urs Häner und seine Kolleginnen und Kollegen nicht aus Büchern und alten Überlieferungen erfahren. «Die mündliche Überlieferung ist sehr wichtig, oftmals ist die Geschichte eines solchen Quartiers sehr schlecht dokumentiert.»

Alte Italiener und ein Ausbruchskönig

Beispiel Italiener: Viele kamen nach dem zweiten Weltkrieg in die Schweiz auf der Suche nach einem besseren Leben – etliche davon landeten im BaBeL-Quartier. «Wir müssen die alten Italiener jetzt noch befragen, wie das war damals, weil viele langsam wegsterben», sagt Häner. Er ist deshalb viel unterwegs im Quartier, spricht mit den Menschen, beobachtet, stellt Fragen und forscht nach.

Dabei ist die Equipe in den letzten zwei Jahrzehnten immer wieder auch auf skurrile Geschichten gestossen. Johann Thali etwa, ein Kleinkrimineller, der es zwischen 1867 und 1880 sieben Mal geschafft hat, aus dem Gefängnis auszubrechen. «1879 kam er sogar auf die Titelseite des Nebelspalters», so Urs Häner. Für ein Diebesgut von 5’100 Franken sass der Luzerner insgesamt 20 Jahre im Gefängnis.

Alte Frau erkennt sich auf historischem Bild

Berührt hat Urs Häner auch die Geschichte um ein historisches Foto (siehe Bildergalerie): Auf dem Bild sieht man die Arbeiterküche «Cucina Operaia» der Baufirma Piazza, welche in einem Haus an der heutigen Baselstrasse 45 untergebracht war. «Dieses Bild zeigte ich an einer Führung», so Häner. Da erkannte eine ältere Frau, dass sie das Mädchen auf dem Bild war. «Später erfuhr ich durch diese Frau viele weitere, spannende Details aus dieser Zeit.»

Heute ist das BaBeL-Quartier ziemlich angesagt. Wieder einmal, wie Urs Häner betont. «Das Quartier ist eigentlich mit Negativ-Klischees beladen, aber immer wieder gibt es Perioden, in denen es schick ist, hierher zu kommen.» Das war in den Sechzigerjahren so, als die Rockmusik aufkam und später wieder in den Achtzigerjahren. Und heute? Häner zuckt mit den Schultern. «Es sind junge Leute aus der Agglo, die hier in den Ausgang gehen.»

«Wir haben generell eine hohe Toleranzgrenze hier.»

Urs Häner, UnterGrundgänger und Quartierbewohner

21’000 Autos pro Tag

Der 59-Jährige ist selber kein Beizengänger. Der Lärm der Partyszene stört ihn aber nicht. «Wir haben generell eine hohe Toleranzgrenze hier», meint er nur. Und schliesslich hätten sich die Bewohnerinnen und Bewohner auch mit den 21’000 Autos und 670 Zügen arrangiert, die hier täglich vorbeibrausen.

Die Untergrund-Führungen werden auch nach zwanzig Jahren weitergehen – zu gross ist das Interesse auch heute noch. Wird sich aber das Quartier bald grundlegend ändern? Die Zentrumsnähe könnte zu einer «Seefeldisierung» führen, so wie es etwa im Zürcher Seefeldquartier geschehen ist: Die Häuser werden luxussaniert und die Bevölkerungsstruktur ändert sich grundlegend. Die Unterschicht wird verdrängt, wohlhabende Schichten ziehen ein und verändern das Gesicht des Quartiers komplett.

Da winkt Urs Häner ab. Vereinzelt gebe es das schon, dass ein Haus teuer renoviert werde, aber die engen Verhältnisse und die schattige Lage würden eine solche Entwicklung verhindern, ist er überzeugt. «Ich habe einen Kollegen, der fünfeinhalb Monate lang keine Sonne hat.» Deshalb werde das BaBeL wohl weiterhin ein Ort sein, wo Ausländer und Menschen mit geringem Einkommen wohnen werden.

«Ich habe in den letzten zwanzig Jahren etwa sechs Predigten gehalten.»

Urs Häner, Theologe und Druckereiarbeiter

Sechs Predigten in zwanzig Jahren

Und nun doch noch ein Wort zu Urs Häner, auch wenn er das gar nicht mag: Als Berner kam er vor langer Zeit nach Luzern, um katholische Theologie zu studieren. Als Priester gearbeitet hat er dennoch nie. Ab und zu wird er angefragt, ob er eine Predigt halten könne. «Ich habe in den letzten zwanzig Jahren etwa sechs Predigten gehalten», sagt er und schmunzelt. Häner war damals von der Befreiungstheologie aus Lateinamerika beeindruckt und beeinflusst. Heute arbeitet er teilzeit als Zeitungs-Druckerei-Arbeiter in Adligenswil und setzt sich in seiner Freizeit für die Anliegen der BaBeL-Bewohner ein.

Ein kultureller Sebstversorger

Wie gesagt ist Häner kein Beizengänger – ein Stubenhocker ist er aber auch nicht. «Ich hole meine Miete nicht raus», sagt er. Er ist viel unterwegs im Quartier und entsprechend selten in seiner Wohnung. Was er sonst noch macht? Er lebt mit seiner langjährigen Partnerin zusammen, geht gerne und oft in der Reuss schwimmen. Wie steht es mit Konzerten, Kultur und so weiter? «Ich bin ein kultureller Selbstversorger und deshalb sehr oft im Sentitreff anzutreffen, wo ich mich auch aktiv beteilige.»

Ach ja, da wäre noch der Bart, der ihm bis zur Taille reicht. Er versichert, dass er sich in seinem ganzen Leben noch nie rasiert habe. «Ab und zu stutze ich ihn etwas, damit die Haare nicht unter dem Gürtel eingeklemmt werden», sagt er.

Aber Häner weist abermals darauf hin, dass nicht er, sondern das Quartier im Mittelpunkt stehen sollte. «Wir UntergRundgänger gehören inzwischen bereits zu Quartiermöblierung», meint er trocken.

Ein «störungsarmes» Quartier

Urs Häner und seine Mitstreiter treibt die Liebe zur Basel- und Bernstrasse an, wie sonst wäre es möglich, dass sie über all die Jahre nie müde wurden, den Menschen «ihr» Quartier zu zeigen. Das Klischee, dass es hier wegen der vielen Ausländern dauernd zu Konflikten komme, stimme übrigens nicht, betont Urs Häner. «Wie überall dreht es sich bei den meisten Alltagsreibereien ums Treppenhaus oder die Waschküche. Das BaBeL-Quartier ist erstaunlich Störungsarm.» Das sei gut so, aber er wünschte sich manchmal noch mehr miteinander, verrät er. Diesbezüglich geht es den Menschen hier nicht anders als in anderen Quartieren Luzerns.

Sehen Sie hier spannende historische Bilder und verborgene Hinterhöfe des Basel- und Bernstrasse-Quartiers.

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