Ein Abend unter Luzerner Theatermachern

«Wir brauchen noch den lustigen Dicken»

(Bild: Martin Scherer)

Ein Abend im Kreise der kreativen Köpfe des Luzerner Theaters. Mit Autorinnen und Regisseuren bei Tatar und Bier. zentralplus hat genau zugehört, was die Theaterschaffenden beschäftigt und wie kritisch sie selbst mit der Institution Stadttheater ins Gericht gehen. Und warum keiner von ihnen Schauspieler sein möchte.

Es ist kurz nach 17 Uhr und langsam trudeln sie alle ein. Andreas Herrmann hat eingeladen. Der Leiter der Sparte Schauspiel am Luzerner Theater hat schon aufgetischt: Bier und Wein, selbstgemachtes Tatar und Spaghetti mit Bärlauchpesto. Die Kerzen brennen.

Zu Besuch sind zwei der drei aktuellen Hausautoren Michael Fehr und Ariane Koch – der dritte, Dominik Busch, liegt mit Grippe flach. Auch gleich drei Generationen von Regisseuren sitzen mit am Tisch: Johanna Zielinski und Franz-Xaver Mayr – beide frisch von der Hochschule der Künste in Zürich, Matthias Kaschig, der seit zwölf Jahren als Regisseur arbeitet, und eben Andreas Herrmann, schon rund 30 Jahre dabei. Die Bühnenbild-Masterstudentin Anna Wohlegemuth und Kommunikationsleiterin Fleur Budry ergänzen die illustre Runde.

Schauspieler? Lieber nicht!

Im April feierte das Luzerner Theater gleich zwei Premieren mit «Essen Zahlen Sterben» und «Lehman Brothers.». In diesem Zusammenhang – aber auch einfach, weil’s eine schöne Runde ist – lädt Herrmann an diesem Abend ein. Ein Abend, an welchem Regisseure, Autorinnen, Theatermacher zusammensitzen, essen, trinken und über Vergangenes, Aktuelles und Zukünftiges sprechen.

Lustige Zuschauerreaktionen

Wie bei jeder gemütlichen Runde beginnt auch an diesem Abend irgendwann die Anekdotenrunde:

MATTHIAS KASCHIG: Mein schönstes Erlebnis war ein Zuschauer, der hat am Schluss in die Hände geklatscht, mit den Füssen getrampelt – und «Buh» gerufen – und das sehr heftig. Wenn Theater so eine Verwirrung stiften kann, dann … (der Rest geht im Gelächter unter) Oder mein zweitschönstes Erlebnis: Burgtheater, «Medea», es geht um die Tötung der Kinder, es war Muttertag. Eine Frau schiesst auf: «Neeeiiiin!», besinnt sich, wo sie ist, schämt sich wahrscheinlich, setzt sich wieder hin, alle schauen nur auf sie.

ANNA WOHLGEMUTH: Ich habe mal die Revolution im Theater erlebt, in Berlin bei Schillers «Räuber». Da waren etwa 40 Schauspieler im Zuschauerraum, ganz normal angezogen. Dann stehen die alle plötzlich auf. Gleichzeitig. Natürlich alles inszeniert. Aber mein Mitstudent dachte: Jetzt geht die Revolution los! Der dachte, das ist echt und ist auch aufgestanden, wollte auf die Bühne gehen. Er hat dann die Welt nicht mehr verstanden.

JOHANNA ZIELINSKI: Ich hab’s mal genau andersrum erlebt: In der Vorstellung ging die Brandanlage los und keiner bewegte sich. Die Schauspieler hörten auf zu spielen, doch die Zuschauer dachten sich wohl: «Interessant!» Irgendwann sagten die Schauspieler: «Wir brechen jetzt ab», und sind gegangen. Das Publikum sass weiter da. Der Alarm läuft und läuft, die Inspizientin kommt und sagt: «Sie müssen den Saal verlassen.» Doch es hat ewig gedauert, bis alle raus waren – weil sie dachten, es gehöre zum Theater.


zentralplus hat sich an diesem Abend ebenfalls einen Stuhl geschnappt, mitgegessen, mitgetrunken und mitgeredet. Aber vor allem haben wir zugehört, was in den kreativen Köpfen hinter unserem Luzerner Theater so vor sich geht. Das Luzerner Theater dokumentierte den Abend und ein seitenlanger Dialog ist dabei entstanden – eigentlich beinahe ein Theaterstück. Über Theater.

Hier ein paar Auszüge aus dem Abend:

Die Gespräche am Tisch sind zu Beginn vor allem ein Kennenlernen. Die Theatermacher sind an unterschiedlichen Produktionen beteiligt und müssen sich erst noch gegenseitig beschnuppern. Dabei ist natürlich auch Thema, wer wie zum Theater gekommen ist. Und das scheint oft erstmal die Schauspielerei gewesen sein.

ANDREAS HERRMANN    Matthias, hast du mal gespielt?

MATTHIAS KASCHIG    So kam ich eigentlich zum Theater, als 13-Jähriger. Durch die Nachbarin, auf deren Kinder ich aufgepasst habe. Die hat erzählt, dass sie jemanden suchen am Stadttheater. So wurde ich da hin verführt und es hat Spass gemacht – gab schulfrei. Dann durfte ich bei Regisseur Jürgen Kruse hospitieren und schnell war für mich klar: Ich will Regie machen.

ANDREAS HERRMANN    Ich habe viele Jahre als Schauspieler gearbeitet und vor ein paar Jahren nochmal gespielt. Dabei habe ich erfahren, wie anstrengend dieser Beruf ist. Ich glaube, das hat mit dem Umstand zu tun, dass man sich permanent verströmen muss, ohne auf sich draufschauen zu können, nie so richtig weiss, wo’s hingeht. Einerseits ein Privileg und total schön, aber auch wahnsinnig anstrengend.

ARIANE KOCH    Ich hatte vor zwei Tagen so ein trauriges Gespräch mit einem Schauspieler. Über Äusserlichkeiten bei Schauspielern. Also, wie man darauf reduziert wird. Ich habe schon lange nicht mehr so wirklich darüber nachgedacht, wie krass das eigentlich ist. Und ich bin wirklich froh, bin ich keine Schauspielerin.

JOHANNA ZIELINSKI   Einem befreundeten Schauspieler, der recht korpulent ist und der mal eine Zeit lang viel Sport getrieben hat, wurde am Theater gesagt: «So, ist jetzt langsam aber auch mal gut, sonst siehst du den anderen Männern zu ähnlich. Wir brauchen noch den lustigen Dicken.» Da fühlt man sich ja dann als Schauspieler nicht ernst genommen. Es geht gar nicht darum, was ich alles spielen kann, sondern welchen Typus ich verkörpere.

ANDREAS HERRMANN    Das ist aber vor allem beim Film und in der Werbung so. Mir hat jemand erzählt, dass sie für eine Rolle im Film einen Pennertypen gesucht haben. Auf der Strasse begegneten sie einem Mann, der war perfekt. Sie haben ihn anfragt und er hat gesagt, ja, er will das machen. Sie haben ein Datum vereinbart und ihm einen Vorschuss gezahlt. Zu dem Datum kam er und mit dem Vorschuss war er beim Friseur und hatte sich schick gemacht – (Gelächter)

FLEUR BUDRY    – und das war’s dann.  

ANDREAS HERRMANN    Ja, das war’s dann mit der Rolle.

Ariane Koch, eine der drei Hausautoren des Luzerner Theaters. (Bild: Emma-Lou Herrmann)

Ariane Koch, eine der drei Hausautoren des Luzerner Theaters. (Bild: Emma-Lou Herrmann)

Doch nicht nur über die Äusserlichkeiten – auch über die Inhalte bei Stadttheatern wird kritisch diskutiert. Und dabei tritt man sich auch gerne mal gegenseitig ein bisschen auf die Füsse.

ANDREAS HERRMANN    Es gibt Zeiten, in denen die Leute ängstlicher sind, sich für gewisse Dinge zu öffnen, und das macht es einem schwer. Man muss dann immer überlegen: Wie krieg ich die Leute?

MICHAEL FEHR     Ich versuche nie, jemanden zu kriegen, nie, jemanden zu gewinnen. Das ist langweilig und schwach. Wenn ich etwas mitteilen will, gibt es nur die Möglichkeit, es in der grössten Lautstärke, in der grössten Offenheit zu senden. Was dann schliesslich ankommt, das ist nicht meine Sache.

ANDREAS HERRMANN   Natürlich ist das das Ideal.

MICHAEL FEHR    Es gibt nur eine einzige Situation, in der ich es legitim finde, sich auf die Ebene der Konvention zu begeben, nämlich, wenn du bedroht bist an Leib und Leben. Dann habe ich jedes Verständnis dafür, wenn jemand sagt: Ich verrate mich oder verkaufe mich. Aber in unserem Gesellschafts- und Theatersystem gibt es keinen Grund, Angst zu haben. Als Künstlerin oder Künstler muss man wissen, was man will. Wenn man das nicht weiss und denkt, man kann mit den anderen suchen – schon falsch!

ANDREAS HERRMANN    Du hast recht, bist aber sehr absolut. Denn damit ich etwas ändern kann, damit ich den Mut finden kann, zu sagen, ich folge wieder ganz meinem Weg, dafür braucht es auch eine Krise oder eine Frustration.

ANNA WOHLGEMUTH    Aber wenn man sich für etwas entscheidet, ist es vielleicht mal scheisse, aber man hat sich wenigstens entschieden. Ich finde es schön, dass es bei Michael immer so absolut klingt.

MICHAEL FEHR    Ja, morgen behaupte ich wieder das Gegenteil, das ist schon so. (Gelächter)

Und Fehr ist nicht nur bei den Inhalten absolut, sondern auch zum Thema Kosten und Subventionen wirft er eine anregende Frage in den Raum – deren Diskussion diesen Artikel jedoch sprengen würde.

MICHAEL FEHR    Was man heute wirklich überdenken muss: wie viel diese Theater- und Opernhäuser verschlingen. Ich meine, wenn ich alleine eine Lesung mache, das kostet kaum was. Und das Buch schreibe ich zu Hause. Ist ganz billig. Ist auch Kunst. Da kann man sich fragen: Wie wenig braucht es, um etwas zu tun?

ANDREAS HERRMANN   Ich finde, Theater hat noch einen anderen Aspekt. Es ist ein Dialog, ein gemeinschaftliches Erlebnis.

MICHAEL FEHR   Die Errungenschaft des Theaters ist der qualifizierte Konzentrationsraum. Um diesen herzustellen und zu wahren, braucht es wahrscheinlich viel Personal. Das sehe ich schon ein.

(Bild: Emma-Lou Herrmann)

(Bild: Emma-Lou Herrmann)

Die Diskussion dreht sich bald auch darum, dass man sich doch immer wieder überlegen muss: Für wen machen wir eigentlich Theater?

MATTHIAS KASCHIG    Das Theater ist ein hochsubventionierter Betrieb und da darf nicht so belangloses Zeug laufen.

ANNA WOHLGEMUTH   Nehmen wir diese ganzen Musicals, die haben ein grosses Publikum, darauf sind sie ja auch angewiesen. Und dann macht man es halt so verständlich, dass es auch der letzte Bauer versteht. Das meine ich jetzt nicht böse, ich bin selber aus einer sehr ländlichen Gegend.

JOHANNA ZIELINSKI    Aber ist es denn keine Kunst, wenn es jeder versteht?

«Ich will auch mal Klamauk machen und sehen.»
Matthias Kaschig, Regisseur

ANNA WOHLGEMUTH   Ich verbinde Kunst auch mit Ästhetik und mit einer Übersetzung. Ich möchte nicht eins zu eins das sehen, was ich sowieso schon in der Realität sehe. Dann ist es Unterhaltung und nicht Kunst. Oder man schafft beides.

Kunst sei doch nichts anderes, als die Welt oder eine Geschichte zu übersetzen.

MATTHIAS KASCHIG    Das meist gespielte Stück zurzeit ist «Terror» von Ferdinand von Schirach, ein fiktiver Gerichtsprozess. Hochkonventionelle Dramatik, riesige Zuschauerzahlen, die Leute sind beteiligt, weil sie am Anfang eine Karte kriegen, um abstimmen zu müssen, ob sie am Ende den Typen da schuldig sprechen oder nicht. Die Zuschauer sind also beteiligt. Oder zumindest sind sie aktiviert. Und da kann jeder mitreden, das ist lebendig und da wird darüber geredet. Was oft nicht passiert. Weil es zu kompliziert ist. Weil man es nicht versteht.

ANNA WOHLGEMUTH     Wenn man aber schon vorher überlegt, ob das Publikum es verstehen kann, dann geht man doch in eine verkehrte Richtung. Du musst es erstmal selbst verstehen. Du kannst nur aus dem schöpfen, was du kennst und verstehst. Dann kann es auch jemand anders verstehen.

Matthias Kaschig inszenierte am Luzerner Theater das Stück Lehman Brothers. (Bild: Emma-Lou Herrmann)

Matthias Kaschig inszenierte am Luzerner Theater das Stück Lehman Brothers. (Bild: Emma-Lou Herrmann)

Eine Diskussion, die bei Theaterschaffenden immer wieder auftaucht: Was wollen wir eigentlich im Theater? Wollen wir Konfrontation oder nette Unterhaltung? Wollen wir die Leute einfach nur bedienen?

ANDREAS HERRMANN    Die Theater haben sich auch nur deswegen so frei entwickeln können, weil es eine Mittelschicht gab, die sich den Liberalismus auf die Fahne geschrieben hat und gesagt hat: Wir finden es wichtig, dass Dinge getan werden, die uns nicht unbedingt gefallen, aber es ist wichtig, dass Dinge ausprobiert werden, dass man an Grenzen geht, dass man auskundschaftet, dass man konfrontiert. Jetzt bricht dieser Liberalismus so allmählich weg, man entfernt sich von der Idee der Freiheit der Kunst und der Meinungsäusserung. Jetzt wird es so ein bisschen heikel, jetzt geht es wirklich darum, wer überhaupt noch ins Theater geht. Konsumiert man nur noch das, von dem man sowieso schon weiss, dass es einem gefallen wird?

«Ich würde ja gerne Busfahrer werden.»
Andreas Herrmann, Leiter Schauspielsparte

MATTHIAS KASCHIG    Ja, weil man Sehnsucht nach Erfahrung hat. Weil das Theater ein Ort ist, an dem man Erfahrungen machen kann, wo man sich Gefahren aussetzt, das simple Ding: Katharsis. Ich möchte ja auch physisch miterleben, Rotz und Wasser heulen, oder lachen, oder ich möchte mich zumindest einem Affekt aussetzen. Aber ich will auch mal Klamauk machen und sehen. 

JOHANNA ZIELINSKI    Das Problem ist ja nur, wenn man denkt, man müsste den Klamauk machen, um etwas zu erfüllen.

MICHAEL FEHR    Genau, entweder machst du das, was du willst, oder du gehst Kompromisse ein und dann kannst du auch gleich einen Tanzclub aufmachen. Denn beides ist glaubwürdig. Dann weiss ich aber: Am einen Ort besauf ich mich und am anderen geh ich Theater gucken.

ANNA WOHLGEMUTH   Ich wünsche mir, dass ich mich nicht dafür rechtfertigen muss, dass ich Theater mache. Es gibt das Theater schon so lange und es ist immer noch da, egal, in welchen Formen.

Der Autor Michael Fehr ist in seiner Haltung so absolut ... (Bild: Emma-Lou Herrmann)

Der Autor Michael Fehr ist in seiner Haltung so absolut … (Bild: Emma-Lou Herrmann)

Künstlerisches Schaffen und Selbstzweifel – etwas, wovon auch die Theaterschaffenden nicht verschont bleiben. Doch man kann in einer gemütlichen Runde von einer hochphilosophischen Diskussion auch mal dazu wechseln, lustige Ideen für die fiktive eigene Zukunft zu wälzen:

MICHAEL FEHR    Frustrationen sind Selbstzweifel, und Selbstzweifel lohnen sich nur gegenüber sich selber. Fremdverursachter Zweifel ist total nutzlos. Es hilft nichts: Wenn du nicht so weit bist, dass du dich selber konfrontierst, dann bist du nicht bereit. Das heisst nicht, dass man ohne Hilfe durchs Leben gehen sollte. Aber Frustration ist Zeitverschwendung.

ANDREAS HERRMANN    Du hast recht, wie immer. Wenn ich zweifle, stelle ich mir immer vor, Busfahrer zu werden. Aber vielleicht bin ich auch schon zu alt dafür. Bisher war das immer meine Alternative. Ich fahre gerne durch die Weltgeschichte. Und hinten Leute drin zu haben, finde ich eine schöne Vorstellung.

JOHANNA ZIELINSKI    Wenn, dann würde ich Bibliothekarin werden. Zentralbibliothek Zürich, viertes Untergeschoss. Nur Bücher, keine Leute. Oder Obstbäume schneiden.

ANDREAS HERRMANN    Franz-Xaver, und du wieder zurück in die Tourismusbranche?

FRANZ-XAVER MAYR    Im Sommer immer wieder gerne. In Biergärten, weil da was passiert. Da gibt es Energien, denn im Biergarten geht es um wichtige Dinge, zum Beispiel eine grosse Gruppe, die jetzt Bier braucht und das ist dann äusserst wichtig. Und wenn das nicht passiert, dann muss sich diese Gruppe irgendwie verhalten und da wird sich irgendetwas in Bewegung setzen. Das ist dann eigentlich wieder Theater.

Andreas Herrmann (Bild: Emma-Lou Herrmann)

Andreas Herrmann (Bild: Emma-Lou Herrmann)


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