Ein Blick auf die Orte hinter den Gleisen

Wie der Bahnhof das Zentrum von Luzern sprengte

Wandern für Ferrophile: Vom Steg hat man eine prächtige Aussicht auf das Gleisfeld.

(Bild: jwy)

Vom ersten Holzbahnhof bis zum heutigen Reisezentrum: Der Bahnhof hat das Zentrum von Luzern definiert. Ein Buch zeichnet diese Entwicklung nach und nennt Gewinner und Verlierer. Die Betrachtung bleibt aber einseitig.

Was wäre eine Stadt ohne die heruntergekommenen Hinter-Bahnhof-Quartiere, Güterschuppen und endlosen Gleisfelder? Bahnhöfe prägten und prägen die Innenstadt und haben ihre ganz eigenen Reize. Doch wie wurden die früheren Unorte zu urbanen Anziehungspunkten? Die ehemals dreckigen Areale zu hochpreisigen Trendquartieren?

Den Regionen «Hinter den Gleisen» widmet sich ein neues Buch und blickt in neun verschiedenen Städten mitten in die Bahnhofsquartiere von Genf bis Chur (siehe Box).

Vier Etappen des Luzerner Bahnhofs

Die Reise beginnt in Luzern, wo hinter dem Bahnhof – von der City-Bay bis in die Tribschenstadt – immense Veränderungen in der Innenstadt passierten. Die Soziologen und Stadtforscher Jonas Aebi und Riccardo Pardini gehen den Folgen des Bahnhofs für Luzern in ihrem Text auf die Spur.

Die Autoren unterteilen die Bahnhofsgeschichte in vier Etappen, die alle das soziale Leben und damit die Definition von Zentrum und Peripherie in Luzern formten. Der Bahnhof – ein Symbol «globaler kapitalistischer Warenzirkulation» – ist ein Treiber von Stadtentwicklung.

Weg vom alten Zentrum

Der Bahnhofplatz war nicht immer der «pulsierende Treffpunkt» von heute. Erst mit dem Bau des ersten Bahnhofs im 19. Jahrhundert verschob sich der Fokus von den historischen Marktplätzen der Altstadt auf die andere Reussseite. Verkehr, Industrie, Kultur, Freizeit und jüngst auch Bildungszentren entstanden über die Jahrzehnte. «Raumnutzungen wurden aus der Stadtmitte verdrängt und neue vergessene oder benachteiligte Räume wurden geschaffen – sogenannte Peripherien», schreiben Aebi und Pardini. Eine Entwicklung, die bis heute anhält.

Der Bahnhof wurde zum «Kristallisationspunkt geschäftlichen und kulturellen Lebens».

1856 wurde der hölzerne Bahnhof eröffnet. Der Entscheid für das Gebiet Fröschenburg – damals eine unbewohnte und schlecht erschlossene periphere Zone – löste Proteste aus.

Im Tribschenmoos entstanden in der Folge Baracken, Werftanlagen und Gewerbe. Neue Transportwege und Umschlagplätze wurden gebaut, kurzum: Die Gebiete um den Bahnhof «verstädterten». Die alte Stadtanlage mit ihren Umschlagplätzen verlor ihre zentrumsstiftende Funktion. Erst mit der Seebrücke wuchsen das rechte und linke Ufer schliesslich zusammen.

Aufnahmen durchs Zugfenster in Luzern.

Aufnahmen durchs Zugfenster in Luzern.

(Bild: Sebastian Stadler)

Aus Holz wird mondän

1896 wich der bescheidene Holzbahnhof einem neuen mondänen Bau aus Stein und Stahl. Mit der massigen Kuppel erhielt der Bahnhof repräsentativen Charakter und wurde zur touristischen Attraktion.

Das Bahnhofareal wurde «zum strategischen Objekt der bürgerlichen Kultur» und zur «Begegnungszone des Bürgertums und der Aristokratie», heisst es im Buch. Der Kopfbahnhof wurde zur Flanierzone und einer «Festhütte in Form einer historistischen Burgimitation».

Diese Eroberung der Stadtmitte durch die bürgerliche Klasse schuf wiederum neue Peripherien. Die Arbeiter wurden zusehends in die Peripherie des Tribschenmoos – hinter die «Kulisse des prunkvollen Personenbahnhofs» – gedrängt. Hinter dem Güterbahnhof entwickelte sich die Werft mit vereinzelten Gewerbebauten und dem städtischen Werkhof.

Das Bahnhofareal hingegen wurde zur Touristenzone und zum Kulturort, neue Anlagen für das Bürgertum entstanden. Nach dem burgähnlichen Kriegs- und Friedensmuseum wurde schliesslich 1931 das erste Kunsthaus gebaut. An jener Stelle, wo heute das KKL steht.

Der Bahnhofbrand

1971 wurde dem mondänen Bahnhof ein unfreiwilliges Ende gesetzt. Halle und Kuppel wurden bei einem Brand zerstört. Mit dem dritten, heutigen Bahnhof gewannen laut den Autoren die «typisch urbanen, (massen)kulturellen und kommerziellen Raumnutzungen für das Stadtzentrum weiter an Bedeutung». 1991 wurde der neue Bahnhof nach langer Planung enthüllt. Anstelle von Monumentalität schuf der neue Bahnhof mit seiner tiefen Gebäudehöhe eine schlichte Linienführung vom Hirschmattquartier bis zum Kunstmuseum (und heutigen KKL).

Gleichzeitig fiel dem Stararchitekten Jean Nouvel 1991 der Bau des KKL zu. Es war der Startschuss für die Entwicklung von Luzern zu einer Musikstadt mit weltweiter Ausstrahlung. Der Bahnhof war nun nicht mehr nur einfach ein Reisezentrum, sondern ein «Kristallisationspunkt geschäftlichen und kulturellen Lebens», so die Autoren.

1999 wurde das KKL eröffnet, Luzern erhielt wiederum ein komplett neues Zentrum, ein «Aushängeschild des Stadtmarketings von Luzern als Kultur-, Festival- und Tourismusstadt».

Aufnahmen rund um den Luzerner Bahnhof.

Aufnahmen rund um den Luzerner Bahnhof.

(Bild: Sebastian Stadler)

Die Tribschen lebt auf

Während die Stadt vor den Gleisen ihre Kulturoffensive vorantrieb, nahm auch die Entwicklung des Trischenquartiers Fahrt auf: Das Gewerbe zog zunehmend in die Agglo und die Kultur machte sich breit, namentlich die Boa als neues alternatives Kulturzentrum «hinter den Gleisen».

Der Kulturkompromiss war geboren und die alternative Kultur sicherte sich ihre Unterstützung. Kultur war zu einem Verhandlungsgegenstand städtischer Entwicklung geworden.

Neben der Boa gab’s den Jugendtreff Wärchhof und die Schüür, die als einziges Haus heute noch steht. Das Tribschenquartier wandelte sich von einer «Industrie, Kleingewerbe und Mülldeponien dominierten Zone zu einem durchmischten Quartier».

Bahnhof wird zum Einkaufszentrum

Als vierten Bahnhof beschreiben die Autoren die jüngste Entwicklung: Um die Jahrtausendwende gab die Post ihr Verteilzentrum auf, dort steht heute die Uni. Der Bahnhof wurde zum Shopping-Center mit den längsten Ladenöffnungszeiten in Luzern und die City-Bay, Hotels und Hochschulen schossen aus dem Boden. Die Tribschenstadt wurde mit der «Wohnbauoffensive» definitiv zum Wohnquartier und zum Ort für neue Unternehmen – eine Entwicklung, die bis heute nicht abgeschlossen ist.

Hier setzen die Autoren mit ihrer Kritik am «renditegetriebenen Immobilienmarkt» an. Sie rollen das unrühmliche Ende der Boa und die Massenverhaftung einer Demo für Freiraum vor zehn Jahren auf. Es ist gut, sich das nochmals vor Augen zu führen, denn die «Aktion Freiraum», die als Bewegung mit Aktionen und Besetzungen ihren Anfang nahm, ist heute aktueller denn je. Der Ruf nach selbstverwalteten Arealen klingt nicht ab, im Gegenteil, wenn man die Entwicklung rund um die Bodum-Villen oder das Eichwäldli betrachtet.

Die Autoren würdigen auch Erfolge wie die Industriestrasse, wo der ursprüngliche Verkauf dieses zentralen Industriegeländes an einen privaten Investor verhindert werden konnte – ein Wendepunkt in der Luzerner Bodenpolitik. Und zu Recht weisen sie darauf hin, dass die von der SBB initiierte Überbauung «Village Luzern» im Bereich Rösslimatt rund um den ehemaligen Güterbahnhof nicht vom Fleck kommt.

Luzern festgehalten durchs Zugfenster.

Luzern festgehalten durchs Zugfenster.

(Bild: Sebastian Stadler)

Kritik an der Verdrängung

Der Text ist jedoch von einer Sprache des Klassenkampfs geprägt, den es gar nicht nötig hätte. Der Artikel liest sich stellenweise wie ein linkes Manifest. Damit wird deutlich, wo die beiden Autoren politisch verortet sind – die Kritik am Verdrängungswettbewerb oder der «konsumorientierten Nutzung» des öffentlichen Grundes kommt nicht zu kurz.

Das ist legitim, aber eine recht einseitige Betrachtung der Entwicklung – gerade in der Tribschenstadt. Denn es gibt nicht nur die Opfer der Verdrängung (Boa), sondern durchaus auch gelungene Beispiele, die unerwähnt bleiben. Etwa das Treibhaus, das sich mit Theaterpavillon als Kulturoase inmitten eines Wohnquartiers behauptet.

Die «Peripherisierung» der alternativen Kultur an den Stadtrat kann man kritisieren, wirkt aber überholt. Sind nicht vielmehr die Viscosistadt oder das Areal um den Südpol mit der baldigen Musikhochschule die neuen eigentlichen Zentren?

Und auch die Kritik an der Belebung von Problemzonen durch Sommerbars – «über Orte des Konsums soll eine kontrollierende Wirkung auf den Raum ausgeübt werden» – greift zu kurz. Wer will die Buvetten vom Nordpol bis in die Ufschötti heute noch missen?

Fortsetzung folgt mit dem Tiefbahnhof

Die Autoren stilisieren die Entwicklung vor und hinter dem Bahnhof zu einer Frage «gesellschaftlicher Machtverhältnisse» herauf. Gleichzeitig ist der Bahnhofplatz heute trotz der kritisierten repressiven Massnahmen ein Platz für alle geblieben. Und mehr denn je ist es auch das Inseli. Welche Verdrängung hier stattgefunden hat, bleibt offen.

Trotzdem: Die Verknüpfung der jüngeren Entwicklung des Luzerner Zentrums mit dem Ausbau des Bahnhofs ist erhellend – und das hat man in dieser komprimierten Form noch nie gelesen. Es ist bemerkenswert, wie der historisch gewachsene Bahnhofraum eine neue räumliche und gesellschaftliche Ordnung schuf.

Und die Geschichte ist noch nicht fertiggeschrieben: Mit dem Tiefbahnhof folgt der fünfte Bahnhof.

Buch: «Hinter den Gleisen»

Katharina Graf, Niklaus Reichle (Hrsg.): «Hinter den Gleisen – Die Entwicklung der Bahnhofsquartiere in Schweizer Städten», Seismo Verlag, Zürich 2018, 322 Seiten, Fr. 42.–

In neun Beiträgen, drei Essays und einem Fotobeitrag untersuchen Wissenschaftlerinnen, Journalisten und Künstlerinnen die Veränderung der Bahnhofsquartiere in Genf, Basel, Bern, Luzern, St. Gallen, Chur, Winterthur und Zürich.

Die verschiedenen Luzerner Bahnhöfe in der Bildstrecke:

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