«Zmittag» mit Zuger Anstandstrainerin

Wetten, dass Sie Knigge falsch verstanden haben?

«Ich nehme auch nicht alles bierernst», sagt Kniggetrainerin Doris Pfyl.

(Bild: jav)

Doris Pfyl macht Leute gesellschaftstauglich. zentral+ hat die Kniggetrainerin beim schicken gemeinsamen Essen ausgefragt und ihr Tipps entlockt. Dabei erfuhren wir, dass das Aufhalten der Türe auch falsch sein kann und dass man manchmal «görpsen» sollte.

Wir treffen uns in Zug am Bahnhof. Doris Pfyl steigt aus dem Auto, eine elegante Mittfünfzigerin im weissen Blazer. Sie geht um das Auto herum und öffnet ganz selbstverständlich die Tür auf der Beifahrerseite.

Die 55-Jährige ist seit Jahren erfolgreiche Kniggetrainerin und Stilberaterin. Und man merkt in den ersten Sekunden, wie sehr sie ihren Beruf lebt.

Gemeinsam fahren wir in ein gemütliches Restaurant etwas ausserhalb von Zug. Ich bitte Pfyl bereits vor dem Essen, mich ein bisschen in den Tischknigge einzuführen.

Sofort erfolgen die ersten Korrekturen. Beim Betreten des Restaurants gehe der Gastgeber eigentlich voraus. Die Haltung bei Tisch sollte etwas aufrecht sein, die Ellenbogen sollten niemals auf dem Tisch sein. Die Hände liegen auf dem Tisch oder im Schoss – sind während des Essens jedoch immer überhalb des Tisches. Das Glas sollte man immer am Stiel anfassen, um es nicht zu verdrecken. Wichtig ist auch die Serviettentechnik. Man legt sich die Serviette in der Hälfte gefaltet auf den Schoss und tupft sich während des Essens immer kurz den Mund ab, bevor man einen Schluck nimmt.

Pfyl weist freundlich und nicht wertend auf die Dinge hin. Trotzdem fühle ich mich neben ihr ein bisschen wie ein Trampel.

Mit der Zeit komme ich mir dann etwas steif vor. Man will an alles denken: gerade sitzen, die Arme nicht auf den Tisch legen, die Konversation in Schwung halten, beim Essen auf die richtige Handhabe mit dem Besteck achten. Bei ihr sieht das alles natürlich und elegant aus.

zentral+: Sind Sie eigentlich auch mal wild oder unkontrolliert?

Doris Pfyl: Sie lacht. Natürlich. Ich nehme auch nicht alles bierernst. Ich werde auch im Urlaub mit meiner Freundin nächste Woche tanzen, feiern und bestimmt auch ein, zwei Gläser zu viel trinken. Und dann etwas mehr kichern als sonst. Zudem ich kann auch wütend werden und richtig Dampf ablassen. Ausserdem bin ich auf einem Bauernhof aufgewachsen – ich kann also auch dreckig werden.

«Knigge wird so oft missverstanden.»

zentral+: Für viele Leute hat Knigge etwas Altbackenes. Was sagen Sie dazu?

Pfyl: Da besteht eine falsche Vorstellung. All dieses Fingerabspreizen und fünfmal in der Tasse rühren ist schon lange kein Thema mehr. Das hat nichts mehr mit Knigge zu tun. Das bringt doch auch niemandem etwas. Es muss auch authentisch sein – zur Person und zur Situation passen. Wenn ich merke, es fühlt sich komisch an, wenn ich der Nachbarin die Türe aufhalte, dann ist es das vielleicht nicht. Vielleicht trage ich ihr lieber mal die Tasche hoch oder repariere ihr etwas.

zentral+: Aber besteht Knigge nicht aus ganz konkreten Regeln?

Pfyl: Knigge wird so oft missverstanden. Leute lernen irgendwelche Regeln auswendig. Aber darum geht es nicht. Es geht um Achtsamkeit, Respekt, Aufmerksamkeit. Um Wertschätzung. Umgangsformen sind sehr wichtig und werden immer wichtiger. Denn es wird enger in unserer Gesellschaft. Wenn man beispielsweise im ÖV, wo man sich sehr nahe kommt, die Person grüsst, bevor man sich neben sie setzt, trägt das schon sehr viel zum Wohlbefinden und zum Sicherheitsgefühl dieser Person bei. Setzt man sich hin, ohne Kontakt aufzunehmen, können plötzliche Berührungen Unsicherheit oder gar Aggressionen auslösen.

zentral+: Das ist doch aber übertrieben?

Pfyl: Natürlich reagieren nicht alle gleich. Aber beobachten Sie sich selbst einmal. Auch wenn Sie eine Person sind, die es überhaupt nicht stören würde – es ist trotzdem einfach sympathischer, wenn Sie kurzen Kontakt haben, bevor eine Person Ihnen näher kommt. Man fühlt sich wohler. Und für Leute, die sich schneller unwohl oder unsicher fühlen, für die ist es sehr wichtig. Die vier Zauberworte Entschuldigung, Grüezi, bitte und danke bringen dabei erstaunlich viel.

zentral+: Aber wem bringt es denn etwas, wenn ich das Besteck auf fünf Uhr lege?

Pfyl: Dem Kellner. Er weiss, dass Sie fertig gegessen haben, und vor allem ist es beim Abräumen hilfreich. Kellner fassen den Teller von rechts und dabei können sie mit einem Griff auch das Besteck festhalten, so dass es nicht herunterfallen kann. So hat jede Regel einen Grund. Meist ist es die Wertschätzung einer Person, einer Arbeit, eines Produkts.

«Ich würde nie anfangen, jemandem ungefragt Tipps zu geben.»

zentral+: Allgemein scheinen Kniggekurse im Trend zu sein. Ist das so?

Pfyl: Das ist tatsächlich so. In der Zeit nach 68 war Knigge eher verpönt. Man rebellierte gegen alles. Das war auch gut so und wichtig. Aber heute gewinnt das Thema wieder extrem an Aufmerksamkeit. Ich leite mittlerweile 80 bis 100 Seminare pro Jahr. Vor allem bei Firmen und Fachhochschulen. Man hat die Sozialkompetenz vernachlässigt, da man dachte, es sei weniger wichtig. Man ging von 80 Prozent fachlicher und 20 Prozent Sozialkompetenz aus. Das muss man heute revidieren.

zentral+: Weshalb denn?

Pfyl: Gerade im Dienstleistungsbereich und vor allem im Verkauf ist der Umgang mit Menschen sehr wichtig. Man muss auf Leute eingehen können. Da sind Kniggetrainings eine gute Schulung. Das gilt auch für Kinder. Die sind sehr empfänglich für Knigge-Tipps. Allerdings wünschte ich mir, dass Kinder im Alltag mehr Vorbilder hätten. Eltern sollten gute Umgangsformen täglich anwenden und so zeigen, was soziale Kompetenz ist.

zentral+: Bei neuen oder bei geschäftlichen Bekanntschaften ist es bestimmt eher der Fall, dass man den Knigge einhält. Aber wie sieht es bei engen Freunden oder dem Partner aus? Muss ich es da auch einhalten?

Pfyl: Es geht nicht ums Müssen, es geht um die Wertschätzung. Kleine Dinge können so viel ausmachen. Ein älterer Herr hatte mich nach eineinhalb Jahren angerufen und gesagt, er erlebe einen zweiten Frühling. Und es ging hier nicht um viel. Er hat seiner Frau wieder die Türe aufgehalten, sie zum Essen ausgeführt, sie hat ihn dann wieder öfters mal mit einem Apero zuhause begrüsst, oder sich für ihn hübsch gemacht. Wertschätzung zeigt sich auch darin, wie ich mich kleide. Gerade auch im Beruf. Man sollte sich der Situation optisch schon etwas anpassen.

zentral+: Aber wenn sich alle anpassen würden – wie langweilig wäre doch die Welt!

Pfyl: Das ist so. Aber bei geschäftlichen Treffen ist es schon wichtig. Privat soll man sich natürlich ausleben können. Ich bin auch nicht immer so elegant unterwegs. Mein Mann fährt eine Harley – dann sieht man mich dann auch im Lederkombi mit schwarz lackierten Nägeln. Was ich in geschäftlichen Meetings nie tragen würde. Der Mensch urteilt so schnell. In den ersten Sekunden entscheiden Kleidung, Mimik und Haltung über 55 Prozent des Eindrucks. Durch den Klang der Stimme werden 38 Prozent des ersten Eindrucks bestimmt und nur 7 Prozent durch den Inhalt des Gesagten.

zentral+: Befolgen Sie den Knigge selbst immer? Oder lassen Sie ihn manchmal auch einfach Knigge sein?

Pfyl: Nein. Ich lebe das. Viele Dinge passieren bei mir automatisch. Sonst wäre es auch nicht authentisch, wenn ich selbst nicht darin aufgehen würde. Ich tue das für mich und vor allem aus Wertschätzung meines Gegenübers. Aber ich bin natürlich auch nicht ständig als Kniggetrainerin unterwegs. Ich würde auch nie anfangen, jemandem ungefragt Tipps zu geben.

Aber sicher werde ich in Ausnahmesituationen auch mal etwas lauter. Zum Beispiel beim Autofahren, da kann ich mich schon mal verbal ziemlich aufregen. Wichtig ist einfach, dass, wenn man sich mal im Ton vergriffen hat oder in ein Fettnäpfchen getreten ist, man sich direkt entschuldigt und vielleicht auch erklärt, weshalb man in diesem Moment so reagiert hat. Diese direkte Kommunikation findet viel zu selten statt. Oft denkt man für sich «Ups», aber man traut sich nicht gleich, den eigenen Fehler anzusprechen. Obwohl das sehr viel bringt.

«Wir müssen uns bewusst sein, dass wir nicht das Mass aller Dinge sind.»

zentral+: Wie sind die Zentralschweizer kniggemässig so drauf?

Innerschweizer haben eine kantige Art. Bodenständig, zurückhaltend, aber zuverlässig. Manchmal urteilen sie etwas schnell über andere. Verglichen mit anderen Kulturen leben sie eine eher herbe Gastfreundschaft, dafür aber eine ehrliche und authentische.

Sie könnten etwas menschenfreundlicher auf andere zugehen. Unbekanntes weniger kritisch beäugen sondern neugieriger. Denn man kann sich sehr täuschen. Und nur wenn man seine Haltung überdenkt, kann man durch den Austausch auch vom anderen profitieren.

zentral+: Haben Sie Tipps für den richtigen Knigge im Urlaub?

Andere Länder, andere Sitten. Wir müssen uns bewusst sein, dass wir nicht das Mass aller Dinge sind. Wichtig ist es, sich zu informieren, die Landsleute zu beobachten und auch mal mitzumachen. Man kann Chinesen zum Beispiel eine riesige Freude machen, wenn man am Tisch auch mal görpst.

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