Ein Zuhause auf Zeit für junge Zuger

Wer ist hier das Problem?

Will anonym bleiben: Jugendlicher in der Jugendwohnung im Quartier Herti. (Bild: pbu)

Chaos, Müll und Randale: Immer sind die Jugendlichen die Schwierigen. Dass es aber auch schwierige Eltern gibt, weiss man in dieser WG nur zu gut. Sie ist auf ganz spezielle Jugendliche ausgerichtet – und ständig ausgebucht.

Wieso sind sie hier? «Bei mir gabs familiäre Schwierigkeiten», sagt Thomas. Stefanie nickt. Etwas ausführlicher antwortet die 19-jährige Natalie. «Meine Mutter hat einen neuen Mann kennengelernt. Seither gibts immer wieder Probleme zu Hause. Streitereien und Zoff. Das hat mir psychisch schwer zugesetzt.» Sie habe sich daraufhin immer mehr zurückgezogen, hätte nichts mehr unternommen und habe Probleme in der Schule bekommen. «Ich musste weg von zuhause. Dort habe ich es nicht mehr ausgehalten.»

Jetzt gehe es ihr gut. «Meine Schulnoten haben sich verbessert und mir gefällt es in der Lehre. Die Jugendwohnung war der richtige Schritt», sagt sie. Jugendwohnungen? Ein Sammelbecken für schwererziehbare Jugendliche, die komplett durch alle Raster gefallen sind und zusammen in eine Wohnung gesteckt und sich selbst überlassen werden? Nein, sagt Patrik Litscher, Sozialpädagoge und Betreuer der Jugendwohnungen in Zug. «Die Jugendlichen sind nicht das Problem. Auseinandersetzungen gibts zwar, diese sind aber völlig der Norm entsprechend und letztlich auf das Alter zurückzuführen.»

«Unsere Zimmer werden bewohnt von ‹normalen› Jugendlichen mit schwierigen Eltern.»

Patrik Litscher, Betreuer Jugendwohnungen Zug

Ein präventiver Ansatz

Die Mehrheit der Bewohner komme aus schwierigen familiären Verhältnissen, führt Litscher aus. «Wir verfolgen einen höchst präventiven Ansatz. Unsere Zimmer werden bewohnt von ‹normalen› Jugendlichen mit schwierigen Eltern.» Die Zielgruppe muss entsprechend spezifische Bedingungen erfüllen (siehe Box). «Die Jugendlichen müssen zwingend einen Ausbildungsplatz haben», erklärt Litscher. Ob Lehrstelle, Schule oder Praktikum sei egal. «Sie müssen aus dem Kanton Zug sein oder ihren Ausbildungsplatz hier haben.»

Ein weiterer wichtiger Punkt sei die obligatorische Teilnahme an den WG-Sitzungen, die in der Regel alle zwei Wochen stattfinden. «Diese dienen primär der Organisation des Zusammenlebens», sagt Litscher. «Die Haushaltsführung wird besprochen, Ämtli werden verteilt und die Umsetzung der Abmachungen werden kontrolliert.»

Patrik Litscher, Sozialpädagoge und Betreuer Jugendwohnungen Zug

Patrik Litscher, Sozialpädagoge und Betreuer Jugendwohnungen Zug

(Bild: pbu)

An der WG-Sitzung

Stefanie, Thomas und Natalie* sind drei Jugendliche, welche die entsprechenden Anforderungen erfüllen. Sie wohnen seit knapp einem halben Jahr zusammen in der Jugendwohnung im Quartier Herti. Die vierte Mitbewohnerin ist zurzeit ferienabwesend. An der heutigen WG-Sitzung steht nicht viel auf der Traktandenliste. «Ihr habt das letzte Mal angesprochen, dass gewisse Ämtli nicht befriedigend ausgeführt werden», eröffnet Litscher das Gespräch. Ob sich dies zwischenzeitlich gebessert habe, will er wissen.

«Es gibt immer noch Punkte, die nicht so richtig funktionieren», sagt Stefanie. «Der Boden ist nicht immer so sauber und vor ein paar Tagen lag ein noch feuchter Waschlappen bei der sauberen Wäsche.» Im weiteren Gesprächsverlauf stellt sich heraus, dass just die abwesende Mitbewohnerin für diese Mängel verantwortlich sei. «Besprecht das mit ihr, wenn sie wieder zurück ist. Dann können wir das an der nächsten Sitzung nochmals thematisieren», schlägt Litscher vor.

«Es gibt zu viele WG-Sitzungen.»

Thomas, WG-Bewohner

Danach gibts noch einen kurzen Kassensturz. Für die WG-Kasse ist Stefanie verantwortlich. Sie habe ein eigenes System entwickelt, um die einzelnen Ausgabeposten problemlos mit der entsprechenden Quittung zu belegen. «Ich mache das KV. Deshalb weiss ich genau, worauf ich achten muss und wie das Ganze reibungslos funktioniert», sagt die 19-Jährige selbstbewusst. Auch Litscher staunt ob der sauber geführten Buchhaltung. Wie diese geführt wird, werde WG-intern bestimmt, sagt er. Die Kasse stimmt.

Qualität versus Quantität

Ganz allgemein scheint vieles zu stimmen in dieser Jugendwohnung. Es wird sachlich diskutiert, man begegnet sich auf Augenhöhe und spricht Probleme unverblümt an. Die Küche ist sauber, die Wohnung aufgeräumt und die Waschmaschine in Betrieb. Es stellt sich dabei die Frage, ob dies auf den angekündigten Besuch zurückzuführen ist.

Jetzt mal ehrlich: Sind diese obligatorischen WG-Sitzungen nicht total doof? «Nein», sagt Thomas unumwunden. «Ich finde die Sitzungen gut, weil dann eine erwachsene Person dabei ist. Die ist neutral und kann für viele Sachen Hilfe bieten.» Natalie stimmt dem zu: «Man traut sich mehr zu sagen, als wenn wir nur unter uns wären. Ausserdem gibts dabei eine neutrale Person, die leitet und vermittelt.» «Es werden aber zu viele WG-Sitzungen gemacht», konstatiert Thomas. Einmal im Monat würde absolut ausreichen. Seine beiden Mitbewohnerinnen sehen das genauso.

«Ich musste von zuhause weg. Dort habe ich es nicht mehr ausgehalten.»

Natalie, WG-Bewohnerin

Das sei denn auch der einzige Punkt, an dem es etwas zu kritisieren gäbe. «Wir sind sehr zufrieden hier. Wenn es jetzt noch weniger WG-Sitzungen gäbe, dann wäre es perfekt», sagt Thomas. Natalie fügt an, dass die Kommunikation wichtig sei, und dass diese seit ihrem Einzug vor gut sechs Monaten funktioniere. «In den Gemeinschaftsräumen ist alles gut organisiert. Jeder hat seine Regale und persönlichen Fächli. Im Kühlschrank zum Beispiel. Damit klar ist, wem was gehört und wer wofür verantwortlich ist.» Sie seien eine ruhige und strukturierte WG, bemerkt Stefanie. Und relativ jung, fügt Litscher an. Aber die jungen Leute harmonierten gut miteinander und agierten vorbildlich, meint er

Jugendliche Kreativität

Andernorts sei es etwas schwieriger. «Der häufigste Streitpunkt ist die Hausordnung. Viele halten sich nicht daran und es ist immer wieder ein Kampf, bis die zugeteilten Aufgaben gemacht werden», erklärt der Sozialpädagoge. Er habe in seiner Karriere als Betreuer schon einige kreative Ausreden gehört. «Ein junger Mann meinte ernsthaft, er sei nachtblind und könne deshalb den Abfall nicht raustragen. Schliesslich sei es morgens vor, und abends nach der Arbeit stockfinster draussen.» Heute kann Litscher darüber lachen.

«In der Regel beträgt die Wartezeit sechs Monate.»

Patrik Litscher, Betreuer Jugendwohnungen

Die meisten wüssten, wie es ginge. Die Herausforderung bestehe darin, dass sich die Jugendlichen selbst eine Struktur geben. «Es gibt hier kein Mami und keinen Chef, die sagen, was zu tun ist. Die Jugendlichen müssen sich selber organisieren und lernen, ihre Zeit richtig einzuteilen», erklärt Litscher. Die Betreuer böten dabei Hand, ein therapeutisches Angebot könnten sie aber nicht bieten.

Populäres Angebot

Das Konzept scheint zu funktionieren, denn die Plätze sind begehrt. «In der Regel beträgt die Wartezeit sechs Monate», sagt Litscher. «Vor kurzem erst hat es viele Wechsel gegeben und auf der Warteliste stehen zurzeit sieben Namen», führt er aus.

Die Fachstelle punkto Jugend und Kind hat deswegen die Absicht, ihr Angebot an Jugendwohnungen nach Möglichkeit zu erweitern um damit teure, ausserkantonale Heimplatzierungen zu verhindern. «Wir suchen Eigentum, weil wir bei Mietwohnungen absolut dem Markt ausgeliefert sind.» Es sei unglaublich schwierig, Mietwohnungen zu finden, sagt Litscher und macht sich auf in die nächste Jugendwohnung. Auch dort steht heute eine WG-Sitzung an.

*Die aufgeführten Namen sind Pseudonyme. Die WG-Bewohner wollen nicht namentlich genannt werden.

Begehrte Plätze

Seit mehr als 28 Jahren hat die Zuger Fachstelle punkto Jugend und Kind den äusserst schwierigen Auftrag, Wohnungen im Kanton Zug zu akquirieren und die Zimmer an Jugendliche zu vermieten. Die Jugendwohnungen sind für junge Menschen im Alter von 16 bis 23 Jahren, die aus dem Kanton Zug sind oder ihren Ausbildungsplatz im Kanton haben. Das Angebot richtet sich an Jugendliche, die aus Gründen ernsthafter familiärer Konflikte oder familiärer Zerrüttung nicht daheim leben können.

Mit den Bewohnern werden Beherbergungsverträge abgeschlossen. Die Zimmermieten liegen je nach Wohnung und Zimmergrösse zwischen 470 und 730 Franken monatlich (inklusive Nebenkosten). Die Wohnungen werden indessen nicht nur vermittelt, sondern auch betreut. Die Personalkosten der Betreuungspersonen (zweimal 60 Prozent) sind Bestandteil der Leistungsvereinbarung mit der Direktion des Innern des Kantons Zug.

Die Jugendwohnungen waren in den letzten Jahren stets zu nahezu 100 Prozent ausgelastet. Die Wartezeit von der Anmeldung bis zum Bezug dauert in der Regel zwischen einem Monat bis zu einem Jahr. Der durchschnittliche Aufenthalt in einer Jugendwohnung liegt bei 2,2 Jahren. Zurzeit umfasst das Angebot von punkto sechs Wohnungen für insgesamt 24 Jugendliche.

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