Zuger Kripo-Chef über häusliche Gewalt

«Wenn Kinder betroffen sind, tut es besonders weh»

Polizei und Gesellschaft sollen bei häuslicher Gewalt genauer hinschauen: Das sagt Thomas Nabholz, Chef der Zuger Kriminalpolizei. (Bild: ida)

Der Kanton Zug kämpft mit neuen Massnahmen gegen häusliche Gewalt. Thomas Nabholz, Chef der Zuger Kriminalpolizei, sagt, wie die Polizistinnen bei Interventionen vorgehen – und was diese Arbeit so schwer macht.

«Wenn Papi Mami schlägt, dann bekomme ich Bauchschmerzen.» Mit solchen Aussagen macht die Zuger Polizei derzeit über die sozialen Medien auf häusliche Gewalt aufmerksam. Der Kanton Zug will häusliche Gewalt besser bekämpfen. Insbesondere will er verhindern, dass eine Täterin rückfällig wird und erneut in den eigenen vier Wänden auf den Partner einprügelt.

An diesem Mittwoch hat der Kanton deswegen die neuen Massnahmen kommuniziert (zentralplus berichtete). Diese wurden nötig, weil die Zuger Polizei 2018 einen Anstieg auf 439 Fälle verzeichnete (2017: 386 Fälle). «Da hat es mir wirklich fast ein wenig ‹den Deckel gelupft›», sagt Regierungsrat Beat Villiger. So habe er sich gefragt: Worin liegen die Gründe? Und: Was können wir alle besser machen?

So kam es, dass der Sicherheitsdirektor einen Schwerpunkt auf die Bekämpfung häuslicher Gewalt setzte. Vor zwei Jahren hat er ein zweijähriges Projekt gestartet, das nun abgeschlossen ist. Ziel des Projekts sei es nicht einfach gewesen, Flyer in die Haushalte zu schicken – sondern maximal zu verhindern, dass eine gewalttätige Person rückfällig wird. «Im Klartext heisst das: Dass nicht nur interveniert, sondern Täterschaften betreut und begleitet werden», so Villiger.

Zuger Polizei pflegt Telefonkontakt nach Interventionen

Die neuen Massnahmen betreffen insbesondere auch die Zuger Polizei. Diese rückte letztes Jahr 362-mal wegen häuslicher Gewalt aus. 135 Fälle hatten eine Strafanzeige zur Folge, 227 Fälle blieben ohne Verzeigung (siehe Grafik).

Unter anderem wird die Zuger Polizei künftig nach Interventionen mit Tätern und Opfern in Kontakt bleiben und so eine Nachbetreuung sicherstellen. Und das unabhängig davon, wie schwerwiegend der Fall war. Thomas Nabholz, Chef der Zuger Kriminalpolizei, erklärt, dass diese Nachbetreuung speziell geschulte Polizistinnen machen. Ein solches Telefonat dauert in der Regel rund eine Viertelstunde und kann bei Bedarf wöchentlich bis alle zwei Wochen einmal stattfinden. Ziel ist es, nachzufragen, ob alles in Ordnung ist und ein Vertrauensverhältnis aufzubauen. So soll die Polizei frühzeitig erkennen, wenn sich die Situation in einer Familie wieder zuspitzt.

Und: Sie kann im besten Fall eine allfällige Gewaltsituation verhindern und entschärfen. In diesem Zusammenhang ist auch die sogenannte Präventivansprache wichtig. Polizisten können gefährdende Personen schriftlich ermahnen, vorladen oder ein informatives Gespräch führen.

Auch wurde für die Polizei ein neuer Leitfaden entwickelt. So haben Polizisten etwas in der Hand und wissen, wie sie sich verhalten müssen, wenn sie mitten in der Nacht ausrücken müssen – und sich vor der Wohnungstür befinden, hinter der es zu Streit und womöglich Gewalt gekommen ist.

Die Polizei lernt, Distanz einzunehmen – nahe geht es aber trotzdem

«Wir müssen und wir wollen hinschauen – und das tun wir auch», betont Thomas Nabholz. «Wenn es um häusliche Gewalt geht, so sind das immer sehr tragische Fälle. Wenn Kinder mitbetroffen sind, die unter solchen Situationen leiden, so tut das aber besonders weh.»

Bei häuslicher Gewalt sind häufig Kinder mitbetroffen. «Sie sehen, hören und fühlen die Gewalt. Sie haben oft grosse Ängste, fühlen sich hilflos und schämen sich.» Wenn das Kind miterlebt, wie es in der Familie zu Gewalt kommt, sei das eine Form von psychischer Gewalt am Kind. «Das Miterleben von häuslicher Gewalt kann das Vertrauen von Kindern grundlegend erschüttern und sie in ihrer Entwicklung massiv beeinträchtigen.»

Wenn Kinder involviert sind, dann brauche es ein extremes Fingerspitzengefühl seitens Polizei. Nabholz spricht von einer ausserordentlichen Stress- und einer unheimlichen Drucksituation für Kinder: Weil die eigenen Eltern sich streiten und dann noch die Polizei mitten im Haus steht. «In der Ausbildung lernen die Polizistinnen, wie sie in diesem Moment eine Distanz einnehmen. Im Nachgang ist ein Gespräch aber wichtig – sei das im Team, mit dem Vorgesetzten oder innerhalb des Korps. Denn solche Situationen können auch unseren Mitarbeitenden nahe gehen und emotional belastend für sie sein.»

«Man greift von aussen insbesondere in etwas Höchstpersönliches ein – nämlich in eine Beziehung.»

Thomas Nabholz, Chef Kriminalpolizei Zuger Polizei

Wenn Kinder involviert sind, arbeitet die Zuger Polizei «sehr eng» mit der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) zusammen. Bei den Kindern muss man laut Nabholz auch mehr ansetzen. «Ich bin fest davon überzeugt, dass wir mehr rausholen, wenn wir auf die Kinder zugehen. Dass wir diese Verhaltensmuster, die sie mitbekommen, durchbrechen können. Dass wir den Betroffenen aufzeigen können, dass es andere Arten gibt, Konflikte zu lösen – ganz ohne Gewalt.»

Der Vollzugs- und Bewährungsdienst verzeichnet da bereits Erfolge mit Lernprogrammen, auch bei Menschen mit Migrationshintergrund. «Der Schnitt häuslicher Gewalt ist bei Familien mit Migrationshintergrund höher», so Nabholz. Aber die Herkunft und die Kultur alleine führen nicht zu vermehrter Gewalt. «Die Gründe sind vielschichtig. Auch finanzieller Druck und Suchtprobleme spielen oftmals eine Rolle.»

Mit einer Kampagne sensibilisiert die Zuger Polizei die Bevölkerung:

Was die Polizei wirklich erwartet, sieht sie vor Ort

Zu Beginn einer Intervention steht ein Notruf, der in der Einsatzleitzentrale eingeht. «Es gibt Menschen, die machen einen recht gefassten Eindruck, wenn sie unter Schock stehen. Andere schreien nur noch oder weinen.» Auch besorgte Nachbarn melden sich bei der Polizei. «Die Einsatzleitzentrale hat die Erfahrung zu spüren, wo es besonders eilt.»

Danach funkt man eine entsprechende Patrouille an, die vor Ort fährt. Die Polizistinnen müssen da in einen sehr privaten Bereich eindringen – hinter dessen Tür die Emotionen hochgekocht sind. «Das ist das Hauptproblem häuslicher Gewalt», stimmt Nabholz zu. «Man greift zum einen in andere Kulturen und Religionen ein. Man greift aber von aussen insbesondere in etwas Höchstpersönliches ein – nämlich in eine Beziehung.»

«Die Polizei weiss nie, ob es sich ‹nur› um einen lauten Streit handelt – oder mehr. Ob Scherben herumliegen, die darauf hinweisen könnten, dass zuvor ein handgreiflicher Streit stattgefunden hat.»

Thomas Nabholz

Das mache es so schwierig. Auch, weil die Polizisten beim Ausrücken nicht genau wissen, was sie vor Ort erwarten wird. «Sie wissen nie, ob es sich ‹nur› um einen lauten Streit handelt – oder mehr. Ob Scherben herumliegen, die darauf hinweisen könnten, dass zuvor ein handgreiflicher Streit stattgefunden hat.»

Auch das Bauchgefühl spielt eine Rolle

Vor Ort überprüft die Polizei die Situation. Dabei spielen neben der Ausbildung und den gemachten Erfahrungen auch das Bauchgefühl der Polizisten eine Rolle.

Der Chef der Kriminalpolizei sagt: «Im ersten Moment geht es immer darum, die Situation zu beruhigen. Und für Sicherheit der Betroffenen und sich selber zu sorgen.» Wenn einigermassen Ruhe eingekehrt sei, befragen die Polizistinnen die involvierten Personen getrennt vor Ort. Das grosse Problem: Wie bei allen Delikten unter vier Augen braucht es genügend Beweise. Und nicht selten nimmt das Opfer den Partner in Schutz. «Und mutmassliche Opfer häuslicher Gewalt können wir nicht zum Reden zwingen, das ist ein Fakt.»

«Wir werden nicht darum herumkommen, ein umfassendes Bedrohungsmanagement aufzubauen.»

Thomas Nabholz

Dann liegt es an der Polizei, diese Beweise zu erheben. Seien das Aussagen von Beteiligten, Augenzeugen und Nachbarn. Oder auch Handyaufnahmen sicherzustellen.

Wir alle sollten genauer hinschauen

«Für die Zukunft sind wir gut gerüstet», sagt Nabholz. «Wir müssen aber unbedingt betroffene Kinder noch umfassender schützen.» Leiden sie unter Gewaltsituationen, so prägt sie das zumeist ein Leben lang. «Diese Prägung müssen wir so früh wie möglich unterbrechen», so der Chef der Kriminalpolizei. «Wir werden nicht darum herumkommen, ein umfassendes Bedrohungsmanagement aufzubauen.»

Was Thomas Nabholz besonders am Herzen liegt: «Wir alle sollten genauer hinschauen. Nicht nur die Behörden sollten bei häuslicher Gewalt hinschauen und handeln – sondern auch die Gesellschaft soll das Vertrauen und den Mut haben, nachzufragen oder sich bei der Polizei zu melden. Sei das als Nachbarin, oder wenn man als Gast in einem Restaurant die blauen Arme der Kellnerin sieht.»

In einem nächsten Schritt will der Kanton die Zugerinnen für die Thematik sensibilisieren. Die Zuger Polizei veröffentlicht deswegen im Rahmen der Kampagne «16 Tage gegen Gewalt an Frauen», die an diesem Donnerstag startet, mehrere Videos auf Facebook, Twitter und Instagram. 

Aufrütteln mit emotionalen Kurzvideos

In den Kurzvideos arbeitet die Polizei bewusst ohne viele Worte. «Wir versuchen aufzurütteln und emotional zu berühren. Und wir wollen damit auch Opfer und Täter erreichen – um aufzuzeigen, was sie da ihren Kindern antun», so Nabholz.

Viele Opfer würden sich aus Scham und Angst nicht melden. Aber es sei keine Option, wegzuschauen. Und abzuwarten – bis die Situation in der Wohnung gegenüber, bei einer Bekannten oder einem Arbeitskollegen womöglich eskaliert.

Diesen Punkt sprach auch Regierungsrat Villiger an. Auch er hat schon zum Hörer gegriffen und sich bei der Polizei gemeldet, wenn er besorgt war und einen Streit mitangehört hat. Lieber nehme man das Handy einmal mehr zur Hand als einmal zu wenig. Statt dass man bereut, selber nichts unternommen zu haben – und eben weg- und nicht hingeschaut hat.

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