Denkwürdige Verhandlung vor dem Zuger Strafgericht

Wenn drei schicksalhafte Minuten über ein ganzes Leben entscheiden

Ein junger Mann hat im Ausgang unter Alkoholeinfluss zugeschlagen – das brachte sein ganzes Leben aus den Fugen. (Bild: Pixabay)

Fünf Männer sind im April 2018 vor der Chicago Bar in Zug heftig aneinandergeraten. Es gab eine wüste Schlägerei. Zwei von ihnen landeten nun vor dem Kriminalgericht Zug. Für einen stand alles auf dem Spiel.

Gestochen scharf hat die Kamera vor dem Lokal festgehalten, was an jenem Abend passiert ist. Immer und immer wieder spielt die Gerichtsschreiberin an diesem Dienstagmorgen in der Verhandlung vor dem Zuger Strafgericht die Szenen vor.

Hin und zurück. Einmal im Normalvorlauf, dann verlangsamt. Es sind drei Minuten, die das Leben aller Beteiligten für immer hätten verändern können.

Die Staatsanwaltschaft ist überzeugt: Man kann von Glück reden, dass keiner der jungen Männer bleibende Schäden hat und alle heute noch am Leben sind. Sie hat zwei der Männer wegen Angriff und versuchter schwerer Körperverletzung angeklagt.

«Brutales und menschenverachtendes Verhalten»

Einer von ihnen ist ein 27-jähriger Kosovare. Er ist derjenige, der in jener Nacht angesprochen und angeblich nach Feuer gefragt wurde. Der andere ist ein 23-jähriger Schweizer. Er ist derjenige, der als Erster zugeschlagen hat. Die drei weiteren – Brüder übrigens – sind aus Sicht der Staatsanwaltschaft deren Opfer und haben sich nichts zuschulden kommen lassen.

Der Kosovare habe ein «brutales und menschenverachtendes Verhalten an den Tag gelegt», findet die Staatsanwältin. Er habe gezielt auf den Kopf eines der Brüder eingetreten, als dieser am Boden lag. Mit den Beinen habe er ihn gewürgt und damit tödliche Verletzungen in Kauf genommen.

Besonders «schockierend» sei, dass er nach der Auseinandersetzung auch noch den anderen Bruder k.o. geschlagen habe, als dieser ihm als Friedensangebot die Hand reichen wollte.

Aus einem vermeintlichen Witz wurde ernst

Der Schweizer habe zwar nicht auf die Brüder eingetreten, aber er habe ihnen mehrfach mit voller Wucht ins Gesicht geschlagen. «Das ist nicht weniger niederträchtig», so die Staatsanwältin. Die beiden hätten gemeinsam beschlossen, die anderen zu verprügeln und seien daher Mittäter. Dennoch fordert sie für den Kosovaren eine bedingte Freiheitsstrafe von 16 Monaten, für den Schweizer hingegen 12 Monate.

Für Ersteren steht aber noch weit mehr auf dem Spiel: In der Anklageschrift beantragt die Staatsanwältin den obligatorischen Landesverweis. Wie ein Damoklesschwert hängt dies seit zwei Jahren über dem jungen Mann.

Die Anklage stützt sich primär auf die Aussagen der drei Brüder. In der Verhandlung erfährt man, dass es da noch eine andere Seite gibt. Der Kosovare erzählt, wie er von einem der Brüder völlig überraschend angesprochen wurde – in sehr rüdem Ton. Erst habe er noch gemeint, der mache einen Witz, als er ihm immer näher auf die Pelle rückte. «Ich bin grösser und stärker als du», habe er noch im Scherz gesagt. Er solle weggehen.

Doch das habe der andere nicht gemacht. Und dann wurde es plötzlich ernst. Zunächst habe es nach einigem Geschubse so ausgesehen, als könne man die Sache friedlich klären. Doch dann habe sein Begleiter zugeschlagen. Plötzlich sei die ganze Sache eskaliert.

Ein Angriff? Oder gar Notwehr?

Sein Begleiter sagt vor Gericht aus, er habe gesehen, wie der eine Bruder auf seinen Freund habe einschlagen wollen. Der habe schon die Faust geballt – und da habe er eingegriffen, um Schlimmeres zu verhindern. Putativnotwehr nennt seine Verteidigerin das. Der Schweizer habe irrtümlich angenommen, es stehe ein Angriff bevor.

«Niemand nimmt bei einer Ohrfeige in Kauf, dass er jemanden lebensgefährlich verletzen könnte.»

Verteidiger

Wie in Zeitlupe wird in der Verhandlung jedes einzelne Wort, jeder einzelne Schlag, jeder einzelne Tritt analysiert. Was hatte der Kosovare vor, als er sich ins Getümmel stürzte? Wollte er seinen Widersacher kaputtschlagen oder seinem Freund zu Hilfe eilen? Was hat er gedacht, als er zur Ohrfeige ausholte? Hat er den Versöhnungsversuch des anderen bewusst abgelehnt – oder meinte er, sich gegen einen weiteren Angriff verteidigen zu müssen?

Für einen der beiden steht alles auf dem Spiel

Dreieinhalb Stunden wird über die drei Minuten gestritten. Für den Kosovaren geht es um alles. Wenn er wegen Angriffs verurteilt wird, droht der Landesverweis. «Das ist das Schlimmste, was mir passieren kann», sagt er. «Ja, ich gehöre zu denen, die zwei Heimaten haben. Der Pass hat nie eine Rolle gespielt.» Bis zu diesem Moment.

Sein Freund wird – sofern er während der Probezeit sauber bleibt – nicht ins Gefängnis müssen. Die Verurteilung wäre schon bald nur noch eine unschöne Erinnerung. Der Kosovare würde in einem Land leben, in dem er früher ca. alle drei Jahre zwei Wochen Ferien gemacht hat. Nicht einmal einen Brief schreiben könne er in seiner Landessprache.

Der 27-Jährige ist zwar im Kosovo geboren, aber hier aufgewachsen. Seit er zwei Jahre alt ist, lebt er in der Schweiz. «Meine ganze Familie, meine Verlobte und alle meine Freunde sind hier. Ist das nicht meine Heimat?», fragt er verzweifelt.

Eine Schlägerei ist selten harmlos

Er habe in dieser Nacht aus der Emotion heraus reagiert. «Das tut mir leid, das war falsch. Ich bin sonst nicht so. Immer bin ich derjenige, der vermittelt.» Das habe er auch damals versucht. «Ich war am Diskutieren. Ich habe nicht damit gerechnet, dass mein Freund sich bedroht fühlt, er zuschlägt und die ganze Sache eskaliert.» Dass ihm einer der Brüder nach dem Streit die Hand reichen wollte, habe er nicht gesehen. Er habe gemeint, der wolle nochmal auf ihn los.

«Meine ganze Familie, meine Verlobte und alle meine Freunde sind hier. Ist das nicht meine Heimat?»

Beschuldigter

Seinem Verteidiger ist in diesem Punkt eines wichtig zu betonen: «Niemand nimmt bei einer Ohrfeige in Kauf, dass er jemanden lebensgefährlich verletzen könnte. Er musste nicht damit rechnen, dass er deswegen zu Boden geht.»

Zwar räumt der Verteidiger ein, dass sich der Kosovare an einem Raufhandel – umgangssprachlich Schlägerei – beteiligt habe. Aber eine Verurteilung wegen Angriffs oder versuchter schwerer Körperverletzung will er unbedingt verhindern.

Freiwillige Zahlungen an die Opfer

Die beiden Beschuldigen betonen während der Verhandlung mehrfach, dass ihnen leidtut, was passiert ist. Den Tatbeweis haben sie bereits erbracht. Sie haben sich bei den Opfern entschuldigt. Ausserdem haben sie den dreien freiwillig je 4'000 Franken Genugtuung und Schadenersatz bezahlt.

«Sie haben alles Zumutbare getan, um das Unrecht wieder gutzumachen.»

Verteidigerin

Und zwar in Raten, die im Falle des Schweizers einen Viertel seines Monatslohns ausgemacht haben. «Sie haben alles Zumutbare getan, um das Unrecht wieder gutzumachen», sagt dessen Verteidigerin.

Die Versöhnung ist geglückt. Die Brüder haben ausdrücklich erklärt, dass sie kein Interesse mehr daran haben, dass die beiden Beschuldigten zusätzlich bestraft werden. In solchen Fällen kann das Gericht unter gewissen Umständen von einer Strafe absehen.

Staatsanwältin macht eine Kehrtwende

Aber auch von einer Landesverweisung? Die Staatsanwältin zieht ihren diesbezüglichen Antrag noch während der Verhandlung zurück. «Er hat sein ganzes Leben in der Schweiz verbracht und ich habe das Gefühl, er lebt in sehr gefestigten Verhältnissen», sagt die Staatsanwältin. «Sein damaliges Verhalten steht im Gegensatz zu seinem sonstigen Wesen. Es ist nicht zu erwarten, dass er ähnliche Delikte begehen wird.»

«Sein damaliges Verhalten steht im Gegensatz zu seinem sonstigen Wesen.»

Staatsanwältin

Er hat keine Schulden, keine Vorstrafen und seit Jahren eine feste Arbeitsstelle. Wenn das alles vorbei ist, möchte er seine langjährige Freundin heiraten, die hinten im Publikum sitzt. Sie ist Schweizerin. In zwei bis drei Jahren wollen die beiden eine Familie gründen. Doch all das hängt nun davon ab, wie sich das Gericht entscheiden wird.

Was wäre wenn?

Mehr als drei Stunden dauert die Urteilsberatung. Nochmal werden die drei Minuten analysiert, die das Leben der drei Brüder hätten zerstören können. Was, wenn es durch die mutmasslichen Tritte zu einer tödlichen Hirnblutung bekommen wäre? Was, wenn der andere Bruder nach seiner Ohnmacht nie mehr aufgewacht wäre?

Das Warten auf das Urteil zieht sich hin. Welch ein Glück, dass nichts Schlimmeres passiert ist. Welch ein Glück, dass keiner der drei Brüder einen bleibenden Schaden erlitten hat. Welch ein Glück, dass sich die fünf jungen Männer aussöhnen konnten.

Gespanntes Warten auf einen Entscheid

15 Uhr ist vorbei und damit auch der angekündigte Termin für die Urteilsverkündung. Die Beratung dauere eine halbe Stunde länger, sagt die Gerichtsschreiberin, als sie den Kopf aus der Türe streckt. Es vergehen weitere vierzig Minuten. Nun ruft das Gericht die Parteien in den Saal zurück.

«Wir haben das Video xfach angeschaut», sagt der vorsitzende Richter. Es ist darauf nicht genau zu sehen, ob der Kosovare einen der Brüder mit dem Fuss getroffen hat ­oder nicht. Die Frage entscheidet darüber, ob eine versuchte schwere Körperverletzung vorliegt oder nicht. Und damit auch, ob eine Katalogtat vorliegt. Und damit auch über den Landesverweis. «Wir können nicht beweisen, dass es so war.»

Die beiden Beschuldigten werden von diesem Vorwurf freigesprochen. Aus Sicht des Strafgerichts handelt es sich um einen Raufhandel, an dem sich die beiden beteiligt haben. Der Landesverweis ist damit vom Tisch. Angemessen ist laut Urteil eine Freiheitsstrafe von zehn Monaten für beide. Da sie jedoch Wiedergutmachung geleistet, sich entschuldigt und Reue gezeigt haben, wird die Strafe um einen Viertel reduziert.

Viel Lehrgeld

Was bleibt, ist eine bedingte Freiheitsstrafe von 7,5 Monaten bei einer Probezeit von zwei Jahren. Auch für die Prozess- und Anwaltskosten müssen die Beschuldigten aufkommen, wenn sie dazu in der Lage sind. Es handelt sich um Lehrgeld in der Höhe von mehreren tausend Franken.

Seine Wirkung dürfte der langwierige Prozess bereits getan haben. «So etwas wird nicht mehr passieren, ich bin fest entschlossen», versprach der Kosovare in seinem letzten Wort in der Verhandlung. Und der Schweizer meinte: «So hätte der Abend niemals enden dürfen.»

Deine Ideefür das Community-Voting

Die Redaktion sichtet die Ideen regelmässig und erstellt daraus monatliche Votings. Mehr zu unseren Regeln, wenn du dich an unseren Redaktionstisch setzt.

Deine Meinung ist gefragt
Deine E-Mailadresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert. Bitte beachte unsere Netiquette.
Zeichenanzahl: 0 / 1500.


0 Kommentare
    Apple Store IconGoogle Play Store Icon