Marco Jorio vom Historischen Lexikon

Wenn Artikelzeilen das Büchsenfleisch ersetzen

Marco Jorio an der Vernissage des 13. Bandes des Historischen Lexikons der Schweiz. (Bild: wia)

Der 13. und letzte Band des «Historischen Lexikons der Schweiz» ist fertig – und das Projekt unter Marco Jorio somit Geschichte. Doch wer ist dieser Zuger, der während fast 30 Jahren die Leitung über das Lexikon hatte? Und wie sieht die Zukunft aus für diesen Mann, dessen Fokus über Jahrzehnte in der Vergangenheit lag?

In der Redaktion des «Historischen Lexikons der Schweiz» (HLS) ist alles gemütlich überstellt. Bunte, volle Ordner zieren die Wände, die Weihnachtsdekoration wurde bereits montiert. Überall liegen, stehen, hängen Zeugen eines Vierteljahrhundert-Projekts. Eines Projekts, welches nun abgeschlossen ist. Das primäre Ziel des Büros, ein aktuelles, mehrbändiges historisches Lexikon zu erschaffen, ist erreicht. Alle Wälzer des Historischen Lexikons stehen heute gedruckt in Marco Jorios Büro, das dreizehnte und letzte ist noch fast warm von der Druckerpresse.

W wie Wilhelm Tell oder Wahnsinnsjahr

Marco Jorio, der Chefredaktor des HLS, hat seinen Job erledigt. Erste Spuren von Abschied sind bereits sichtbar, seit kurzem sind die Wände in Jorios Büroraum blank. «Die Gemälde, die ich hier im Raum hatte, sind Eigentum des Bundes. Sie wurden bereits vom Bundesamt für Kultur abgeholt.»
Noch kann der langjährige Chefredaktor nicht aufatmen. Im Gegenteil. «Das ist eine strube Zeit, das letzte halbe Jahr war der Wahnsinn.» Es sind Monate, in denen Jorio von Interview zu Interview, von Vernissage zu Vernissage eilt. Noch bis Ende Dezember. Dann ist Feierabend für den 63-jährigen Zuger. Er lässt sich frühpensionieren.

«Ich bekomme zwar Pensionsgelder, bin aber trotzdem nicht pensioniert.»

Kommt dann die Zeit des «dolce far niente», des Füsse Hochlagerns? Nicht doch. «Ich bekomme zwar Pensionsgelder, bin aber trotzdem nicht pensioniert.» Will heissen: Jorio hat noch einiges an Arbeit vor sich, schreibt Artikel, unter anderem fürs historische Jahrbuch «Tugium» und ausländische Lexika, reist für Vorträge nach München und Wien, hat verschiedene Mandate, auch in internationalen Gremien. Zudem hat Jorio als Parteiloser einen Sitz im Grossen Gemeinderat in Worb. «Dort bin ich eher per Zufall gelandet», sagt er. Ob Frau Jorio nicht langsam genug davon habe, dass ihr Ehemann dauernd auf dem Sprung ist? «Meine Frau macht sich da keine Illusionen.» 

M wie Morgartenschlacht oder Musse

Dennoch. Ruhiger werde das kommende Jahr auf jeden Fall. Mehr Zeit also für «le loisir», wie Jorio sagt. Für jene Musse also, die für den Historiker in den letzten Dekaden zu kurz gekommen ist neben der Arbeit am HLS, neben Familie und der eigenen Forschungstätigkeit.

Was tun also mit der neu gewonnenen Musse? «Lesen! Lesen! Ich habe ganze Regale ungelesener Bücher zuhause. Ich gehe schon gar nicht mehr in Buchhandlungen hinein. Für mich ist das eine Qual zu wissen, dass ich die gekauften Bücher dann doch nicht lesen kann. Auch Museen zu besuchen schaffe ich im Moment kaum.» Was sonst ist untergegangen zwischen den 13 HLS-Bänden? «Das Reisen! Ich habe zwar regelmässig Ferien gemacht – dafür hat meine Frau schon gesorgt – doch sind wir nie länger verreist. Das möchte ich nachholen. Oder wieder einmal mit dem Paddelboot auf den See, unter der Woche Ski fahren oder wandern.»

N wie Nationalhymne oder nervenaufreibend

13 Bände, in vier Landessprachen, pro Sprachausgabe 11’000 Seiten, 29 Jahre Arbeit, 3’000 Mitwirkende. Ein Projekt, welches Ausdauer erfordert, insbesondere für den Chefredaktor. «Das ist ein sehr vielfältiger Job. Vor allem gab es sehr unterschiedliche Phasen, die ich zu leiten hatte. Zuerst kam die Planung, dann der Aufbau, später die Realisierung und schlussendlich die Publikation.» Letztere sei klar die anstrengendste gewesen: «Nach der Realisierungsphase, also ab 2002, erschien jedes Jahr ein neuer Band. Jedes Jahr kamen also wieder die gleichen Arbeitsschritte der Drucklegung und der Veröffentlichung. Dann wusste ich beim dritten Band: Und jetzt das Ganze noch zehn Mal. Das hat schon an den Nerven gezehrt.»

«Das Internet hat unser ganzes Konzept umgekrempelt.»

So sehr, dass Jorio daran gedacht hätte, das Handtuch zu werfen? «Ja. Solche Zeiten gab es schon. Besonders wegen den sehr verschiedenen, komplexen Arbeitsphasen. Aber auch die Verbreitung des Internets führte zu Verunsicherung. Dieses hat unser ganzes Konzept umgekrempelt.» Zu Beginn des Projektes HLS gab es noch kein Internet. Erst Mitte der Neunziger Jahre  gewann das Internet markant an Bedeutung. «1997 hat man darum entschieden, alle Inhalte des HLS öffentlich zugänglich zu machen. Da mussten wir uns Gedanken dazu machen, ob es überhaupt noch eine gedruckte Version braucht.» Eigentlich wäre es umgekehrt geplant gewesen – zuerst das gedruckte Werk, dann die Datenbank. 

Z wie Zwingli oder Zug

Gerade ist entschieden worden, dass der Bund das HLS weiter finanzieren wird. «Nun geht es darum, die bestehenden Artikel in der Online-Datenbank zu aktualisieren und zu vertiefen, aber auch darum, sie mit neuen Artikeln zu ergänzen.» Für diese Arbeit braucht es deutlich weniger Personal. Und darum ist die Redaktion seit längerem schon am Schrumpfen. So bleiben von den ursprünglich 30 Stellen ab kommendem Frühling nur noch 16 übrig.

Marco Jorio ist in Zug aufgewachsen, dort «sozialisiert worden», wie er es ausdrückt. Genauer gesagt im Guthirt-Quartier. «Damals, als es noch nicht multikulti war. Ich bin schon etwas erschrocken, als wir letzthin eine Klassenzusammenkunft hatten und man mir erzählte, dass der Schweizeranteil im Guthirt-Schulhaus fast null sei.» Jorio war Pfadfinder und Ministrant, der Vater arbeitete als Lokführer. «Oft erhielten wir Freibillette und reisten damit nach Italien.» Dort habe die Familie viele kulturelle Ausflüge gemacht. Eine erste Prägung für die spätere Karriere? «Meine Familie war immer sehr interessiert, wenn es um Kultur und Geschichte ging. Wir besuchten oft Museen und Kirchen. Besonders die Frauen in meiner Familie hatten eine Schwäche für Geschichte», stellt Jorio selbst überrascht fest. «Ich wurde von Frauen determiniert. Das ist ja furchtbar», fügt er lachend hinzu.

«Nach der Kantonsschule überlegte ich mir, entweder Jura, Nationalökonomie oder Geschichte zu studieren. Alles Gesellschaftsdisziplinen.» Entschieden hat er sich schlussendlich für Neuere Geschichte, Schweizergeschichte und französische Literatur.

O wie Otto der Grosse oder Oberst Jorio

Nicht nur als Historiker, auch im Militär hat Jorio eine astreine Karriere hingelegt. Bis 1991 führte er als Oberst das Zuger Regiment. Das sei «sehr faszinierend gewesen. Eine Zeit, die ich nicht missen will.» Nicht zuletzt deshalb, weil sich vieles der damaligen Führungstätigkeit auf die Arbeit beim HLS übertragen lasse. «Es war eine gute Schulung für ein solch komplexes Unternehmen. Nur dass man statt mit Büchsenfleisch mit Zeilen rechnet.»

«Das Militär war eine gute Schulung für ein solch komplexes Unternehmen wie das Historische Lexikon.»

Es ist Brauch, dass in umfangreichen Enzyklopädien mindestens ein sogenannter Nihil-Artikel versteckt ist. Ein Artikel also, der frei erfunden ist. Lohnt es sich, im HLS nach einem solchen zu suchen? «Ja», sagt Jorio stolz. «Aber ich verrate Ihnen nicht welchen.» Die Suche dürfte eine längere werden. Das gesamte Werk verfügt nämlich über 36’000 Artikel.

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