Jo Langs neues Buch «Demokratie in der Schweiz»

Vorbild Schweiz? Ein Mythos, der nicht erst durch die Coronakrise Kratzer erfuhr

Jo Lang betrachtet die Landsgemeinden, die als Sinnbild der Demokratie gelten, differenziert. (Bild: Emanuel Ammon/AURA)

Josef Lang hat ein Buch über die Geschichte der Demokratie geschrieben. Der Zuger alt Nationalrat gewährt Einblicke in das vermeintliche Musterland, schafft Parallelen zur Gegenwart und schliesst mit einem Abgesang auf die SVP. Die Pandemie hat dem erfolgreichen Werk zusätzliche Aktualität und Absätze verpasst.

«Demokratie ist gefragt», schrieb der Zuger alt Nationalrat Josef Lang kürzlich auf Twitter. Sein im Mai veröffentlichtes Buch «Demokratie in der Schweiz» ist kürzlich auf Platz 4 der Sachbuch-Bestsellerliste geklettert.

Das Interesse am Thema in einer Zeit, in der Volksabstimmungen verschoben und Parlamentssitzungen abgesagt wurden, ist offenbar besonders gross.

Das erstaunt nur auf den ersten Blick. Die Coronakrise hat dem 300-seitigen Werk eine ungeplante Aktualität verliehen. Und dazu geführt, dass Autor Jo Lang die bereits lancierte zweite Auflage um einige demokratiepolitisch relevante Fragen zum Coronavirus ergänzt hat.

Es fehlten nicht nur die Masken

Sie betreffen konkrete Entscheide wie das Demonstrationsverbot oder den Abbruch der Frühlingssession der eidgenössischen Räte, der – anders als bei den Weltkriegen 1914 und 1939 – ohne Diskussion der Bundesversammlung stattfand. Aber auch die im öffentlichen Diskurs weniger präsenten, aber genauso zentralen ethische Fragen und das Menschenbild. Oder provokativ formuliert: Darf man vulnerable Menschen opfern zugunsten der Freiheitsrechte der Gesellschaft und der Wirtschaft?

Fragen, die teilweise einer Antwort harren. Denn die Demokratie sei auf eine solche Ausnahmesituation schlecht vorbereitet gewesen, resümiert Jo Lang in der bedauerlicherweise sehr kurz ausgefallenen Ergänzung in der zweiten Auflage. Und meint damit nicht die fehlenden Masken.

Demokratie in der Schweiz

Das Buch «Demokratie in der Schweiz. Geschichte und Gegenwart» von Josef Lang ist im Mai im Verlag Hier und Jetzt erschienen. Es ist im Buchhandel für 39 Franken erhältlich.

Aber natürlich wird man weder dem Buch noch dem Autor gerecht, wenn man die drei Jahrhunderte umfassende Geschichte auf das 2020 prägende Virus verkürzt. Wobei gerade der in der Coronakrise lancierte Vorschlag von «Herdenimmunität», bei dem der Tod Einzelner zugunsten eines «gesunden Volkskörpers» in Kauf genommen wird, besonders gut eines der Grundprinzipien von Jo Langs historischer Analyse illustrieren: der Gegensatz zwischen der Gesellschaft als (eher starrer) Organismus und der Gesellschaft als Summe und im Dienste von mündigen Bürgern.

Der Historiker und grüne Politiker geht den Bruchstellen des oft als Musterland der Demokratie hochgelobten Systems auf den Grund und zeigt, wer und was die Schweiz geprägt und vorangetrieben hat. Der 65-Jährige skizziert den Weg von einem der progressivsten Länder Europas im 19. Jahrhundert zum wegen des fehlenden Frauenstimmrechts international belächelten Systems.

Besonders der Widerspruch zwischen den vergleichsweise starken Mitsprachemöglichkeiten und dem gleichzeitigen Ausschluss vieler Mitglieder (nicht nur der Frauen, sondern auch der Juden) ziehen sich als roter Faden durch die Epochen. Und sind nach wie vor von Brisanz, beispielsweise in der aktuellen Debatte um das Stimmrechtsalter 16. Der «Tagesanzeiger» bezeichnete das Buch – in ironischer Anspielung auf die politische Herkunft des Autors – denn auch als «Pflichtlektüre für Patrioten».

Es ist und bleibt ein Geschichtsbuch

Man möchte anfügen: auch für Lokalpatrioten. Jo Lang lässt den Blick immer wieder in die Kantone schweifen. Oft nehmen die sozialen Bewegungen, die zur Weiterentwicklung der Schweizer Demokratie beitragen, ihren Anfang im Lokalen.

Dabei erfährt man auch, dass die konservative Innerschweiz, wo der Widerstand gegen eine breitere politische Mitsprache und das Frauenstimmrecht noch 1959 besonders gross war, ihren Ursprung in der «organischen Institution» der Landsgemeinden hat. Oder wieso der Kanton Zug, wo übrigens bereits im 18. Jahrhundert kaum Steuern erhoben werden, als einer der «moderneren Einwanderungskantone» eine liberalere Haltung entwickelt hat.

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Die Jahrzehnte, in denen der Autor als Zuger Stadt-, Kantons- und Bundesparlamentarier selber politisch aktiv war, werden genauso nüchtern analysiert. Obwohl oder vielleicht gerade weil sie Jo Lang – wie er im Vorwort einräumt –  am meisten Mühe bereitet hätten.

Klima- und Frauenstreik bodigen Rechtspopulisten

Das Buch endet mit dem Kapitel «die Wende von 2019». Die These des Autors dürfte den rechten Patrioten kaum gefallen: Jo Lang argumentiert, dass mit dem Frauen- und dem Klimastreik und den «historischen Wahlen» letzten Oktober der Stern der SVP endgültig verblasst ist.

Wobei sich gerade hier aufgrund der Coronakrise die Frage stellt: Ist diese Wende tatsächlich so nachhaltig wie Jo Lang meinte? Könnte die SVP nicht davon profitieren, dass sich die Länder – auch die Schweiz – wieder stärker auf sich konzentrieren? Eine Antwort darauf gibt der langjährige Zuger Politiker indirekt, indem er die These auch in der zweiten Auflage unverändert stehen lässt.

Aber nicht nur so: Für Jo Lang ist klar, dass die Pandemie den Service Public und jene Sektoren stärkt – Bildung, Gesundheit, Schulwesen, Carebereich – , die nicht zu den Schwerpunkten der SVP zählen (und in denen vorwiegend Frauen tätig sind). Auch die Erfahrung der Verletzlichkeit stärkt laut dem Historiker eher Kräfte, die behutsam mit Menschen und Natur umgehen wollen. Und nicht zuletzt habe die Mehrheit der Menschen in der Krise den Wert wissenschaftlicher Erkenntnisse geschätzt. Kurz: Auch die Coronakrise lässt den Abgesang auf die SVP nicht verhallen.

Es ist kein Buch für den Nachttisch, in dem man vor dem Schlafengehen schmökert, sondern ein analytisches und damit für den Leser anspruchsvolles Werk. Doch wer sich darauf einlässt, bekommt nicht nur einen aufschlussreichen Einblick in die Entwicklung der Schweizer Demokratie geboten, sondern auch Denkanstösse für gegenwärtige Diskussionen.

Der Zuger Politiker Jo Lang. (Bild: zvg)
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