Ungewohnte Wohnformen auf dem Walchwilerberg

Von Tipis und Hippies

Jurte mit Aussicht, auch auf die Sterne. (Bild: wia)

Das Leben auf dem Hirschenhof ist eine Ode an den alternativen Lebensstil, an neue Lebensformen und ans Zeithaben. Die Freiheit, die der Bio-Bauernhof verkörpert, zieht immer wieder Menschen an, denen es unten im Tal zu hektisch wird. Doch auch Leuten mit grösseren Problemen bietet der Hof Zuflucht.

Viele Kurven hoch, weit über den Walchwiler Villen, dort wo der Zugerberg zum unbekannteren Walchwilerberg geworden ist und sich der Rossberg fast schon zu erheben beginnt, da gibt es einen Ort, wo sich die Welt etwas langsamer dreht.

Auf den Hirschenhof kommen Leute, denen das Leben zu viel ist, die eine Auszeit brauchen, Menschen, die sich inspirieren lassen wollen. Denn Platz ist genug da, um Ballast abzulegen. Hier darf man aus dem Rahmen fallen.

Die Jurten, Tipis, Wohnwägen und die vielen heidnischen, buddhistischen und indianischen Symbole sehen nach Hippiedorf aus, nach Aussteigerkommune. Doch eigentlich handelt es sich um eine Mischung zwischen Bauernhof, Lebensgemeinschaft und Auffangstation für Menschen mit Schwierigkeiten (siehe Box).

Grossmuttertreffen und Männerkurse

Nur Viola Schmid und Marco Kunz wohnen das ganze Jahr über in der Idylle am Berg. Sie und ihre Kinder bilden das Herzstück einer Gemeinschaft, die dynamisch ist. Menschen kommen und gehen: Pflegekinder, die fix an gewissen Wochentagen auf dem Hof helfen oder hier zeitweise ein Zuhause finden. Gäste, die bei Heilzeremonien, heidnischen Feiertagen, Männerkursen oder Grossmuttertreffen mitwirken.
Menschen, die eine Auszeit brauchen und sich in den Wohnwägen einquartieren, Ferienlager. Und daneben kommen immer wieder Freunde her, auf einen Kaffee, für ein paar Tage oder mehrere Wochen.

Viele scheinen zu spüren, dass hoch über dem Zugersee Platz da ist für alle – insbesondere auch für Menschen, die auf der Suche sind. Doch nicht alle werden fündig. «Nicht jedem passt es auf dem Hof. Oft sind Jugendliche nicht sonderlich an der Natur interessiert, und dann wird das Zusammenleben schwierig», sagt Viola Schmid. Gerade ist ein neues Pflegemädchen auf den Hof gekommen. «Eine SOS-Platzierung», sagt Viola. Noch sieht die Jugendliche etwas verloren aus. Das viele Grün, die bunten Bauten und die liebevollen Details scheinen sie nicht zu beeindrucken.

Jeder bedient sich selbst

Wer sich hier wohlfühlen will, muss offen sein. Offen dafür, auf ungewohnte Rituale zu treffen, offen sein für die Menschen, die hier oben etwas zu finden hoffen. Muss fähig sein, Ruhe zu ertragen. Wer einen Kaffee will, geht ins «Beizli» und braut ihn selber hinter der Theke. Auch Wanderer sind hier anzutreffen. Jeder ist selbst dafür verantwortlich, den entsprechenden Preis zu zahlen, die Küche sauber zurückzulassen, zum Wohl der Gemeinschaft beizutragen.

Früher hat Viola die Gäste noch selber bedient, doch «dann hatte ich keine Zeit mehr für irgendetwas anderes». Und diese Zeit für anderes, die braucht sie unbedingt.

Die vierfache Mutter ist ein regelrechter Tausendsassa. Ist Geburtsbegleiterin, frischgebackene Grossmutter, Gastgeberin, Pflegemutter, Hofbesitzerin, Organisatorin. Zudem arbeitet Viola bei Exit als Sterbebegleiterin, hilft Kranken und Angehörigen, kurz: Sie hört viel zu. Oft rufen Betroffene bei ihr zuhause an. Solche Gespräche können auch mal länger dauern. Viola ist eine Frau, die so leicht nichts aus der Fassung zu bringen scheint. Wie geht das? Wie kommt man zu so viel Energie? Violas simple Antwort: «Ich kompensiere den Stress mit der Natur.»

«Wenn man sich intensiv mit dem Tod befasst, bekommt das Leben plötzlich mehr Glanz.»

Viola Schmid von der Lebensgemeinschaft Hirschenhof

Über den Tod wird sehr offen geredet, er ist offensichtlicher Teil dieser Lebensgemeinschaft. Viola hat sieben Jahre beim Verein Hospiz Zug als Nachtwache gearbeitet. «Wenn man sich intensiv mit dem Tod befasst, bekommt das Leben plötzlich mehr Glanz. Und das Zeithaben ist ein sehr schöner Bestandteil davon.»

Vom «Chaotikum» in den Stall

Auf dem Hirschenhof hat man aber nicht nur Zeit. Daneben wird auf dem eigentlichen Hofbetrieb angepackt. Auf der Weide grasen Damhirsche, Hühner gackern auf ihren Leitern, Engadinerschafe weiden, Hasen nagen am frischen Gras. Zwei Katzen suchen die Menschennähe. Ein Hund biblischen Alters geniesst hier seine Pension. Dieser ganze Aussenbereich ist Marcos Reich. «Ich hatte mir geschworen, niemals Bauer zu werden», sagt er lachend. Nun, über Umwege, ist es dennoch passiert.
Marco Kunz, der früher die Zuger Jugendbeiz «Chaotikum» mit Herzblut geführt hat, sagt heute: «Der Umgang mit den Tieren gibt mir enorm viel. Am Morgen, möglichst noch vor dem Frühstück, schaue ich nach den Hühnern, Schafen und den Hirschen. Das ist wunderbar, und gibt mir einen Lebenssinn, den ich vorher so nicht hatte.»

Ob ihm das Leben so abgeschieden denn nicht zu öde sei? «Wenn ich ehrlich bin, wäre ich am liebsten nur auf dem Berg. Denn jedes Mal, wenn ich in die Stadt fahre, komme ich aus meinem Rhythmus raus und verzettle mich», erklärt Marco.

Was Marco fehle, sei die Zeit, um mit den Leuten zu reden. «Ich war im ‹Chaotikum› damals eine Anlaufstelle für sorgenbeladene Mitmenschen.» Heute ist es vor allem Viola, die diesen Teil übernimmt.

Im Februar gibts neue Mitbewohner

Es ist viel, was Viola und Marco unter einen Hut bringen möchten. «Zu viel», wie Marco schon länger erkannt hat.

Mitunter ein Grund, warum sich der Hirschenhof nächstens verändern soll. Im Februar kommen neue Bewohner auf den Hof. Sie werden unter anderem dabei helfen, den Hof zu führen. 

Es handle sich um zwei Leute, die den Hirschenhof bei einer Reise durch die Schweiz kennengelernt hätten. «Ihnen hat es hier so gut gepasst, dass sie sich entschieden haben, zu uns zu ziehen. Sie haben ihre eigenen Träume, doch wir sind gegenseitig offen genug, um andere Träume zu akzeptieren.»

Die Tipis werden eingemottet

Einer der Träume Violas ist ein Mutter-Kind-Projekt. «Mütter in schwierigen Lebensumständen sollen, wenn sie schwanger sind und auch in der ersten Zeit nach der Geburt, bei uns wohnen dürfen und werden dabei begleitet von Fachleuten.» Das Projekt soll im Februar gestartet werden. Zu diesem Zweck würde zudem eine ausgebildete Sozialpädagogin und eine Praktikantin auf den Hof ziehen.

Nun hält aber erst einmal der Winter Einzug auf dem Hirschenhof. Der erste Schnee ist bereits gefallen, die Tipis und Jurten werden nächstens zusammengerollt und eingemottet. Und auf dem Walchwilerberg wird das Leben noch etwas langsamer.

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