Verding-Stück «Kronenhaufen» im Südpol

Vom verlorenen Kind zum Gewalttäter

Walter Sigi Arnold als Verdingkind und gebrochener Mann.

(Bild: Ingo Höhn)

«Kronenhaufen», ein Stück über einen schlimmen und wichtigen Teil der Schweizer Geschichte, zeigt im Südpol, wie Gewalt wieder Gewalt erzeugt. Doch das musikalische Erzähltheater mit clownesker Akrobatik hebt etwas zu oft den moralischen Zeigefinger.

Die Geschichte erzählt von kleinen, schnellen Füssen im Märzenschnee, vom Holzprügel, befleckten Hosen, von Demütigung und der Sehnsucht nach Geborgenheit und Zugehörigkeit.

Der Abend war kurz und intensiv im Südpol. Vor mehr als ausverkauftem Haus spielte das Theater Lilith 75 Minuten schwere Kost und fesselte damit beinahe auf ganzer Linie.

Das Thema der Verdingkinder in der Schweiz beschäftigt, was auch am Besucherandrang im Südpol offensichtlich wurde. Zahlreiche Zuschauer fanden auf improvisierten Plätzen und den seitlichen Treppen Platz und trotzdem mussten einige weggewiesen werden.

Gewalt aus Demütigung

Das Stück «Kronenhaufen» hat die Luzernerin Elvira Plüss geschrieben und inszeniert. Es ist die Geschichte eines Verdingjungen (Walter Sigi Arnold), der die physischen und psychischen Misshandlungen, die ihm angetan werden, weitergibt an seine Frauen und seine Töchter (Pascale Pfeuti in mehreren Rollen). Die Geschichte erzählt vom Leid, das nicht mit dem Verdingkind stirbt, sondern sich zäh in den Folgegenerationen einnistet.

Die Inszenierung von Elvira H. Plüss jedoch bricht die Tragik der Geschichte immer wieder mit akrobatischen Einlagen, mit Humor, Gesang und mit Video- und Toneinspielern. Neben den Protagonisten stehen dafür zwei Musiker und zwei Clowns auf der Bühne.

Es ist ein nobler Gedanke, eine schöne Idee, die inhaltliche Brücke zur globalisierten Welt und ebenfalls zur Flüchtlingsthematik, zu den «Asylanten» zu schlagen, doch in der Umsetzung hätten es subtilere Andeutungen auch getan. So hätte die grossartige kurze Textpassage, die Pascale Pfeuti ganz zu Beginn und zum Ende des Stückes mit einer überwältigenden Intensität ins Publikum wirft, gereicht. Denn mit der Eindeutigkeit erhebt sich auch jedes Mal der moralische Zeigefinger.

Grosse Leistung auf der Bühne

Walter Sigi Arnold und Pascale Pfeuti brillieren und berühren in all ihren Rollen, in der Verzweiflung und dem Schmerz. Und auch in der Musik von Madeleine Bischof kommen sich Lieben und Leiden immer näher. Der zerbrechliche Gesang und das Geigenspiel von Pascale Pfeuti sowie das Gitarrenspiel und die weiche, schwermütige Stimme von Cyrill Michel ergänzen dabei die Kontrabass-Blasinstrumente im Hintergrund. Auch die reduzierte Bühne von Heini Gut in Kombination mit den Videoeinspielern von Karl Egli lässt tiefer eintauchen in die Verlorenheit und die Demütigung des Kindes, das der gewalttätige Mann einmal war.

Walter Sigi Arnold und Pascale Pfeuti überzeugen auf ganzer Linie.

Walter Sigi Arnold und Pascale Pfeuti überzeugen auf ganzer Linie.

(Bild: Ingo Höhn)

Und wenn die gross projizierten, runzligen Gesichter der Frauen fast wie in dokumentarischen Interviews von ihrem Lieben und ihrem Leiden erzählen, verschwimmt das Theater mit den Realitäten von so vielen Familien, in welchen Gewalt zum Alltag gehört.

Schmerz statt Bruch

Zwischen den sehr emotionalen, kurzen Szenen aus dem Leben des «Verdingbalgs» und seiner Familie stehen lose theoretische Abhandlungen eines Neurowissenschaftlers von einer Stimme aus dem Off. Deren Hauptaussage: Ausgrenzung und Demütigung lösen dieselben Aggressionen und damit dieselbe Gewalt aus wie starker körperlicher Schmerz. Doch anschliessend, wenn das Clown-Team die Frage «Hast du das verstanden?» und eine heruntergebrochene Erklärung dazu liefern, wirkt es belehrend und etwas sehr «pädagogisch wertvoll vermittelt».

Cyrill Michel und Noah Egli funktionieren als akrobatisches, clowneskes Team sehr agil und harmonisch. Doch in diesem Stück scheinen sie einige Male völlig fehl am Platz. Sie sollen die Komödie in die Tragödie bringen, was selten gelingt. Denn diese Geschichte ist nicht lustig und sie dazu machen zu wollen, endet oft in einem unangenehmen Versuch. Ein gutes Stück weniger Komik und clowneske Überdrehtheit hätten daher gutgetan. Und offensichtlich gelingt das auch mit den vier Darstellern gemeinsam, was einige Szenen gegen Ende des Stücks beweisen.

Ein gutes Team: Cyrill Michel (oben) und Noah Egli.

Ein gutes Team: Cyrill Michel (oben) und Noah Egli.

(Bild: Ingo Höhn)

Hat niemand Schuld?

Wer hat Schuld? Das fragen sich auch die beiden Clowns gegen Ende. Hat vielleicht sogar niemand Schuld? Eine Aussage, die während des ganzen Stückes mitschwingt und nicht hinterfragt wird.

Es scheint fast, als müsse Gewalt immer in weitere Gewalt, Demütigung und Ausgrenzung immer weiter in Ausgrenzung und Demütigung münden. Ein Ausweg, ein Durchbrechen dieses tragischen Erbes hat im Stück keinen Platz.

Die Frauen und die Töchter werden von einer einzigen Darstellerin gespielt: Pascale Pfeuti.

Die Frauen und die Töchter werden von einer einzigen Darstellerin gespielt: Pascale Pfeuti.

(Bild: Ingo Höhn)

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