Erschütternder Fall am Kriminalgericht Luzern

Vom Stiefvater missbraucht, von der Familie im Stich gelassen?

Sexueller Missbrauch in der Familie ist immer noch ein Tabuthema, wie ein Arte-Fernsehbeitrag aus 2018 zeigt. (Bild: Screenshot Arte/Katia Clarens)

Die Staatsanwaltschaft Luzern ist überzeugt, dass ein Lastwagenfahrer seine 13-jährige Stieftochter und ihre beste Freundin zum Sex gezwungen hat. Die Familie aber steht geschlossen hinter dem Beschuldigten. Für sie ist klar: Es handelt sich um einen der grössten Justizskandale in der Schweizer Geschichte.

Zum Schutz der Opfer findet die Verhandlung vor dem Kriminalgericht Luzern hinter verschlossenen Türen statt. Eigentlich dürfen nur akkreditierte Journalistinnen in den Saal, um über den Fall zu berichten. Und doch herrscht im Vorraum ein grosses Gedränge.

Alle sind sie gekommen: Die Ehefrau, die Schwester, mehrere Söhne aus früheren Beziehungen und auch der Stiefsohn. Sie wollen dem Lastwagenfahrer den Rücken stärken, weil sie von seiner Unschuld überzeugt sind. Für sie ist klar: Der heute 46-Jährige habe sich nichts zuschulden kommen lassen. Bereits seit zwei Jahren sitze er unschuldig im Gefängnis. 23 Stunden am Tag verbringt er in der Zelle.

Einer der grössten Justizskandale der Schweizer Geschichte?

Die grimmige Entschlossenheit der Familie ist im Gerichtssaal mit Händen greifbar. Sie dürfen als Vertrauenspersonen beim Prozess dabeisein und bilden eine klare Front, aus der keiner ausbrechen darf. Besonders die junge Frau nicht, die als Erste aussagen soll.

Es handelt sich um eine zerbrechlich wirkende 18-Jährige. Sie trägt einen riesigen Pullover, in dem sie fast zu verschwinden scheint. Sie bricht in Tränen aus, als die Staatsanwaltschaft beantragt, dass ihre Mutter den Saal verlassen soll.

Aus den Akten geht hervor, dass die Mutter einen sehr bestimmenden Einfluss auf ihre Tochter und die Aussagen hat, die sie macht. Das ist heikel. Denn hier werden massive Vorwürfe verhandelt: Der Stiefvater soll das Mädchen sexuell missbraucht haben, seit es neun Jahre alt ist.

«Er ist der Vater, den ich nie hatte.»

Stieftochter

Um die junge Frau zu schützen, brachte die Kesb sie 2017 in einem Heim unter. Sie aber sträubte sich. Immer wieder riss sie aus und fuhr zurück zur Mutter, wo sie heute zum Teil wieder lebt. Auch jetzt ist eine Vernehmung ohne die Mutter nicht durchführbar. Sie bleibt im Saal, während das Mädchen dem Gericht seine Geschichte erzählt.

Alle Schuld trägt die beste Freundin

Und diese klingt denn auch ganz anders als das, was in der Anklageschrift steht. Das Mädchen zeichnet das Bild eines fürsorglichen und liebevollen Mannes, der sich seit Jahren selbstlos um sie kümmere. «Er ist der Vater, den ich nie hatte», sagt sie. «Er hat mir das gegeben, was ich von meinem Erzeuger nicht hatte: Das Väterliche.»

Nie habe er sie angefasst, nie habe er ihr Pornos geschickt, nie habe er mit ihr Geschlechtsverkehr gehabt. Sie habe das zwar behauptet, aber das sei eine Lüge gewesen. Die Wahrheit sei, dass sie von ihrer besten Freundin – damals ebenfalls 13 Jahre alt – zu sexuellen Handlungen genötigt worden sei.

Diese Freundin ist aus Sicht der Familie eine manipulative Psychopathin. Nicht nur habe sie die Stieftochter unter Druck gesetzt. Sie habe auch den damals 43-jährigen Lastwagenfahrer erpresst und genötigt, ihr verfängliche Liebesnachrichten auf Whatsapp zu schicken.

Versperren Loyalitätskonflikte den Blick auf die Wahrheit?

Wie gross müssen die Loyalitätskonflikte sein, dass eine Familie glauben kann, ein 13-jähriges Mädchen könne ein derartiges Lügengebäude aufbauen? Das fragt sich unwillkürlich jeder, der in diesem Gerichtssaal sitzt und die Anklageschrift gelesen hat. Denn die dort geschilderten Vorwürfe sind erdrückend.

«Für mich wurde es langsam zu viel, dass sie so oft mit ihm kuschelt.»

Stieftochter

Gemäss der Staatsanwaltschaft schlich sich der Mann regelmässig ins Kinderzimmer seiner Stieftochter. Ab dem Alter von neun Jahren soll er sie zu sexuellen Handlungen genötigt haben, im Alter von 13 Jahren soll er sie erstmals zum Sex gezwungen haben.

Das Mädchen hatte eine beste Freundin, die regelmässig die Ferien bei der Familie verbrachte. So auch im Sommer 2015. Man machte Ausflüge, spielte im Pool, schaute sich gemeinsam Filme an. Doch etwas veränderte sich in diesen Wochen. Zwischen der besten Freundin und dem Stiefvater entwickelte sich eine Nähe, die auch der Stieftochter auffiel. «Für mich wurde es langsam zu viel, dass sie so oft mit ihm kuschelt», sagt sie in der Verhandlung.

Das Mädchen hatte sich unsterblich verliebt

Unbestritten ist, dass sich die 13-jährige Freundin in den Lastwagenchauffeur verliebte. Sie suchte seine Nähe, wollte mit ihm mitfahren, wenn er zur Arbeit ging. Dabei hätte sie ihr erstes Mal erlebt, erzählt sie. Auf einer Raststätte in der Fahrerkabine, im Hintergrund sei im Radio «All of Me» von John Legend gelaufen. Das werde für immer ihr Song bleiben, sagt sie in der Verhandlung. Das könne ihr keiner nehmen.

Der mehr als dreissig Jahre ältere Mann habe ihr gesagt, dass er sie liebe. Er würde seine Frau verlassen und sie heiraten. Sie habe zwar Hemmungen gehabt, mit ihm zu schlafen. Aber sie habe gedacht, dass sie für immer zusammenbleiben würden. Und dass es deshalb nicht so schlimm sei, es jetzt schon «zu tun».

Nach den Ferien hielten die beiden per Whatsapp Kontakt. Auch das ist unbestritten. In der Anklageschrift ist ein Auszug enthalten, der Einblick gibt, welcher Art diese Nachrichten waren. Er nennt sie «Maus». Er schreibt ihr, dass er sie liebe. Sie will wissen, ob «krasser Sex» dann auch so weh täte wie beim ersten Mal. Und sie fragt, ob seine Stieftochter «besser gewesen» sei, weil er mit ihr ja auch zusammen gewesen sei.

Was passierte mit der Strafanzeige?

Die Stieftochter hatte in zwei Vernehmungen ausgesagt, ihr Stiefvater habe sie mehrfach zum Sex gezwungen. Sie hatte dies auch zwei Schulfreundinnen anvertraut, welche dies in einer Befragung bestätigten. Ein medizinischer Untersuch stellte Verletzungen fest, die gemäss Gutachten mit hoher Wahrscheinlichkeit auf Geschlechtsverkehr zurückzuführen sind. Kommt hinzu: Das Mädchen leidet an der gleichen sexuell übertragbaren Krankheit wie ihr Stiefvater.

Die «Liebesbeziehung» zwischen dem Stiefvater und der besten Freundin kam im Herbst 2015 ans Licht. Die Eltern des mutmasslichen Opfers hatten auf dem Handy ihrer Tochter die besagten Chats gefunden. Angeblich erstatteten sie Anzeige bei der Luzerner Polizei. Passiert ist danach nichts. Gemäss Staatsanwältin sind die entsprechenden Unterlagen verschwunden. Es ist eine von vielen Ungereimtheiten in diesem Fall.

«Für sie war nur eines wichtig: Mich für sich zu bekommen. Dafür war ihr jedes Mittel recht.»

Beschuldigter

Vom mutmasslichen Missbrauch der Stieftochter erfuhren die Behörden nach einem Hilferuf, den diese per Instagram an ihre beste Freundin schickte. Darin fleht das Mädchen darum, dass man sie von zu Hause abhole, weil sie es nicht aushalte, weil die Mama «den» hier wohnen lasse.

Die Freundin schloss daraus, dass es zwischen Stiefvater und Tochter weiterhin zu sexuellen Handlungen gekommen ist. Sie vertraute dies ihrer Mutter an, die sich daraufhin erneut an die Luzerner Polizei wandte.

Die Titel der Pornofilme passen voll ins Bild

Der Mann wurde umgehend verhaftet. Auf seinem Smartphone wurden zahlreiche pornografische Filme gefunden. «Stieftochter ist zu sexy für den Stiefvater» ist noch der harmloseste Titel. Das Setting ist immer das Gleiche: es geht um sexuelle Handlungen zwischen Vater und Tochter.

Die Stieftochter hatte in den ersten Befragungen den Missbrauch bestätigt. In der Verhandlung vor dem Kriminalgericht setzt sie nun aber alles daran, den Beschuldigten zu entlasten. Ihre Erklärung für die Kehrtwende? Ihre beste Freundin sei gar nie ihre Freundin gewesen. Im Gegenteil, sie habe sie zu sexuellen Handlungen gezwungen. Weil sie darüber aber nicht habe sprechen können, habe sie behauptet, der Stiefvater sei es gewesen.

«Für mich ist unverständlich, dass man in dem Alter schon so eiskalt sein kann.»

Beschuldigter

Das Mädchen wirkt in der Befragung verstört. Sie hat in der Zwischenzeit ihre ehemalige Freundin wegen der mutmasslichen sexuellen Nötigung angezeigt. Auch die nun Beschuldigte sagt in der Verhandlung aus. Sie sieht sich mit einem Publikum konfrontiert, das geschlossen gegen sie ist. Trotzdem macht sie ihre Aussage und bleibt dabei: Der Mann habe mit ihr geschlafen und auch mit seiner Stieftochter, das habe sie selber einmal gesehen.

Der Lastwagenchauffeur hatte Angst vor der 13-Jährigen

Der Beschuldigte selber weist alle Schuld von sich. Er habe weder mit dem einen noch mit dem anderen Mädchen je Geschlechtsverkehr gehabt. Es stimme zwar, dass er mit der Freundin seiner Stieftochter Whatsapp-Nachrichten geschrieben habe. Das sei aber nicht freiwillig gewesen. Die 13-Jährige habe sich in ihn verliebt. «Für sie war nur eines wichtig: Mich für sich zu bekommen. Dafür war ihr jedes Mittel recht», erzählt er.

Sie habe ihm gedroht, seiner Frau gegenüber zu behaupten, er hätte sie vergewaltigt. «Ich hatte Angst, dass sich meine Frau dann etwas antun könnte. Deshalb hatte ich diesen selten dämlichen Plan: Nämlich, dass ich ihr das Gefühl gebe, sie hätte mich.» Nur deshalb habe er ihr diese Nachrichten geschrieben. Und dann sei er da nicht mehr rausgekommen. Als die Sache dann an Licht kam, hätte sie ihre Drohung ernst gemacht. «Für mich ist unverständlich, dass man in dem Alter schon so eiskalt sein kann.»

Zwei Varianten – eine schlimmer als die andere

Es gibt also zwei Versionen dieser Geschichte. Die eine lautet, dass ein 13-jähriges, schwer gestörtes Mädchen seine beste Freundin sexuell missbraucht und deren Vater skrupellos erpresst hat. Und als sie nicht erreichte, was sie wollte, beschloss sie, dessen Leben zu zerstören.

Die andere Variante ist nicht weniger tragisch. Dann nämlich hätte eine ganze Familie nicht wahrhaben wollen, was nicht sein durfte: Dass das geliebte Familienoberhaupt pädophil ist und sich an zwei Mädchen vergangen hat.

Verteidiger zeigt Widersprüche in den Aussagen auf

Naturgemäss setzt die Verteidigung in der Verhandlung voll und ganz auf die erste Version. Ihre Argumentation kann hier nur summarisch wiedergegeben werden. Die Whatsapp-Chats könnten manipuliert worden sein. Es sei nicht realistisch, dass keiner den Missbrauch bemerkt hätte. Die Aussagen der besten Freundin seien widersprüchlich, es gäbe zahlreiche Hinweise darauf, dass sie nicht der Wahrheit entsprechen.

«Sie wollte alles tun, um wieder zur Familie zu gehören.»

Staatsanwältin

Bei den angeblichen Kinderpornos handle es sich in Tat und Wahrheit um Filme mit erwachsenen Darstellern. Die Staatsanwaltschaft habe sich noch nicht mal die Mühe gemacht, sich die Filme anzusehen. Die Verletzung im Genitalbereich lasse sich auch durch den Gebrauch eines Vibrators erklären und die Geschlechtskrankheit habe das Mädchen möglicherweise seit der Geburt.

Der Verteidiger geht auf jedes Argument der Staatsanwaltschaft ein und hat für alles eine Erklärung. Er verlangt, dass der Mann freigesprochen und für die lange Zeit in der Untersuchungshaft entschädigt wird.

Anwältin legte das Mandat nieder

Nur die Kehrtwende der Stieftochter vermochte er nicht zu erklären. Auch deren Anwältin konnte da nicht helfen, denn diese legte am zweiten Verhandlungstag ihr Mandat nieder. In die Bresche sprang die Staatsanwältin. Für sie ist klar: «Sie wollte alles tun, um wieder zur Familie zu gehören.»

Die Staatsanwältin fordert eine Freiheitsstrafe von sieben Jahren, zudem soll aufgrund der vermuteten Pädophilie eine stationäre Massnahme angeordnet werden. Der Deutsche soll darüber hinaus für zehn Jahre des Landes verwiesen werden, wo auch die Strafe vollzogen werden soll.

Das Gericht wird seinen Entscheid voraussichtlich nächste Woche eröffnen. Wie auch immer das Urteil ausfallen wird, es ist ein Fall, der nachhallt. Weil beide möglichen Versionen dieser Geschichte an Tragik schwer zu überbieten sind.

Das Urteil wurde inzwischen eröffnet. Den Bericht dazu findet Ihr hier.

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