ÖV-Gutscheine: Mit fünf Millionen in die Ungewissheit
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Mit Gutscheinen im Wert von 300 Franken will der Luzerner Stadtrat Kindern das Busfahren näherbringen. Ob das klappt, ist unklar. Trotz der Ungewissheit freut sich vor allem jemand ganz besonders über den Vorschlag.
Viele Kinder in Luzern geniessen den Luxus, in unmittelbarer Nähe zu ihrem Schulhaus zu wohnen. Der tägliche Weg zur Schule und zurück nach Hause können sie problemlos zu Fuss absolvieren.
Es gibt aber auch jene Kinder, die weit oben an einem der vielen Luzerner Hügel wohnen. Oder fürs Training oder den Musikunterricht quer durch die halbe Stadt müssen. Der Weg zu Fuss oder mit dem Velo wird plötzlich zur Herausforderung – oder gar zu Gefahr.
Die sogenannten Elterntaxis sind die logische Folge. Eltern fahren ihre Kinder lieber mit dem Auto zur Schule oder ins Training, als sie alleine auf die Reise zu schicken. Zahlen, welche die Stadt an Luzerner Schulen erhoben haben, unterstreichen das.
64 Prozent der befragten Kinder gaben an, dass sie für ihre Freizeitaktivitäten manchmal oder gar fast immer von den Eltern ins Training gefahren werden. In die Schule werden rund 4 Prozent der Kinder von ihren Eltern kutschiert.
Stadt verteilt Gutscheine im Wert von 300 Franken
Das sind zu viele aus Sicht des Luzerner Stadtrats. In einem Bericht und Antrag nimmt er zu einem Postulat Stellung, das seinen Ursprung im Kinderparlament hatte. Darin forderte das Kinderparlament günstigere ÖV-Preise für Kinder und Jugendliche, um deren Selbstständigkeit zu erhöhen und die Zahl der Elterntaxis zu reduzieren.
Der Stadtrat hat nun einen konkreten Vorschlag erarbeitet, um die Forderung umzusetzen. Alle Luzerner Schulkinder erhalten jährlich einen Gutschein im Wert von 300 Franken. Dieser ist für Jahres- und Monatsabonnements sowie Mehrfahrten- und Multi-Tageskarten einlösbar. Das Jahresabo im Wert von 610 Franken wäre demnach nur noch halb so teuer.
Der Stadtrat rechnet damit, dass rund 75 Prozent der Luzerner Jugendlichen das Angebot nutzen werden. Für das Angebot berechtigt sind Stand 2023 rund 7’400 Schülerinnen in der Stadt Luzern. Somit belaufen sich die jährlichen Kosten für die Gutscheine auf knapp 1,7 Millionen Franken. Allerdings ist die Massnahme mit zahlreichen Unsicherheiten verbunden.
Die Ungewissheit dominiert
Der Haken an der Sache: Es gibt schweizweit keine vergleichbaren Projekte, mit denen sich der Erfolg der Aktion abschätzen liesse. «Es gibt keine Vorläufer, um Erfahrungen zu beziehen», räumt auch der zuständige Stadtrat Adrian Borgula an der Medienkonferenz der Stadt ein. «Aber jemand muss immer vorausgehen.»
«Ob diese freiwilligen Beiträge tatsächlich dazu führen, dass es weniger Elterntaxis gibt, können wir nicht sagen.»
Carmen Holdener, Gemeinderätin Meggen
Darum schlägt der Stadtrat dem Parlament vorerst eine dreijährige Testphase für die Aktion mit den Gutscheinen vor. Die geschätzten Gesamtkosten für die Pilotphase belaufen sich demnach auf rund 5 Millionen Franken. Die Stadt hofft, dass sie danach den Nutzen der Gutscheine besser abschätzen kann, um eine definitive Regelung einzuführen.
Tatsächlich passiert in verschiedenen Schweizer Städten gerade einiges hinsichtlich günstigeren ÖV-Tarifen. Zuletzt hat das Beispiel Genf gezeigt, dass die Nachfrage dank günstigeren Preisen im ÖV klar gestiegen ist (zentralplus berichtete). Wie sich die Nachfrage bei Kindern und Jugendlichen entwickelt, ist jedoch unbekannt.
«Der Preis des ÖV soll für Kinder kein Hinderungsgrund sein, eine Freizeitaktivität auszuüben.»
Adrian Borgula, Stadtrat Luzern
Zwar gibt es in Meggen seit rund zehn Jahren eine Vergünstigung von 20 Prozent auf Busabos für sämtliche Schüler in der Gemeinde. Doch auch der Erfolg dieser Massnahme ist unklar.
So sagt Gemeinderätin Carmen Holdener, zuständig für das Ressort Bildung und Jugend, auf Anfrage: «Tatsächlich gibt es nur wenige Eltern, die diese Vergünstigung beantragen. Ob diese freiwilligen Beiträge tatsächlich dazu führen, dass es weniger Elterntaxis gibt, können wir nicht sagen.» Die Nachfrage nach Bus-Abos oder eben einer Vergünstigung sei über die Jahre stabil geblieben.
Elterntaxis sind auch eine Frage der Mentalität
Die grosse Unbekannte für die Stadt Luzern ist vor allem die Frage, ob Elterntaxis nicht eher eine Frage der Mentalität als des Preises sind. Also dass die Eltern ihre Kinder wegen der Sicherheit oder Bequemlichkeit mit dem Auto ins Training bringen und nicht aus Kostengründen.
Auch hier muss Stadtrat Borgula einräumen: «Es spielen sicher beide Aspekte, die Mentalität und die Kosten, eine Rolle. Mit den Gutscheinen können wir darum keine Veränderung im Verhalten garantieren.» Er hält aber fest: «Der Preis des ÖV soll für Kinder kein Hinderungsgrund sein, eine Freizeitaktivität auszuüben.»
«Aus Sicht der Kinder ist das Autofahren gratis, der Bus hingegen kostet.»
Samia Baghdadi, Sekretärin Kinderparlament Luzern
Gleich sieht es Samia Baghdadi vom Kinderparlament Luzern. Sie gibt zu bedenken, dass gerade für Familien mit mehreren Kindern die ÖV-Ausgaben durchaus zur Belastung werden. Da greifen Eltern doch lieber aufs Auto zurück, zumal dieses ja sowieso in der Garage steht.
Wie Baghdadi erläutert, wird den Kindern damit eine fehlerhafte Annahme vermittelt: «Aus Sicht der Kinder ist das Autofahren gratis, der Bus hingegen kostet. Vor allem, wenn sie das Ticket zum Teil selber zahlen müssen. So werden sie gar nicht mit den eigentlichen Kosten des Autofahrens konfrontiert.»
Der Vorstoss verfolgt darum klar das Ziel, den öffentlichen Verkehr bereits den Kindern näherzubringen. So können sie sich damit vertraut machen und verzichten später, wenn sie erwachsen sind, vielleicht darauf, sich ein eigenes Auto zu kaufen.
«Riesiger Erfolg» für das Kinderparlament
Zuletzt hat der Entscheid des Stadtrats auch eine politische Bedeutung. Es ist nämlich seit über zehn Jahren der erste Vorstoss des Kinderparlaments, der vom Grossen Stadtrat überwiesen wurde. Und jetzt mit dem Vorschlag des Stadtrats einen beachtlichen Kredit ausgelöst hat. «Für das Kinderparlament ist das ein riesiger Erfolg», attestiert Samia Baghdadi. «Es spricht für diese Stadt, dass man den verschiedenen Bevölkerungsgruppen zuhört und auf ihre Bedürfnisse eingeht.»
Ihr pflichten Francesca und Finn bei. Als ehemalige Kinderparlamentarier stecken sie hinter dem Vorstoss: «Wir finden den Vorschlag des Stadtrats super und begrüssen insbesondere, dass es eine dreijährige Testphase gibt.»
Die beiden hoffen nun auf einen Effekt der Gutscheine und dass damit die Eintrittshürde zur Benutzung des ÖV kleiner wird. Wie beim Stadtrat ist es auch bei ihnen mehr die Hoffnung als die Gewissheit, die bei diesem Vorstoss überwiegt.
- Besuch der Medienkonferenz
- Medienmitteilung der Stadt Luzern
- Persönliches Gespräch mit Samia Baghdadi, Francesca und Finn
- Schriftlicher Austausch mit Carmen Holdener
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