Günstigere ÖV-Tickets: Was Luzern von Genf lernen kann
Flächendeckende Preissenkungen im Genfer ÖV haben zu einem deutlichen Zuwachs der Passagiere geführt. Trotzdem zeigt man sich beim Luzerner Tarifverbund skeptisch gegenüber günstigeren Preisen.
Bis heute ist die Massnahme einmalig geblieben. 2013 hat die Genfer Stimmbevölkerung eine Volksinitiative für günstigere ÖV-Tickets angenommen. Somit wurden die ÖV-Preise im Gesetz festgehalten. Sowas gab es in der Schweiz noch nie.
Die Massnahme ist nicht nur deshalb spektakulär, sondern auch, weil sie im Dezember 2014 flächendeckende Preissenkungen bewirkte – und zwar deutliche. Ein Langstreckenbillet im Genfer Tarifverbund kostete nach der Abstimmung 3 anstatt 3.50 Franken und der Preis für das Jahresabo für Erwachsene wurde von 700 auf 500 Franken gesenkt.
ÖV-Nachfrage in Genf nimmt deutlich zu
Das sind nicht nur für Genfer Passagiere paradiesische Zustände, sondern auch für die Wissenschaft. Denn in Genf lässt sich an einem konkreten Beispiel auswerten, welchen Effekt Preissenkungen im ÖV auf die Nachfrage haben.
«Nach der Preissenkung hat die Nachfrage im Genfer Tarifverbund um rund 10 Prozent zugenommen.»
Hannes Wallimann, Wissenschaftler Hochschule Luzern
Das Kompetenzzentrum für Mobilität der Hochschule Luzern (HSLU) hat sich dieser Frage angenommen. Im Sommer dieses Jahres hat das Team rund um Hannes Wallimann die Resultate veröffentlicht – und war erstaunt: «Nach der Preissenkung hat die Nachfrage im Genfer Tarifverbund um rund 10 Prozent zugenommen. Das ist mehr, als wir erwartet hätten», sagt Wallimann. Der Grund für die Überraschung: Herr und Frau Schweizer reagieren allgemein nicht besonders sensitiv auf preisliche Veränderungen.
Für die Studie hat Wallimann die Entwicklung der Genfer Passagierzahlen bereinigt, sprich: Das allgemeine Wachstum des ÖV oder der Ausbau des Streckennetzes sind berücksichtigt. Die gestiegene Nachfrage von über zehn Prozent sollte demnach nur auf die Preissenkung zurückzuführen sein.
Genf ist ein Einzelfall
Müssten angesichts dieser Resultate nicht alle ÖV-Unternehmen und Kantone mit grossen Augen nach Genf schauen und eine Preissenkung in ihrer Region prüfen? Zumal der Ausbau des öffentlichen Verkehrs im ganzen Land eines der grossen Mobilitätsziele für die kommenden Jahrzehnte ist. Doch Wallimann rät zur Vorsicht. Die Studie lasse sich – wie so oft bei Fallstudien – nur bedingt verallgemeinern.
Der ÖV-Anteil in Genf war vor der Preissenkung im schweizerischen Vergleich relativ klein. Das Wachstumspotenzial war demnach grösser als in Kantonen, wo der ÖV häufiger genutzt wird. «Womöglich liegt bei den Zahlen ein Aufholeffekt vor», stellt Wallimann klar. «Wir haben zudem nicht gemessen, ob die zusätzlichen Passagiere vom Auto auf den ÖV umgestiegen sind. Das wäre ja grundsätzlich das Ziel einer ÖV-Förderung.»
«Die Studie der HSLU setzt den Schwerpunkt auf die Nachfrageentwicklung und vernachlässigt die Kostenfolgen.»
Luzia Frei, Sprecherin Verkehrsverbund Luzern
Zuletzt betont der HSLU-Forscher das grundsätzliche Problem von Preissenkungen: Was die Passagierin freut, ärgert die ÖV-Unternehmen. So auch in Genf. Für die Einbussen bei den Ticketeinnahmen mussten nämlich die Genfer Verkehrsbetriebe TPG aufkommen. Elf Millionen Franken betrugen die Umsatzeinbussen des Unternehmens wegen der Tarifsenkung. Entsprechend kam es 2017 erneut zur Volksabstimmung. Eine moderate Preissteigerung sollte das Loch in der Kasse der TPG stopfen. Doch die Bevölkerung lehnte die Vorlage ab und zementierte damit die Tiefpreispolitik.
Preissenkungen sind eine politische Frage
Auf diesen Punkt macht auch Mediensprecherin Luzia Frei vom Luzerner Verkehrsverbund VVL aufmerksam: «Die Studie der HSLU setzt den Schwerpunkt auf die Nachfrageentwicklung und vernachlässigt die Kostenfolgen.» Flächendeckende Preissenkungen würden zu Verlusten führen. Für diese müsste letztlich der Kanton aufkommen. «Somit steigt bei einer flächendeckenden Tarifsenkung der Finanzierungsanteil, der durch die öffentliche Hand übernommen werden muss.» Das wiederum widerspreche der gesetzlichen Grundlage, wonach die Kosten des ÖV zu einem angemessenen Teil durch die Passagiere gedeckt werden sollen.
Dessen ist sich auch Hannes Wallimann bewusst. Er betont deshalb: «Preissenkungen im ÖV sind vor allem eine politische Frage.» Die Kantone müssten bereit sein, für die finanziellen Einbussen aufzukommen.
«Die Nachfrage ist ein wichtiger Faktor bei der ÖV-Förderung. Ebenso wichtig ist aber, dass Büsse und Züge während der Stosszeiten nicht überlastet sind.»
Hannes Wallimann, Wissenschaftler Hochschule Luzern
Gerade beim VVL ist das aber eine komplizierte Angelegenheit, da dieser Teil des Tarifverbunds «Passepartout» ist, der sich über die Kantone Luzern, Ob- und Nidwalden, Zug und Aargau erstreckt. Hier eine politische Einigung zu finden, ist fast unmöglich. Darum hält Wallimann fest: «Flächendeckende Preissenkungen müssten vom Bund festgelegt werden. Dass sich die Kantone politisch einigen, ist unwahrscheinlich.»
Lehren aus dem 9-Euro-Ticket
Dass günstige Tickets einen positiven Effekt auf die Nachfrage haben, zeigt sich nicht nur in Genf. Auch der Blick auf unseren nördlichen Nachbarn Deutschland belegt das diesen Sommer. Das 9-Euro-Ticket, sozusagen ein GA für den gesamten deutschen Regionalverkehr, hat voll eingeschlagen. Allein im Juni haben 30 Millionen Menschen vom günstigen Ticket profitiert. Doch auch dieses Experiment ist mit horrenden Kosten verbunden. Die Staatskasse belastet das 9-Euro-Ticket, das es nur während der Sommermonate Juni, Juli und August gibt, mit 2,5 Milliarden Euro.
Trotz der riesigen Nachfrage würde Wallimann das 9-Euro-Ticket nicht als vollen Erfolg bezeichnen. «Die Nachfrage ist ein wichtiger Faktor bei der ÖV-Förderung. Ebenso wichtig ist aber, dass Busse und Züge während der Stosszeiten nicht überlastet sind. Und dort stiess der deutsche ÖV in den letzten Wochen an seine Grenzen.» Überlastetes Bahnpersonal und verspätete Züge – auch aufgrund der limitierten Infrastruktur – seien die Folgen.
Nebst dem Fahrpreis tragen auch die Pünktlichkeit und der Komfort zur Qualität einer ÖV-Reise bei. «Diese Faktoren sind nicht mehr gegeben, wenn der ÖV in den Stosszeiten völlig überlastet ist», sagt Wallimann. Und unter diesen Bedingungen sei es schwierig, langfristig neue Personen für den öffentlichen Verkehr zu gewinnen.
Das Potenzial von Sparbilletten
Der Forscher schlägt darum eine zweite Massnahme vor, welche die Nachfrage im ÖV positiv beeinflusst: Sparbillette, damit sich die Passagiere bester über den Tag verteilen und nicht alle zu den Stosszeiten im Bus und Zug sitzen.
Hier ist die Zentralschweiz Pionierin. Als erster Tarifverbund in der Schweiz überhaupt hat Passepartout auf mehreren Strecken Sparbillette eingeführt (zentralplus berichtete). Wie VVL-Sprecherin Luzia Frei bestätigt, «um eine gezielte Tarifsenkung ausserhalb der Hauptverkehrszeiten vorzunehmen».
Andere preissenkende Massnahmen hat der VVL zurzeit nicht vorgesehen. Stattdessen will er den Luzerner ÖV unter anderem mit optimierten Anschlüssen und vereinfachten Umsteigemöglichkeiten beliebter machen. «Der VVL möchte Kundinnen und Kunden mit attraktiven Angeboten auf den ÖV zurückholen und mit gezielten Massnahmen eine Nachfragesteigerung erreichen», ergänzt Frei.
Auch wenn dies kaum zu einem Anstieg der Nachfrage um zehn Prozent führen dürfte.
- Persönliches Gespräch mit Hannes Wallimann
- Schriftlicher Austausch mit Luzia Frei
- Artikel von SRF
- Artikel der deutschen «Tagesschau»
- Infos zur Studie der HSLU