Messerangriff an der Baselstrasse

Verhandlung vor Kriminalgericht – nur wo der Täter ist, weiss niemand

Die Luzerner Baselstrasse in der Nacht. (Bild: zvg/Hugofilm)

In einer Dezembernacht im Jahr 2016 bot die Baselstrasse ein grausiges Bild: Eine Blutspur verlief quer über die Fahrbahn. Was war passiert? Diese Frage versuchte das Kriminalgericht nun zu klären.

Als die Polizei in jener Nacht in der Baselstrasse in Luzern eintraf, stiess sie auf drei verletzte Männer. Einer hatte einen 1,5 Zentimeter tiefen Schnitt im Gesicht, der zweite mehrere Verletzungen am Hals und der dritte blutete an der Hand.

Die ersten beiden warfen dem Dritten vor, auf sie eingestochen zu haben. Er habe sie töten wollen.

Der Tat voraus ging ein massiver Familienstreit. Die drei ungefähr gleichaltrigen Verwandten – zwei waren Cousins, einer ein Grosscousin – beschimpften sich über Whatsapp aufs Gröbste. Irgendwann riss bei den beiden späteren Opfern der Geduldsfaden. Sie setzten sich in den Zug und fuhren von Zürich nach Luzern, um den Dritten zur Rede zu stellen.

Dieser war zu dem Zeitpunkt zusammen mit seinen beiden Kindern und seiner hochschwangeren Frau zu Hause in der Baselstrasse. Plötzlich hörte er durch das offene Fenster die Stimmen seiner Cousins. Er schnappte sich sein Schweizer Sackmesser und ging runter auf die Strasse. Er habe sich und seine Familie verteidigen wollen, sagte er später.

Was danach passiert ist – dazu gibt es widersprüchliche Aussagen. Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass der Familienvater seine Verwandten mit dem Messer angegriffen hat und sie töten wollte. Kraftvoll und kontrolliert habe er zugestochen.

Nur um Zentimeter hätte er die Halsschlagader eines seiner Opfer verfehlt. Das Kriminalgericht soll ihn deshalb wegen mehrfacher versuchter vorsätzlicher Tötung zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilen. Zudem müsse er für 12 Jahre des Landes verwiesen werden.

Motiv, Vorgeschichte, Lebenssituation – alles unklar

Die Gerichtsverhandlung an diesem Mittwoch dauert keine zwei Stunden. Der Grund: Der Beschuldigte selber kommt gar nicht zu Wort. Er wurde bereits 2017 nach Afghanistan ausgeschafft.

Sein Pflichtverteidiger ist damit in der schwierigen Lage, seinen Mandanten vertreten zu müssen, ohne dass er sich mit ihm absprechen konnte. Eine absurde Situation. Eine, in der die Rechte der Beschuldigten nicht gewahrt werden können, findet der Verteidiger.

Denn vieles bleibt auch in der Gerichtsverhandlung im Dunkeln. Was war der Grund für den Familienstreit, der aus dem Ruder gelaufen ist? Und warum sind die beiden Männer extra nach Luzern gefahren, wenn sie doch angeblich Angst hatten vor dem Beschuldigten?

Ein Gericht hat bei der Strafzumessung auch die Lebenssituation und die Vorgeschichte der Beschuldigten zu beurteilen. Im vorliegenden Fall weiss man darüber kaum etwas. Die Behörden wissen nicht, wo er ist. Seit der Mann ausgeschafft wurde, hat er sich auch bei seiner Ehefrau und den drei Kindern nicht mehr gemeldet.

Seine Schwester hatte nur einmal telefonischen Kontakt, seit zwei Jahren herrscht absolute Funkstille. Warum? Der Verteidiger vermutet, dass sein Mandant nicht mehr lebt. Wird hier also gerade ein Verfahren gegen einen Toten geführt?

Zweimal flüchtete er in die Schweiz

Die Lebensgeschichte des Mannes legt aus Sicht der Verteidigung die Vermutung nahe, dass er sich selber das Leben genommen haben könnte. Geboren wurde der Mann 1996 in der Nähe von Kabul als Sohn eines Übersetzers, der die meiste Zeit unterwegs war.

Trotz Unschuldsvermutung ausgeschafft – wie geht das?
Grundsätzlich gilt ein Mensch so lange als unschuldig, bis er für rechtskräftig verurteilt worden ist. Ein laufendes Strafverfahren darf nicht zum Anlass genommen werden, eine Person in ihr Heimatland zurück zu schaffen. Wie kann es sein, dass der Mann im vorliegenden Fall das Land verlassen musste, bevor die Gerichtsverhandlung stattfand? Hintergrund ist, dass gegen den Beschuldigten nach einer ersten illegalen Einreise in die Schweiz ein Einreiseverbot verhängt wurde. Trotzdem kam er mit seiner Familie zurück und stellte hier einen Asylantrag. Während des Asylverfahrens hatte die Familie grundsätzlich ein Anwesenheitsrecht in der Schweiz. Der Mann hielt sich demnach zwar nicht illegal in der Schweiz auf, war aber illegal eingereist. Nach Angaben des Verteidigers entschied das Luzerner Amt für Migration deshalb, seinen Mandanten wegen des unbestrittenen Verstosses gegen das Einreiseverbots auszuschaffen. Seine Ehefrau und die drei Kinder waren von diesem Entscheid nicht betroffen. Der Verteidiger des Beschuldigten geht davon aus, dass sie sich noch immer in der Schweiz befinden.

Als Dreijähriger wurde er von seiner Mutter fallen gelassen und fiel mehrere Meter tief. Seither hatte er gesundheitliche Probleme. Der Onkel des Jungen war das Familienoberhaupt. Dieser misshandelte den Buben und liess ihn für sich arbeiten.

Drei Jahre besuchte er die Schule, bevor diese angegriffen wurde. Der Junge musste mitansehen, wie mehrere seiner Mitschüler getötet wurden. Mit 15 Jahren wurde er verheiratet, seine Eltern hatten die Ehe arrangiert.

Ab 2014 wurde die Familie in Afghanistan wegen der Übersetzungsarbeit des Vaters für die Amerikaner zunehmend angefeindet. Man beschloss, zu fliehen. Doch die Reise von der Türkei übers Mittelmeer nach Griechenland überlebten die Eltern des Beschuldigten nicht. Ihm selber gelang es, in die Schweiz zu kommen. Er bekam aber kein Asyl, sondern wurde wegen rechtswidriger Einreise verurteilt und zurückgeschafft.

Der Beschuldigte und seine Frau versuchten es ein zweites Mal. Über die Türkei, Mazedonien und Serbien gelangten sie über Deutschland wieder in die Schweiz, wo die Schwester des Beschuldigten lebt.

Suizidversuch im Gefängnis

Als ihm nach der Tat im Untersuchungsgefängnis mitgeteilt wurde, dass er erneut ausgeschafft werden sollte, beging der Mann einen Suizidversuch. Er schnitt sich in den Hals und die Arme und zündete in der Zelle seine Kleidung an.

Vor der Abschiebung bewahrte ihn das nicht. Der Verteidiger glaubt, dass er deshalb Suizid beging. Anders sei nicht zu erklären, weshalb er sich nicht mehr bei seiner Familie melde. Ähnlich habe auch der Cousin auf einen Abschiebungsversuch reagiert: Er hatte sich einige Zeit vor der Tat aus dem vierten Stock eines Gebäudes gestürzt.

Tote können nicht verurteilt werden. Einen Beweis für den Tod des Mannes gibt es aber nicht. Sonst hätte die Gerichtsverhandlung abgebrochen werden müssen. Der Verteidiger versuchte deshalb während des Prozesses, die Tat in einem anderen Licht darzustellen.

Angriff oder Verteidigung?

Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass der Beschuldigte den ersten seiner Verwandten mit dem Messer ins Gesicht geschnitten hat. Der zweite habe zu flüchten versucht, sei aber vom Beschuldigten eingeholt worden. Von hinten habe er sein Opfer angegriffen und in den Hals gestochen.

Das stimme aber nicht mit der Spurenlage überein, machte der Verteidiger geltend. Es sei vielmehr so gewesen: Das Opfer sei auf seinen Mandanten losgegangen und bei diesem Handgemenge sei das Messer zum Einsatz gekommen.

Erst danach sei der andere geflohen. Anders lasse sich die Blutspur über die Baselstrasse nicht erklären. Sein Mandant habe aber nie die Absicht gehabt, seinen Gegner zu töten. Er habe nicht zugestochen, die Verletzungen seien lediglich oberflächliche Schnitte.

Der Verteidiger fordert eine Verurteilung wegen einfacher Körperverletzung mit einem gefährlichen Gegenstand und der Sachbeschädigung durch das entfachte Feuer in der Untersuchungshaft. Dafür sei er mit einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten zu verurteilen. Auf einen Landesverweis sei zu verzichten.

Das Urteil wird den Parteien schriftlich zugestellt. zentralplus wird darüber berichten.

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