Interview mit Luzerner Gewaltexperten

«Vergewaltiger gehen sehr strukturiert vor»

Dort, wo die schreckliche Tat in Emmen geschah, hängt heute ein Aufruf der Polizei, die immer noch nach dem Täter sucht. (Bild: bra)

Was für ein Mann steckt hinter einem Verbrechen, wie es in Emmen geschah? Wer ist zu so etwas fähig? Der Luzerner Gewaltberater Thomas Jost hat seit Jahren mit gewalttätigen Männern zu tun. Für ihn ist klar: Das Verbrechen war kein Zufall, sondern von langer Hand geplant.

Die Solidaritätskundgebung vom Samstag hat eindrücklich gezeigt, dass die brutale Vergewaltigung in Emmen noch immer bewegt. Vom Täter gibt es – zumindest offiziell – nach wie vor keine Spur. Die Gewalttat löst Wut, Verzweiflung, aber auch Ohnmacht und Unverständnis aus. Was treibt einen Menschen zu so einer Tat, was ist sein Motiv? Der Fall wirft auch die Frage nach der Männergewalt aus: Warum sind es immer wieder sie, die anderen Menschen solches Leid antun? Thomas Jost kennt gewalttätige Männer durch seine Arbeit als Gewaltberater. Er weiss, was in ihnen vorgeht und was gegen ihre Neigung getan werden kann.

zentral+: Wer macht so etwas, wie es in Emmen geschehen ist?

Thomas Jost: Zuerst muss ich sagen, dass sexualisierte Gewalt die Menschen besonders bewegt und beschäftigt. Leider ist sie weit verbreitet und findet am häufigsten im familiären Umfeld oder Bekanntenkreis statt. Fast jeder kennt in seinem Bekannten- oder Verwandtenkreis einen Fall von sexualisierter Gewalt. Bei einem Vorfall wie in Emmen, wo es ein fremder Täter ist, der äusserst brutal vorgeht, ist die Ohnmacht besonders gross.

zentral+:  Wie kommt ein Mann dazu, so etwas zu tun?

Die Hälfte kommt freiwillig

272 Männer und Jugendliche haben in den letzten zwei Jahren das Beratungsangebot von Agredis in Anspruch genommen. Die Fach- und Beratungsstelle für häusliche Gewalt in Luzern hat acht Gewaltberater, welche in 2'000 Beratungsstunden mit gewalttätigen Männern arbeiteten. Mehr als die Hälfte der Männer besuchen die Beratungen freiwillig (für sie kostet eine Stunde 100 Franken), die anderen werden von der Justiz oder den Behörden und Heimen zugewiesen.

Die Beratungstelle in Luzern gibt es seit 15 Jahren. Die Zahl der Beratungen ist in den letzten Jahren deutlich gestiegen. Die zeige nicht nur die Notwendigkeit, sondern auch die gewachsene Akzeptanz der Täterarbeit, schreibt Agredis in einer Mitteilung. Täterarbeit sei präventiver Opferschutz, betonen die Gewaltberater. Agredis arbeitet eng mit der Opferberatung zusammen.

Auf den 1. Juni hat Agredis-Präsident Roland Reisewitz die Aufgabe des Geschäftsleiters an Thomas Jost übergeben. (www.agredis.ch, Gewalt-Hotline: 078 744 88 88)

Jost: Sexualstraftäter, wie ich sie hier in der Therapie erlebe, gehen immer sehr strukturiert vor.

zentral+: Wie meinen Sie das?

Jost: Der Täter ist nicht jemand, der zu viel getrunken hat und dann aus einem Affekt heraus handelt. Dahinter steckt immer eine mehr oder weniger lange Geschichte.

zentral+: Was muss geschehen, damit es so weit kommt?

Jost: Oft gibt es verschiedene Auslöser: Beziehungsunfähigkeit, Probleme mit der eigenen Männlichkeit und dem Umgang mit Macht, soziale Schwierigkeiten, fehlende Empathie. Mit der Zeit beginnt die Person, Schritt für Schritt, Grenzen zu überschreiten. Am Anfang ist es vielleicht eine Berührung, die das Gegenüber nicht will oder eine Anzüglichkeit. Mit der Zeit entwickelt der Mann eine Art Röntgenblick. Die Fantasie einer gewalthaften Lustbefriedigung wird zur fixen Idee. Nach und nach werden immer höhere Schwellen überschritten.

zentral+: Was für ein Frauenbild haben solche Täter?

Jost: Die eigenen Wertvorstellungen und die Grenzen werden sukzessive heruntergesetzt. Manche Männer sagen mir in der Therapie, dass die Frauen es ja auch so wollten. Oft wird argumentiert, dass es im Internet Hunderttausende von Frauen gebe, die sich anbieten. Die Wahrnehmung verschiebt sich immer mehr. Jeder Gewalttäter hat eine Geschichte, die bis zu einem bestimmten Punkt geht, wo er entscheidet: Jetzt mache ich das. Wie gesagt, hat er vorher schon Schwellen und innere Grenzen überschritten. Das geht dann immer so weiter und immer näher zur Fantasie: Jetzt versuche ich das mal. Gut möglich, dass der Täter das Opfer schon länger beobachtet und alles genau geplant hat.

zentral+: Der Täter von Emmen läuft immer noch frei herum. Wird er wieder Verbrechen begehen?

«Der Sexualtäter ist nicht jemand, der zu viel getrunken hat und dann aus einem Affekt heraus handelt. Dahinter steckt immer eine mehr oder weniger lange Geschichte.»

Thomas Jost, Gewaltberater

Jost: Es war definitiv nicht das letzte Mal, dass diese Person gewalttätig wird. Solche Männer können nicht einfach aufhören, sie sind an einem Punkt angelangt, wo jegliche Einsicht fehlt. Sie können nur noch durch die gesetzliche Gewalt gestoppt werden. Ich nehme an, dass der Täter eine Vorgeschichte hat mit kleineren Delikten, mit weniger brutalen Taten. Klar ist, dass dieser Mann eine Gefahr darstellt für die Gesellschaft.

zentral+: Wie weit ist Gewalt im häuslichen Umfeld verbreitet?

Jost: Es gibt ein Bild, das ich sehr treffend finde: Wenn in allen Wohnungen Licht brennen würde, in denen Gewalt angewendet wird, dann wäre es sehr hell in der Stadt. Wobei für mich Gewalt nicht nur auf Schläge und physische Misshandlungen zu reduzieren ist. Sie fängt schon früher an – in der Mimik, in Gesten, herablassenden Worten, Beleidigungen, ständigen Vorwürfen.

zentral+: Ein Verbrechen, wie es in Emmen geschah, ist zum Glück relativ selten. Sie arbeiten seit Jahren mit Männern, welche vor allem in ihrem Umfeld gewalttätig wurden. Hat die Gewalt generell zugenommen in den letzten Jahren?

Jost: Solche schrecklichen Vorfälle hat es schon immer gegeben. Sicher ist auch, dass die Dunkelziffer vor allem bei Sexualdelikten auch heute noch sehr gross ist. Aus meiner Sicht hat die Zahl von Gewalttaten im Raum Luzern nicht abgenommen.

zentral+:  Warum ist das so?

Jost: Es gibt allgemeine Phänomene, die sicher einen Einfluss haben. So stehen wir etwa immer mehr unter Druck, viele Leute haben fianzielle Schwierigkeiten und familiäre Sorgen. Hinzu kommt noch der Zeitgeist, der uns vorschreibt, immer mehr zu besitzen, noch aktiver unsere Freizeit zu gestalten und beruflich noch mehr zu leisten. Das stresst immer mehr Menschen – und das ist Gift für unsere Gesellschaft. Gleichzeitig stellen wir fest, dass es vermehrt Menschen gibt, die nicht mit Konflikten umgehen können.

Gewaltberater Thomas Jost hat in den letzten Jahren mit vielen Männern zu tun gehabt, die sexuelle Gewalt anwenden.

Gewaltberater Thomas Jost hat in den letzten Jahren mit vielen Männern zu tun gehabt, die sexuelle Gewalt anwenden.

(Bild: rob)

zentral+:  Stammen gewalttätige Männer vor allem aus der Unterschicht?

Jost: Es sind oft sozial schwächere Menschen, aber es gibt auch Männer aus der Mittel- und Oberschicht, die Gewalt anwenden. Sie kommen aus allen sozialen Schichten.

zentral+: Wie viele Familien sind betroffen?

Jost: Manche reden von mehr als einem Drittel.

zentral+: So viele? Das ist wohl übertrieben.

Jost: Woher kommen die vielen Scheidungen? Es gibt leider zahlreiche Familien, in denen es aggressiv und sehr gereizt zu und her geht. Wenn dann noch die Kompetenz fehlt, wie man streitet, wird es problematisch. Dann kommt nicht selten das Phänomen vom Kübel, dem es den Deckel «lupft» zum Tragen. Jeder Streit eskaliert, jeder noch so kleine Zwist wird von der Mücke zum Elefanten.

zentral+:  Was für Männer kommen zu Ihnen?

«Jeder Gewalttäter hat eine Geschichte, die bis zu einem bestimmten Punkt geht, wo er entscheidet: Jetzt mache ich das.»

Jost: Zum ersten sind es Männer, die vielleicht einmal ausgerastet sind, ihre Frau in einem Wutanfall gepackt und aufs Sofa geknallt haben. Eine weitere Gruppe sind Männer, die schon mehrfach verbale Ausraster hatten, im Stile von: Ich bringe dich um und ähnliches. Die dritte Kategorie sind solche, die bereits massiv gewalttätig geworden sind und die zum Teil bereits in gerichtlichen Verfahren stecken.

zentral+: Wie bringen Sie diese Menschen dazu, ihr Verhalten zu ändern?

Jost: Wichtig ist erst mal, nicht die Person, sondern ihr Verhalten zu verurteilen. Bei jedem Mann gibt es immer eine Geschichte bis zu dem Punkt, wo er sich entscheidet, Gewalt auszuüben. Wäre es nicht so, dann wäre eine psychische Krankheit dahinter.

zentral+: Heisst es nicht oft, dass man im Affekt gehandelt hat?

Jost: Das ist falsch, die Männer haben sich dazu entschieden. Bei diesem bewussten Entscheid setzen wir an. In Rollenspielen lernen die Männer, ihre Gefühle zu erkennen, damit sie eine Eskalation abwenden können. Sie müssen eine Sprache haben, um aus dem Gewaltmuster auszusteigen.

zentral+: Wie sieht diese aus?

Jost:  Das Wort «ich» ist entscheidend: Ich sehe, was jetzt gerade passiert; Ich denke, dass wir wieder bei einem Thema gelandet sind, bei dem wir nicht weiter kommen; Ich fühle, dass in mir wieder eine Ohnmacht und Wut aufsteigt – etwa so müssen die Männer lernen, eine Sprache zu finden. Und sie müssen eine Selbstsicherheit entwickeln, die sie befähigt, mit Konflikten umzugehen. Gewalttätige Männer haben eine riesige Angst vor Konflikten.

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