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Aufgrund des konstant schönen Wetters beginnen in der Zentralschweiz hier und dort Apfel- und Birnbäume zu blühen. Auch Vögel hört man fröhlich zwitschern. Ist die Natur völlig durcheinander? Fachleute geben Entwarnung. Zugvögel hätten jedoch ein anderes Problem.
Die Sonne scheint, den Menschen freut’s, er unternimmt Velofährtli durch die Natur, Blueschtfährtli durch Felder mit blühenden Apfelbäumen, auf denen die Vögel zwitschern. Ein wenig jucken die Augen, Gräserpollen machen sich leicht bemerkbar. «Ach, Frühling», denkt er sich, um dann zu merken, dass ja eigentlich Herbst ist. Die Wollmütze noch in der Sommerpause, die Kerzen verstaut, das Tee-Assortiment kaum angetastet. Was ist denn da los?
Tatsächlich beobachten aufmerksame Zugerinnen, dass an den Birn- und Apfelbäumen im Moment mancherorts nicht nur pralle Früchte hängen, sondern auch Blüten zu sehen sind. Das bestätigt auch Philipp Hotz, Landwirt und Betriebsleiter des Hofmärcht in Baar.
«Es stimmt, dass es aktuell einige Bäume gibt, die vereinzelt Blüten tragen», sagt Hotz, um dann zu ergänzen: «Es ist jedoch nicht so, dass wir dieses Phänomen nicht auch aus anderen Jahren kennen. Gerade die Williams-Birne treibt regelmässig im Herbst noch einmal Blüten.» Auch bei Apfelbäumen komme das vor, wenn auch eher selten.
Ein hübsches, aber nicht weiter tragisches Phänomen
Schlimm sei dieses Phänomen jedoch nicht, beteuert Hotz. «Im späteren Herbst werden kleinere Früchte abfallen. Das führt jedoch nicht zu Einbussen im nächsten Jahr.» Der trockene und sonnige Herbst ist für die Obstbauern viel eher ein Segen. «Das hilft uns bei der Ernte sehr, wir kommen speditiv voran und sind verhältnismässig früh dran», sagt Hotz. «Ausserdem ist der Wasserbedarf der Pflanzen nun kleiner, und durch den Morgentau erhalten die Bäume trotz der Trockenheit etwas Feuchtigkeit.»
Auch mit der Weinlese sei man beinah fertig. «Am Freitag lesen wir die letzten Trauben. Es wird wohl noch eine halbe Tonne geben», sagt Hotz, der dank des trockenen Sommers ein gutes Weinjahr verbuchen kann.
«Der Gesang der Vögel wird durch Hormone gesteuert, die von der Tageslänge abhängig sind.»
Livio Rey, Naturschutzbiologe bei der Vogelwarte Sempach
Doch nicht nur die Pflanzenwelt macht derzeit Faxen. Wer gut hinhört, merkt, dass auch die Vögel derzeit ausgiebig pfeifen. Sind sie etwa schon wieder auf Partnersuche? Verwechseln sie den Herbst mit dem Frühling?
Der Naturschutzbiologe Livio Rey von der Vogelwarte Sempach gibt Entwarnung: «Nein, die Vögel sind nicht durcheinander. Es ist eine Tatsache, dass es im Herbst eine Periode gibt, in der die Vögel noch einmal singen.» Rey nennt denn auch sogleich den Hintergrund dieses Phänomens: «Der Gesang der Vögel wird durch Hormone gesteuert, die von der Tageslänge abhängig sind. Und im Moment ist diese ähnlich wie im Frühling.» Allein deshalb komme es jedoch nicht zu einer erneuten Brutzeit, da andere Faktoren um diese Jahreszeit wegfallen würden.
Das Rotkehlchen singt das ganze Jahr
Es gebe gar gefiederte Freunde, die während des ganzen Jahrs sängen, erklärt der Fachmann. «So etwa das Rotkehlchen. Sein Gesang hat zwei Funktionen. Im Winter geht es darum, das eigene Revier zu verteidigen, im Frühling, Partner anzulocken.»
Ornithologinnen haben hingegen in den letzten Jahren andere Beobachtungen gemacht, die ihnen Sorgen bereiten. «Wir teilen die Zugvögel vereinfacht in zwei Kategorien ein: die Kurzstrecken- und die Langstreckenzieher. Während Erstere nur bis ins südliche Europa reisen, fliegen Langstreckenzieher bis in Gegenden südlich der Sahara», erklärt Rey.
Frühe Frühlinge machen den Zugvögeln zu schaffen
«Die Veränderungen des Klimas haben vor allem auf die Langstreckenzieher einen Einfluss. Wenn der Herbst so warm ist wie jetzt, hat das zwar kaum einen Effekt, denn die Vögel sind bereits seit Wochen weg. Anders ist es, wenn der Frühling in der Schweiz früher beginnt. Dann sind die Vögel zwar noch nicht aus Afrika zurückgekehrt, der Laubaustrieb hat aber schon begonnen, und Insektenlarven sind bereits aktiv.»
Die Vögel würden demnach das Nahrungsmaximum verpassen, weshalb es schwieriger für sie werde, ihre Jungen zu ernähren. «Ausserdem machen den Tieren Dürren und Lebensraumzerstörung in den Rastgebieten zu schaffen. Das ist ein Problem», so der Biologe.
Keine Zunahme bei den Schwalben, trotz starker Förderung
Die Zerstörung von Lebensraum nennt Rey auch hierzulande als grösstes Problem für Vögel. «Besonders im Kulturland und in Feuchtgebieten ist der Anteil bedrohter Brutvogelarten hoch. Hier besteht der grösste Handlungsbedarf.» Dazu müssten im Landwirtschaftsgebiet der Einsatz von Dünger und Pestiziden verringert und mehr Biodiversitätsförderflächen, insbesondere im Ackerland, geschaffen werden, erklärt Rey.
Ausserdem müssten Feuchtgebiete genügend nass, gross und störungsfrei sein, um für Vögel als Brut- und Rastgebiet geeignet zu sein. «Von mehr Natur profitieren auch wir Menschen: Dank Blumenwiesen gibt es auch bestäubende Insekten, von denen die Landwirtschaft Nutzen zieht, und genügend nasse Feuchtgebiete helfen dank Kohlenstoffspeicherung gegen den Klimawandel.»
Auch bei den Kurzstreckenziehern beobachten die Experten Veränderungen. «Generell profitieren sie von den wärmeren Wintern hier. Während Rotmilan und Weissstorch früher im Winter gen Süden zogen, bleiben sie heute vermehrt in der Schweiz zum Überwintern» – weil es kaum mehr Schnee gebe und auch der Boden nicht mehr gefroren sei, was die Nahrungssuche der Tiere vereinfache.
- Telefoninterview mit Philipp Hotz
- Mündliches Interview mit Livio Rey von der Vogelwarte Sempach
- Pollenflug-Prognose
- Artikel des «Zofinger Tagblatts»
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