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Am Gütsch herrscht Felssturzgefahr. Ein Experte erklärt gegenüber zentralplus, warum die Behörden nicht alle Risiken fürs Bruchquartier beseitigen können und wie gut die heutige Gesellschaft damit klarkommt.
Die Hänge am Gütsch in der Stadt Luzern sind steil und in einigen Bereichen in ständiger Bewegung. Dass seit vergangenem September von Felssturzgefahr die Rede ist (zentralplus berichtete), erstaunt darum wenig. Schon 2016 drohte ein Felssturz am Gütsch (zentralplus berichtete). Damals war die Sagenmattstrasse gefährdet, heute ist die Gibraltarstrasse im Bruchquartier betroffen. Und als vor über hundert Jahren oberhalb der Baselstrasse der Hang ins Rutschen kam, starben vier Personen (zentralplus berichtete). Mit Verbauungen, Stabilisierungen und Warnsystemen versucht die Stadt Luzern seither, die Gefahr zu minimieren.
Um besser zu verstehen, warum die Behörden dennoch Risiken in Kauf nehmen müssen und ihre Massnahmen nicht jede vom Gütsch ausgehende Gefahr abwehren können, hat sich zentralplus mit Christoph Graf unterhalten. Er ist physischer Geograf und arbeitet für die Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL), welche Teil des ETH-Bereichs ist.
zentralplus: Wieso versieht die Stadt Luzern den Gütsch nicht einfach mit dutzenden oder gar hunderten Warnsystemen, um auf jede Bewegung am Hang sofort reagieren zu können?
Christoph Graf: Warnsysteme verhindern Schäden nur bedingt. Die Infrastruktur bleibt gefährdet.
zentralplus: Was können die Warnsysteme denn verhindern?
Graf: Personen werden bestenfalls genügend rasch informiert und können aus den gefährdeten Standorten flüchten. Verkehrswege – beim Gütsch beispielsweise die SBB-Bahnlinie – können gesperrt werden. Bei sehr raschen Ereignisabfolgen verbleiben aber trotz Warnsystemen Risiken.
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zentralplus: Nebst Warnsystemen könnte man auch mit baulichen Massnahmen versuchen, das Risiko eines Felssturzes am Gütsch flächendeckend zu eliminieren. Wunschdenken?
Graf: Eine umfassende Verbauung und Stabilisierung der Hänge am Gütsch wäre eine sehr teure Massnahme und vermutlich nicht an allen Stellen gleichermassen notwendig.
zentralpus: Bleibt den Behörden nichts anderes übrig, als situativ auf Gefahren zu reagieren?
Graf: Das dürfte die grundsätzliche Strategie sein. Wobei es durchaus sinnvoll ist, präventive Abklärungen durchzuführen. Dies tun die Behörden heute bereits regelmässig.
zentralpus: Bewertet die Bevölkerung Risiken, die von potenziellen Naturkatastrophen ausgehen, heute anders als vor 50 Jahren?
Graf: Das kann man so sehen, wobei die Risikobereitschaft je nach Standort variiert. Auf dem Land sind die Menschen eher an Naturgefahren gewöhnt und nehmen deshalb tendenziell höhere Risiken in Kauf als Stadtmenschen.
zentralplus: Trügt der Eindruck, dass es immer mehr Naturkatastrophen gibt?
Graf: Neben der durch den Klimawandel bedingten Zunahme von gewissen Naturgefahren, etwa ausgelöst oder verstärkt durch intensivere Niederschläge, nimmt auch das Schadenpotenzial zu. Denn es gibt in gefährdeten Zonen immer mehr Menschen und Infrastrukturen. Diese beiden Faktoren zusammen führen zu höheren Risiken für Schäden. Auf der anderen Seite muss angemerkt werden, dass auch Schutzmassnahmen, technische wie organisatorische, und damit das für den Schutz investierte Geld stets zugenommen haben.
zentralplus: Hat die Sensibilität der Gesellschaft im Umgang mit Naturkatastrophen entsprechend zugenommen?
Graf: Die Sensibilität für Naturgefahren im Sinne von Kenntnis über potenzielle Naturgefahren nimmt gemäss meinen Beobachtungen eher ab, das wird von der Gesellschaft oft an Behörden und Experten delegiert. Die Sensibilität gegenüber Ereignissen mit Schadenfolgen hingegen nimmt wegen der raschen und weltweiten Verfügbarkeit von Informationen in Bild, Ton und Text eher zu.
zentralplus: Die Behörden stehen unter Zugzwang.
Graf: Tendenziell nehmen Behörden tatsächlich mehr Verantwortung wahr und müssen ihre Entscheidungen entsprechend begründen, sich über Expertenmeinungen absichern.
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zentralplus: Stehen auch die Expertinnen entsprechend stärker in der Verantwortung?
Graf: Die Experten – beim Gütsch sind dies die von der Stadt beauftragten Geologen – stehen ihrerseits in der Pflicht, ihre Beurteilungen nachvollziehbar und gemäss den geltenden Standards, dem neusten Stand des Wissens vorzunehmen. Klagen, Gegenbeurteilungen et cetera nehmen tendenziell zu. Was wiederum eine solide, vollständige und nachvollziehbare Dokumentation von Entscheidungsprozessen bedingt. Diese Dokumentation ist jedoch sowieso gefordert.
zentralpus: Die Berechnungen eines Bauingenieurs zur Statik eines Gebäudes seien überprüfbar und an Richtlinien gekoppelt, die klar festlegen, wie gross das Restrisiko sein darf, meinte ein Luzerner Geologe gegenüber zentralplus. Die Prognosen einer Geologin hingegen seien oft mit Unsicherheitsfaktoren verbunden.
Graf: Dem ist so. Umso wichtiger ist es, dass Geologen diese Unsicherheiten ausweisen, quantifizieren und begründen. Zum einen fehlen im Naturgefahrenbereich Richtlinien, die so detailliert sind wie im Ingenieurwesen. Zum anderen wird ein natürliches System beurteilt, das eine hohe Komplexität aufweist und von dem nicht alle Faktoren bis ins Detail bekannt sind.
zentralplus: Weswegen – wie auch bezüglich der Felssturzgefahr am Gütsch – gewisse Restrisiken stets bestehen bleiben.
Graf: Leider, ja. Die Aussagen der Expertinnen werden zwar nach bestem Wissen und Gewissen gemacht, sind jedoch mit Unsicherheiten behaftet, sodass die Resultate und Prognosen – je nach Experte – unterschiedlich ausfallen können.
zentralplus: Behörden gehen demnach jedem Hinweis von Expertinnen nach, weil sie im schlimmsten Fall, wenn etwas passieren sollte, den Kopf hinhalten müssten. Gleichzeitig versuchen Experten, bei der Prüfung von Sicherheitsmassnahmen jedes Risiko auszumerzen, weil sie wiederum den Kopf hinhalten müssten, wenn wegen ungenügender Massnahmen jemand zu Schaden käme. Ein Teufelskreis?
Graf: Ich sehe dies mehr als Herausforderung denn als Teufelskreis. Behörden sind gesetzlich verpflichtet, Hinweisen nachzugehen. Einem Hinweis eines Fachexperten, etwa eines Geologen, muss die zuständige Behörde aus meiner Sicht zwingend nachgehen. Ob es dann zu Massnahmen kommt, hängt von der Beurteilung, nötigenfalls wiederum durch Expertinnen begleitet, ab.
zentralplus: Und wie sicher müssen sich Experten – am Gütsch die Geologen – sein, wenn sie Massnahmen empfehlen?
Graf: Massnahmen werden durch Fachexperten so ausgearbeitet, dass die Sicherheit möglichst umfassend gewährleistet ist und das investierte Geld einen möglichst hohen Schutz gewährt. Dabei hat der Schutz von Personen höchste Priorität.
zentralplus: Wie schützen sich Expertinnen vor den Folgen des offenbar nicht eliminierbaren Restrisikos?
Graf: Ein Projekt wird durch die Behörden abgenommen, was die Experten vor einer Strafverfolgung schützt. Ausser sie haben sich nicht an die geltenden Bestimmungen gehalten oder fahrlässig gehandelt. Ich hoffe sehr, dass die Stadt Luzern und die SBB mit ihren beauftragten Fachexperten eine Lösung gefunden haben, die sowohl eine hohe Sicherheit als auch einen sinnvollen Mitteleinsatz gewährleistet.
- Schriftlicher Austausch mit Christoph Graf zur Felssturzgefahr am Gütsch