Luzerner wird wegen 50 Franken durchleuchtet

Überwachungsapparat Migros: Was der orange Riese alles sieht

Check-in beim Migros-Scanner. Doch das Gerät hilft nicht nur den Kunden – sondern dient auch zu deren Überwachung.

(Bild: zvg)

Wer in der Migros beim Self-Scanning nicht alle Produkte erfasst und bezahlt, kann sein blaues Wunder erleben. Dies musste jüngst ein Luzerner erfahren. Auch noch Wochen später verwendet der Detaillist Kameraaufnahmen, Cumulus-Daten und andere Beweismittel, damit der Restbetrag beglichen wird. Beim Konsumentenschutz reagiert man bestürzt – weil das erst der Anfang ist.

Wer in die Migros läuft, wird mit Argusaugen beobachtet. Insbesondere, wenn man mit Cumulus-Karte und Self-Scanning ausgerüstet seine Einkäufe erledigt. Das musste kürzlich ein Luzerner erfahren, als er in einer Zentralschweizer Filiale einkaufte.

Als er den Scanner zurücklegen wollte, wurde er aufgefordert, sich für eine sogenannte vollständige Stichprobe zu melden. Jeder einzelne Artikel des Grosseinkaufs wurde daraufhin von einer Kassiererin kontrolliert. Doch das war erst der Anfang.

Bezahlen oder der Videobeweis kommt

Der Mann wurde anschliessend zum Kundendienst zitiert, wo bereits ein weiterer Migros-Mitarbeiter wartete. Dieser erklärte, dass der Kontrollierte bei einem früheren Einkauf ein Stück Frischfleisch im Wert von rund 50 Franken nicht bezahlt habe. Das geschah zwei Wochen zuvor – und der Migros-Kunde sagt, er habe sich daran gar nicht erinnern können. Er habe das Produkt aus Versehen nicht gescannt. Erst bei der Kontrolle der früheren Auszüge sei ihm das Missgeschick aufgefallen.

«Wir wissen, dass Detailhändler generell einen grossen Überwachungsapparat betreiben.»

Alex von Hettlingen, Sprecher Stiftung für Konsumentenschutz

Freundlich, aber bestimmt erläuterte der Angestellte nun das weitere Prozedere. Der Betroffene: «Es wurden mir zwei Optionen angeboten. Entweder würde ich direkt die ausstehende Rechnung begleichen, oder man könne mir lückenlos nachweisen, dass ich den Artikel nicht bezahlt habe.» Anstandslos habe er die Schuld getilgt – und wollte dennoch wissen, wie denn dieser Nachweis erbracht würde.

Wie der Migros-Verkäufer daraufhin eröffnete, sei die Fleischtheke im Laden mit Kameras einsehbar. Gleichzeitig würden alle gewogenen Güter wie Fleisch, Früchte oder Fisch mit den tatsächlichen Self-Scanning-Rechnungen abgeglichen.

Konsumentenschutz: «Riesiger Überwachungsapparat»

Das Self-Scanning-System ist verbunden mit der persönlichen Cumulus-Karte. In Kombination mit den Kameraaufnahmen, so vermutet der Kunde, kann die Migros unbezahlte Einkäufe bei Frischwaren lückenlos nachweisen. «Der Sicherheitsmitarbeiter muss dafür vermutlich Videoaufnahmen und Benutzerdaten analysieren – ein grosser Aufwand für 50 Franken», zeigt sich der Migros-Kunde überrascht.

Der Angestellte habe eine ganze Liste mit nichtbezahlten Artikeln anderer Kunden vor sich gehabt – es hätten Beträge zwischen 80 Franken und 11 Franken darauf gestanden. Erstaunt sei er gewesen, dass derart ausnahmslos und systematisch Daten gesammelt würden zur Überwachung der eigenen Kunden – inklusive zwei Wochen alter Kameraaufnahmen.

Bei der Stiftung für Konsumentenschutz ist man unterrichtet: «Wir wissen, dass Detailhändler generell einen grossen Überwachungsapparat betreiben», sagt Alex von Hettlingen, Sprecher der Organisation. Viele Kunden seien sich dessen nicht bewusst. Die unverfänglich wirkenden Angebote wie Self-Scanning und Cumulus-Programme könnten im Zusammenspiel letztlich beängstigende Konsequenzen haben, sagt von Hettlingen. «Ein solcher Vorfall fährt natürlich ein. Die Leute vergessen leider, dass über sie nicht nur positive, sondern auch negative Profile erstellt werden.»

Aufnahmen werden über Wochen gespeichert

Dass die Migros zwei Wochen alte Kameraaufnahmen verwendet, um säumige Zahler zu identifizieren, macht hellhörig. Verstösst der Grosskonzern damit nicht gegen den Datenschutz? Auf Nachfrage sagt Cécile Thomi, Leiterin Recht beim Konsumentenschutz: «Videoaufnahmen müssen innert kürzester Zeit gelöscht werden.»

«Unser Video-Überwachungs-Reglement ist mit dem Datenschutzbeauftragten von Cumulus abgestimmt und entspricht den gesetzlichen Anforderungen.»

Rahel Kissel, Migros Luzern

Sachverhalte, die mit der Videoüberwachung erfasst werden, würden im Normalfall sofort oder innerhalb von wenigen Stunden festgestellt. Daher werde von einer maximalen Aufbewahrungsfrist von 24 Stunden ausgegangen. Das ist laut Thomi eine ausreichende Frist, um den verfolgten Zweck zu erfüllen. «Zwei Wochen sind auf jeden Fall viel zu lang.»

Bei der Migros bestätigt man, dass Cumulus-Nummer oder Videoaufnahmen als Hinweise dienen. Das man dabei gesetzliche Vorschriften verletze, sei jedoch nicht der Fall: «Unser Video-Überwachungs-Reglement ist mit dem Datenschutzbeauftragten von Cumulus abgestimmt und entspricht den gesetzlichen Anforderungen», sagt Rahel Kissel, Sprecherin von Migros Luzern. «Bei uns werden Daten automatisch innert Wochenfrist gelöscht.» Wenn jedoch Unregelmässigkeiten festgestellt würden, sichere man die Aufnahmen, damit sie nicht verloren gingen. «Wir benötigen diese für weitere Abklärungen und eine allfällige Beweisführung», erklärt Kissel.

Migros betont grosse Toleranz

Die Migros kontaktiere Kunden nur sehr selten, um eine ausstehende Rechnung für nichtbezahlte Produkte nachträglich zu begleichen. «Wenn Sie es ins Verhältnis mit den 35 Millionen jährlichen Kundenkontakten setzen, die wir bei der Genossenschaft Migros Luzern verzeichnen, ist das ein verschwindend kleiner Anteil», sagt Kissel. Grundsätzlich habe man sehr ehrliche Kunden. Wie viel Schaden genau durch nichtbezahlte Artikel jährlich entstehe, sei nicht zu beziffern.

Das Unternehmen betont, dass Auffälligkeiten in den allerwenigsten Fällen als Diebstahl behandelt würden. «Meistens handelt es sich um ein Versehen der Kundschaft, und wir behandeln dies mit grosser Toleranz. Dabei steht für uns die Begleichung der ausstehenden Zahlung im Vordergrund.
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«Ich persönlich verzichte gerade aus diesem Grund auf Self-Scanning sowie Cumulus- oder Coopkarte.»

Alex von Hettlingen, Sprecher SKS

Doch lohnt sich die umfassende Kontrolle überhaupt für den Detaillisten? Kissel verneint: «Nein, der Aufwand ist grösser als der Ertrag.» Aber die Videoüberwachung habe verschiedene Zielsetzungen: So diene sie auch dem Schutz von Mitarbeitenden und Kunden sowie zur Prävention.

Wie weiter mit dem Datenschutz?

Beim Konsumentenschutz macht man sich dennoch grundsätzliche Sorgen. Für von Hettlingen sind diese Methoden erst der Anfang: «Wir stehen vor einem Zeitalter der Überwachung.» Der Konsumentenschützer empfiehlt letztlich, möglichst datensparsam unterwegs zu sein. «Ich persönlich verzichte gerade aus diesem Grund auf Self-Scanning sowie Cumulus- oder Coopkarte», sagt von Hettlingen.

Dank Kamera-Gesichtserkennung im öffentlichen Raum, die technologisch vorwärtsgetrieben werde, brauche es bald auch gar keine Kundenkarten mehr, um die Identität der Kunden im Laden festzustellen.

Die Detailhändler müssten sich ihre Verantwortung für ihre Datensammelei bewusst machen und die Privatsphäre der Kunden strikt respektieren. Allerdings laufe es laut von Hettlingen letztlich auf die politische Frage hinaus, ob bei Datenschutzgesetzen die Profitabilität der Konzerne oder die Privatsphäre der Konsumenten höhere Priorität erhalte.

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2 Kommentare
  • Profilfoto von Katharina Arnet
    Katharina Arnet, 20.01.2020, 14:15 Uhr

    Wenn alles gescannt und bezahlt wird, hat niemand Probleme. Wer bezahlt die «ungescannten», «versehentlich» miteingekauften Artikel? Alle anderen und dies ist nicht fair.

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  • Profilfoto von Steffi
    Steffi, 10.05.2018, 15:23 Uhr

    Und wo genau ist nun das Problem? Wenn ich in den Bus gehe hat es da Kameras, im Zug hat es Kameras, am Bahnhof hat es Kameras, am Flughafen hat es Kameras, und wenn ich Einkaufen gehe, weiss ich dass es ebenfalls Kameras hat. Dieser Artikel zielt meiner Meinung nach nur auf Täterschutz ab! Ein ehrlicher Kunde hat kein problem damit, dass er gefilmt wird. Und das Beweise aufbewahrt werden ist nicht mehr als Logisch.

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