Sozialhilfe betrogen?

Tumorpatient schrammt an Landesverweis vorbei

Die Beiständin hat für den Mann Sozialhilfe beantragt, obwohl er einen Job gefunden hatte. (Bild: Symbolbild Adobe Stock)

Ein Mann hat eine Beiständin, weil er nicht in der Lage ist, für sich selber zu sorgen. Sie meldet ihn bei der Sozialhilfe an, obwohl er wieder einen Job gefunden hat. Um ein Haar hätte er deswegen die Aufenthaltsbewilligung verloren – obwohl die Staatsanwältin das Verfahren einstellen wollte.

«Ich bin glücklich, dass ich hier leben kann», sagt der Mann, der sich an diesem Nachmittag vor dem Bezirksgericht Luzern verantworten muss. Es ist das einzige Mal, dass er von sich aus etwas sagt. Es fällt ihm offensichtlich schwer, die Fragen des Einzelrichters zu beantworten. Immer mal wieder verliert er den Faden.

Seit mehr als dreissig Jahren lebt der Mann in der Schweiz. Die Schule hat er hier besucht, geboren wurde er im Kosovo. Mit seinem Heimatland verbindet ihn nur noch ein Bruder, mit dem er kaum Kontakt hat.

Das Geld ist längst zurückgezahlt

Trotzdem soll er dorthin zurück, wenn es nach der Luzerner Staatsanwaltschaft geht. Sie wirft dem Autolackierer vor, die Sozialhilfe betrogen zu haben. Seine Beiständin beantragte für ihn im September 2018 beim Sozialamt die Verlängerung der Unterstützung. Ohne dies vorgängig mit dem Betroffenen abgesprochen zu haben, gab sie in dem Gesuch an, dass er keinen Lohn und auch sonst kein Einkommen erziele. In Tat und Wahrheit hatte er zwei Monate zuvor eine neue Stelle angetreten.

Aus diesem Grund erhielt der Mann unrechtmässig rund 2000 Franken pro Monat. Geld, das er in der Zwischenzeit längst zurückbezahlt hat. Er hatte es nicht ausgegeben.

«Er erweckt den Eindruck, als ob er alles hat schlittern lassen. Es ist kein Wille zu erkennen, Verantwortung zu übernehmen.»

Staatsanwältin

Aus Sicht der Staatsanwaltschaft ändert dies nichts daran, dass er sich des Sozialhilfebetrugs schuldig gemacht hat. Er hätte jede Veränderung seiner persönlichen und finanziellen Verhältnisse unaufgefordert melden müssen und habe das auch ganz genau gewusst.

Warum hat er das nicht getan? Das will der Richter wissen. «Ich habe psychische Probleme», antwortet der Beschuldigte kleinlaut. «Ich sage das nicht gerne. Aber es ist so.» Aus diversen Arztberichten geht hervor, dass er an einem Gehirntumor sowie schweren Depressionen leidet. «Ich bin vergesslich», sagt der Mann dazu. Es ist ihm offensichtlich peinlich, über seine Krankheit zu sprechen. Dass der Beschuldigte erst 43 Jahre alt ist, glaubt man kaum. Er wirkt zwanzig Jahre älter.

Staatsanwaltschaft stützt sich auf einen Arztbericht

Die Staatsanwältin hingegen ist überzeugt, dass die gesundheitlichen Probleme nur eine Ausrede sind. Er habe schon einmal gegenüber dem Sozialamt Einnahmen verschwiegen. Der Neurologe des Mannes habe in einem Arztbericht geschrieben, dass es sich nur um einen kleinen Hirntumor handle und die Konzentrationsfähigkeit dadurch nicht eingeschränkt sei.

«Die Fragen wurden vom Arzt mittels Griff zum Diktaphon beantwortet, das Ganze dürfte keine fünf Minuten gedauert haben.»

Verteidiger

«Er erweckt den Eindruck, als ob er alles hat schlittern lassen. Es ist kein Wille zu erkennen, Verantwortung zu übernehmen», so die Staatsanwältin. Der Mann mache zwar psychische Probleme geltend, unternehme aber gar nichts dagegen. Die angemessene Strafe für den Sozialhilfemissbrauch sei eine bedingte Geldstrafe von 50 Tagessätzen à 30 Franken und eine Busse von 400 Franken. Zudem solle der Mann für fünf Jahre des Landes verwiesen werden.

Scharfe Kritik am zuständigen Neurologen

Der Verteidiger zerpflückt in seinem Plädoyer das Schreiben des Neurologen in der Luft. Die Staatsanwaltschaft habe ihn um Auskunft gebeten und «man höre und staune: einen Tag später beantwortete er die Fragen». Das sei definitiv kein Gutachten, auf das sich ein Gericht stützen könne, zumal der Arzt den Mann 2017 zuletzt gesehen hätte. «Diese Fragen wurden mittels einem kurzen Griff zum Diktaphon beantwortet, das Ganze dürfte keine fünf Minuten gedauert haben.»

«Mein Mandant ist kein Partylöwe. Jeder, der zwei Augen im Kopf hat, sieht, dass er Depressionen hat.»

Verteidiger

Der Anwalt legt dem Gericht eine Reihe von ärztlichen Attesten vor. Sie belegen, dass der Mann seit zehn Jahren an Gedächtnisstörungen leidet, 2014 wurde eine chronische Depression diagnostiziert.

Die Luzerner Psychiatrie stellte 2016 bei einer stationären Behandlung ebenfalls Konzentrationsstörungen fest. «Mein Mandant ist kein Partylöwe. Sein Auftritt hier vor Gericht ist nicht gespielt. Jeder, der zwei Augen im Kopf hat, sieht, dass er Depressionen hat», so der Verteidiger.

Der Mann kann nicht für sich selber sorgen

Der zuständige Einzelrichter teilt diese Einschätzung. Der Beschuldigte habe eine Beiständin, weil er nicht in der Lage sei, seine administrativen und finanziellen Angelegenheiten selber zu regeln und mit Behörden und Ämtern zu kommunizieren, heisst es im Urteil.

Er könne seine Angelegenheiten in diesen Bereichen gar nicht selbst besorgen. Es sei deshalb nicht bewiesen, dass der Beschuldigte seine neue Arbeitsstelle vorsätzlich verschwiegen habe. Der Mann wird freigesprochen, womit auch der Landesverweis vom Tisch ist. Der Entscheid ist noch nicht rechtskräftig.

Oberstaatsanwaltschaft bestreitet, dass die Praxis verschärft wurde

Das Urteil dürfte aber kaum überraschen, die Begründung ist nachvollziehbar. Zum einen hat der Mann die Unterstützung nicht selber beantragt hat und zum anderen ist behördlich bekannt, dass er nicht in der Lage ist, sich um derlei Dinge selber zu kümmern.

Dennoch hat die Staatsanwaltschaft Anklage erhoben. Dazu ist sie verpflichtet, wenn aus ihrer Sicht die Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung gleich hoch ist wie ein Freispruch.

«Der Fall Villiger gab uns Anlass, die einzelnen Staatsanwälte für den Spielraum zu sensibilisieren, den sie haben, um ans Gericht zu gelangen.»

Sprecher der Staatsanwaltschaft

Aus dem Kreise der Untersuchungsbehörden ist zu vernehmen, dass die Oberstaatsanwaltschaft im letzten Jahr rigider geworden ist mit der Genehmigung von Einstellungen. Dies nachdem die bisherige Praxis im Zusammenhang mit der Einstellung eines Strafverfahrens gegen den Zuger Sicherheitsdirektor Beat Villiger für öffentliche Kritik gesorgt hatte (zentralplus berichtete).  

«Der Fall Villiger gab uns Anlass, die einzelnen Staatsanwälte für den Spielraum zu sensibilisieren, den sie haben, um ans Gericht zu gelangen», sagt dazu Simon Kopp, Sprecher der Staatsanwaltschaft. Der Fall habe aber keine Auswirkung auf die Anwendungspraxis der Oberstaatsanwaltschaft gehabt.

Einstellungsverfügungen durchlaufen in Luzern das Vieraugenprinzip. Das heisst, sie werden von der Oberstaatsanwaltschaft geprüft, bevor sie verschickt werden. «Wir wenden beim Visieren seit Jahren den gleichen Massstab an und folgen dabei den gesetzlichen Vorgaben», so Kopp. Grundsätzlich könne es sein, dass die interne Fachaufsicht zu einem anderen Schluss kommt als der falluntersuchende Staatsanwalt. «Auch im aktuellen Fall gab es gute Gründe, den Fall gerichtlich beurteilen zu lassen.»

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