Geschäftsleiter der Caritas Luzern tritt zurück

Thomas Thali: «Im Kanton Luzern gibt es 33’000 Armutsbetroffene»

Thomas Thali sitzt im Restaurant Brünig, das die Caritas Luzern bei der Neuorientierung nach dem Verlust des Asylauftrags eröffnet hat. (Bild: Caritas Luzern)

Vor drei Jahren stand Thomas Thali mit der Caritas an einem Scheideweg. Der Entscheidung des Kantons Luzern, der Non-Profit-Organisation die Asylbetreuung zu entziehen, traf die Caritas im Mark. Nach einer Massenentlassung konnte man sich neu positionieren. Nun tritt der 58-Jährige Geschäftsführer ab und fordert von der Politik geänderte Rahmenbedingungen.

Mitte Februar wurde bekannt: Thomas Thali tritt nach elf Jahren an der Spitze der Caritas Luzern auf Ende Mai dieses Jahres ab. Er wird Geschäftsleiter im Kloster Ingenbohl (zentralplus berichtete).

zentralplus: Der Kanton Luzern hat der Caritas Luzern 2016 den Auftrag entzogen, Asylsuchende zu betreuen. Dadurch mussten massiv Stellen abgebaut werden. Wie haben Sie auf diesen Entscheid reagiert?

Thomas Thali: Wir haben ihn sehr bedauert, weil wir eine Aufgabe weitergeben mussten, die wir lange Zeit mit viel Herzblut wahrgenommen hatten. Ausserdem mussten wir viele langjährige Mitarbeitende entlassen. Wir akzeptierten den Entscheid, weil er politisch breit abgestützt war. Die Übergabe an den Kanton hat dann sehr gut funktioniert.

zentralplus: Wie muss man sich eine solche Übergabe vorstellen?

Thali: Wir mussten sämtlichen Mitarbeitenden kündigen. Diese mussten sich beim Kanton auf die offenen Stellen bewerben. Der Kanton hat schliesslich einen Grossteil der Mitarbeitenden weiterbeschäftigt, wodurch das Know-how erhalten blieb.

zentralplus: Apropos Know-how: Heute arbeiten Sie mit dem Kanton im gleichen Gebäude. Ist das Zufall?

Thali: Das ist Zufall. Der Kanton fand damals keine passenden Räumlichkeiten und wir keinen Nachmieter. Letzlich hat aber der Vermieter entschieden, ob der Kanton die Büros erhält.

«Ja, wir haben ein Problem damit. Es wird von uns immer mehr Wirtschaftlichkeit erwartet, aber wir dürfen keine Gewinne erzielen.»

Thomas Thali, abtretender Geschäftsleiter Caritas Luzern

zentralplus: Die Caritas Luzern musste sich 2016 neu orientieren. Ein ähnliches Szenario ist auch beim Schweizerischen Arbeiterhilfswerk zu erwarten (zentralplus berichtete). Was hat sich in Ihrem Business verändert?

Thali: Heute ist kein Auftrag mehr sicher. Es herrscht ein grosser Wettbewerb. Viele Aufträge werden jeweils von Bund, Kanton oder Gemeinden offen über die Amtsblätter ausgeschrieben, worauf sich Firmen und Non-Profit-Organisationen aus dem In- und Ausland bewerben können.

zentralplus: Wie läuft eine solche Submission ab?

Thali: Innert einer relativ kurzen Frist von vier bis sechs Wochen muss ein Bewerbungsdossier erstellt werden. Das ist immer eine grosse Herausforderung. Die Leitungspersonen, unter Beteiligung von Fachleuten aus dem jeweiligen Gebiet und der Kommunikation, sind gefordert, diese Arbeit zusätzlich zum Alltagsgeschäft zu erledigen.

zentralplus: Wettbewerb ist doch gut. Haben Non-Profit-Organisationen ein Problem damit?

Thali: Ja, wir haben ein Problem damit. Es wird von uns immer mehr Wirtschaftlichkeit erwartet, aber wir dürfen keine Gewinne erzielen. Das Risiko liegt einseitig bei uns. Das kann auf die Dauer nicht gutgehen. Kein Unternehmen würde so Aufträge annehmen. Hier sind die Regierung und das Parlament gefordert, ihre Rahmenbedingungen zu überdenken.

zentralplus: Sie haben langjährige Erfahrung in der sozialen und beruflichen Integration von Menschen. Auf welche Punkte muss man dabei besonders achten?

Thali: Man muss jeden Menschen für sich individuell anschauen. Ein junger Asylsuchender kämpft bei der Integration mit anderen Problemen als beispielweise ein 58-jähriger Mann, dem kurz vor der Pension gekündigt wurde und der jetzt auf Stellensuche ist. Letztlich müssen wir aber für beide einen Platz in der Gesellschaft finden.

zentralplus: Wo setzt Ihre Arbeit an?

Thali: Entscheidend ist die soziale Integration. Denn sie ist die Basis für die berufliche Integration. Sie muss dort erfolgen, wo die Menschen wohnen und leben. Häufig ist es aber auch wichtig, dass die Menschen punktuelle Unterstützung durch Beratung, Begleitung oder durch eine Überbrückungshilfe erhalten. Auch die Sprache ist ausschlaggebend für die Integration. Wenn die Menschen die Sprache nicht sprechen, brauchen sie Brückenbauer/innen. Auch dort leisten wir einen Beitrag und stellen interkulturelle Vermittlerinnen zur Verfügung, die den Kontext von Migrantinnen und Migranten besonders gut kennen.  

zentralplus: Wo stehen Sie vier Jahre nach Verlust des Asylauftrags? Wie würden Sie Ihre Rolle aus heutiger Sicht definieren?

Thali: Wir unterstützen Menschen vor allem in ihrer sozialen und beruflichen Integration. Davon betroffen sind nicht zwingend nur Asylsuchende, sondern auch Menschen wie Sie und ich, die manchmal sehr überraschend in die Armut abrutschen.

zentralplus: Ist das Thema Armut in Luzern tabuisiert?

Thali: Tatsächlich gibt es im Kanton Luzern eine hohe Zahl an Armutsbetroffenen. Das hat viel mit fehlender Erwerbsarbeit zu tun. Auch wenn die Zahl der Erwerbslosen tief ist, steigt die Zahl der Personen an, die beruflich nicht mehr integriert werden können. Das zeigen die Zahlen des Bundes. Monatlich werden 2000 bis 3000 Menschen ohne Job ausgesteuert.

zentralplus: Wie viel Arme gibt es in Luzern?

Thali: Im Jahr 2018 hat das Bundesamt für Statistik insgesamt 660'000 Personen verzeichnet, die von Armut betroffen sind. Etwa fünf Prozent davon, also 33'000 Personen, leben im Kanton Luzern. Häufig ist diese Armut aber sehr versteckt.

zentralplus: Was versteht man unter versteckter Armut?

Thali: Das sind Menschen, die zwar nicht obdachlos sind oder verhungern, aber ganz existenzielle Probleme haben. Oft wissen nicht einmal die Nachbarn davon. Solche Menschen müssen für den ganzen Lebensunterhalt – ohne Miete und Krankenkassenkosten – mit weniger als 1000 Franken pro Monat auskommen. Sie haben häufig gesundheitliche Probleme, isolieren sich zunehmend und haben wenig Perspektiven.

zentralplus: Wo setzt die Caritas Luzern an?

Thali: Diese Menschen werden von uns punktuell unterstützt, damit sie weiter selbstständig ihr Leben meistern können. Wir beraten sie u.a. in Geldfragen. Dann kommt es auch vor, dass wir direkt Kontakt mit den Gläubigern aufnehmen und nach einer Lösung suchen.

zentralplus: Welche Möglichkeiten werden von der Caritas Luzern konkret angeboten?

Thali: Armutsbetroffene können im Caritas-Markt Lebensmittel für wenig Geld einkaufen. Ausserdem bietet unsere «KulturLegi» die Möglichkeit, vergünstigt an Kultur- oder Sportanlässen und Bildungskursen teilzunehmen. Das grösste Problem entsteht, wenn die Menschen vereinsamen. Dann entsteht die Gefahr, dass sie psychische Probleme bekommen.

zentralplus: Welche Hilfe können Bürger wie Sie und ich leisten?

Thali: Wir müssen uns bewusst sein, dass der Grat schmal ist und es jeden von uns treffen kann. Persönliche Schicksalsschläge wie beispielsweise eine Scheidung oder eine Krankheit können Menschen aus der Bahn werfen. Entscheidend ist, mit welcher Haltung wir Armutsbetroffenen begegnen. Oft hilft es bereits, wenn man ein Gefühl der Empathie dafür entwickelt, Hilfebedürftige zu erkennen – egal ob im Beruf oder unter Freunden. Wenn sich beispielsweise ein Arbeitskollege dreimal überlegen muss, ob er sich einen Kaffee leisten kann, ist es wichtig, dies wahrzunehmen.

zentralplus: Und wie handelt man in dieser Situation, ohne das Gegenüber vor den Kopf zu stossen?

Thali: Solchen Menschen ist es oft unangenehm, wenn man sie direkt auf das Problem anspricht. Auch hier gilt wieder: Empathie zeigen, Kontakte schaffen und die Hilfe nicht aufdrängen. Es gibt viele Möglichkeiten, mit wenig Geld Hilfe zu leisten. Man kann beispielweise mit einem «Café surprise» (zentralplus berichtete) Armutsbetroffenen einen Kaffee spendieren oder gebrauchte Kleider nicht einfach wegwerfen, sondern sie in Kleidersammelstellen bringen.

zentralplus: Gibt es im Kanton Luzern viele freiwillige Helfer?

Thali: Bei uns sind rund 270 Freiwillige tätig. Das ausgeprägte Vereinswesen, die zahlreichen Hilfsorganisationen und die Bereitschaft der Schweizer, Geld zu spenden, helfen mit, Armut zu lindern. Ohne freiwillige Helferinnen und Helfer wären viele unserer Projekte nicht umsetzbar. Aber auch Spenden sind für uns besonders wichtig, weil sie uns Spielräume für konkrete Hilfeleistungen und neue Projekte ermöglichen.

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