Zentren wollen mehr Autonomie

Tempo 30: Luzern und andere Städte mucken auf

In Luzern gilt bereits auf einem Grossteil der Strassen Tempo 30. So auch auf dem Inseliquai. (Bild: ber)

Die Schweizer Städte wollen das Heft selbst in die Hand nehmen. Die Einführung von neuen Tempolimits soll vereinfacht werden und grundsätzlich in der Kompetenz der Gemeinde liegen. Die Stadt Luzern gehört bei diesem Thema zur Speerspitze.

Mobilitätspolitik ist in vielen Belangen eine techniklastige und eher theoretische Affiche. Bei einem Thema aber gehen jeweils die Emotionen hoch: Tempo 30. PS-erdrosselndes Schreckgespenst für die einen, verkehrstechnisches Allheilmittel für die anderen.

Die Einrichtung von Tempo-30-Zonen wurde in der Schweiz bereits 1989 rechtlich geregelt. Allerdings nahm die Umsetzung erst in den letzten Jahren merklich an Fahrtwind auf. Vor allem in den Städten. Und diese wollen vorwärtsmachen. Der Schweizerische Städteverband fordert nun weniger bürokratische Hürden und mehr Autonomie, um die Einführung von Tempo 30 selbst an die Hand nehmen zu können.

Hohe Kosten für eine Formalität

Tatsache ist, dass heute in viele Quartierstrassen bereits Tempo 30 gilt – früher war Tempo 50 der Standard. Um eine solche Geschwindigkeitsreduktion zu erwirken, muss ein Gutachten erstellt werden. Das schreibt der Bund vor. Dieses nimmt eine Abwägung zwischen den Nutzungsansprüchen auf die Strasse und der angestrebten Wohn‑, Lebensraumqualität entlang der Strasse vor. Den Städten ist dies Gutachten jedoch zunehmend ein Dorn im Auge. Denn Gutachten seien inhaltlich oftmals reine Formalität sind, würden jedoch «unnötige Kosten» verursachen, wie der Städteverband schreibt.

Die genauen Kosten sind jeweils von der Länge des Abschnittes und der Funktion im Strassennetz abhängig, schreibt das Tiefbauamt der Stadt Luzern auf Anfrage von zentralplus. «Auf Gemeindestrassen gehen wir von schätzungsweise 10'000 Franken pro Gutachten aus, wobei die Bandbreite gross ist.»

Gutachtenpflicht soll fallen

Der Städteverband ist der Auffassung, dass diese Gutachtenpflicht für Quartierstrassen umgehend abgeschafft werden muss. Konkret unterstützt der Verband eine entsprechende Motion von Nationalrätin Marionna Schlatter (Grüne, Zürich). Der Bundesrat empfiehlt dem Parlament jedoch, diesen Vorstoss abzulehnen und stellt in Aussicht, dass er die vereinfachte Signalisierung von Tempo-30-Zonen auf solchen Quartiertstrassen demnächst angehen will.

Der Städteverband ruft jedoch in Erinnerung, dass der Bundesrat dies bereits vor sieben Jahren angekündigt hatte, ohne dass er seither Schritte in diese Richtung setzte. Deshalb «erscheint es dem Städteverband angemessen, dass die Regierung vom Parlament nun darauf verpflichtet wird», wie es in der Mitteilung weiter heisst.

Noch heisseres Eisen: 30er auf Hauptstrassen

Tempo 30 auf lauschigen Quartiersträsschen ist das eine, auf Hauptrassen jedoch nochmals eine gänzlich andere Diskussion. Vor wenigen Jahren noch unvorstellbar macht die Idee in Städten langsam Schule. Zu den sogenannten verkehrsorientierten Strassen gehören Kantonsstrassen und Gemeindestrassen 1. Klasse. In der Stadt Luzern sind dies etwa die Spitalstrasse, die Tribschenstrasse oder die Dreilindenstrasse.

Bei Kantonsstrassen und Gemeindestrassen 1. Klasse liegt die Kompetenz für die Anordnung von Temporeduktionen beim Kanton. Dies wurde per Januar 2020 neu geregelt. Davor konnte die Stadt Luzern auf allen Gemeindestrassen in eigener Kompetenz Verkehrsanordnungen verfügen.

Die Hürden, um eine Temporeduktion auf einer solchen Strasse zu erwirken, sind nochmals deutlich höher. Auf Kantonsstrassen und anderen komplexeren Strassenachsen können für das oben beschriebene Gutachten schnell umfangreichere Abklärungen notwendig werden und damit die Kosten um ein Mehrfaches steigen.

Jahrelanger Rechtsstreit vorprogrammiert

Zudem ist es heute immer noch eher die Ausnahme, dass die Kantonsregierung mit Temporeduktionen auf Verkehrshauptachsen einverstanden sind. Und selbst wenn dies der Fall ist, haben solche Begehren oft eine lange juristische Auseinandersetzung zur Folge. Bestes Beispiel: die Grabenstrasse in der Stadt Zug. Eine der Hauptachsen, die durch die Zuger Innenstadt führt, ist seit rund einem halben Jahr eine Tempo-30-Strecke. Dieser Temporeduktion ging ein jahrelanger Rechtsstreit voraus (zentralplus berichtete).

Auch in Kriens wird derzeit hitzig über Tempo 30 diskutiert. Bekanntlich will die Stadt im Zentrum die Geschwindigkeit drosseln, die SVP hat dagegen das Referendum ergriffen. Zudem steht noch ein Bundesgerichtsurteil aus, das sich mit der Forderung nach Tempo 30 auf der gesamten Luzernerstrasse als Lärmschutzmassnahme befasst (zentralplus berichtete).

«Die wichtigsten Argumente sind Lärmschutz, Erhöhung der Verkehrssicherheit und Spielraum in der Strassenraumgestaltung. Das kommt schlussendlich allen Verkehrsteilnehmenden und Anwohnenden zugute.»

Adrian Borgula, Umwelt- und Mobilitätsdirektor der Stadt Luzern

Adrian Borgula ist Umwelt- und Mobilitätsdirektor der Stadt Luzern. Zudem präsidiert er aktuell die Städtekonferenz Mobilität. Es handelt sich dabei um die mobilitätspolitische Sektion des Städteverbands – sie hat diesen Positionsbezug des Verbandes vorbereitet. Es überrascht daher kaum, dass der Luzerner Stadtrat die Positionen des Verbandes teilt. «Die wichtigsten Argumente sind Lärmschutz, Erhöhung der Verkehrssicherheit und Spielraum in der Strassenraumgestaltung. Das kommt schlussendlich allen Verkehrsteilnehmenden und Anwohnenden zugute», ist Borgula überzeugt.

Mehr Leistungsfähigkeit

Der Städteverband führt aber noch weitere Argumente ins Feld. So wird etwa auf die Schweizerische Vereinigung der Verkehrsingenieure (SVI) verwiesen: Diese hat analysiert, dass das gleichmässigere Zirkulieren des Verkehrs zu den Vorteilen von Tempo 30 innerorts gehört.

Konkret: Insbesondere dort, wo viele Personen zu Fuss die Strassen queren, stelle sich dieser Effekt ein. Bei geringeren Höchstgeschwindigkeiten können sich alle Verkehrsteilnehmerinnen «organischer» bewegen. Das wiederum reduziere das Stop-and-go im Verkehrsablauf.

«Anders, als immer wieder suggeriert wird, sind die Leistungsfähigkeit und Reisezeit beziehungsweise Reisegeschwindigkeit des Motorfahrzeugverkehrs bei weitem nicht nur von der Geschwindigkeit abhängig», schreibt der Städteverband dazu. Und weiter: «Neben der Leistungsfähigkeit und dem Management der Strassenkreuzungen spielen auch die Gestaltung der Strassen und das Verhalten der Verkehrsteilnehmerinnen und Verkehrsteilnehmer wesentliche Rollen.»

Städte sollen selbst entscheiden können

Kritiker von Tempo 30 führen jedoch ebenfalls das Verhalten der Verkehrsteilnehmer ins Feld. So befürchtet etwa der TCS, dass Tempo 30 auf Hauptverkehrsachsen unweigerlich zu mehr Schleichverkehr in den Nebenstrassen führt und die dortige Verkehrssicherheit tangiert. Die Position des TCS: Er befürwortet Tempo 30 auf Quartierstrassen, nicht aber auf Hauptverkehrsachsen (zentralplus berichtete).

Auch der Städteverband sieht diese Gefahr. Vor diesem Hintergrund schlägt der Städteverband eine Art Kompromiss vor. Im Hinblick auf die Reduktion der Höchstgeschwindigkeiten auf Hauptstrassen erachtet er die Erstellung eines Gutachtens weiterhin als sinnvoll.

Für den Verband ist jedoch die Autonomie in dieser Frage entscheidend. Deshalb fordert er, dass Geschwindigkeiten sowohl auf den siedlungs- als auch auf den verkehrsorientierten Stadtstrassen von den Städten selbst definiert werden können. «Sie kennen die jeweiligen lokalen Situationen genau und sind dementsprechend auch am besten in der Lage, alle Gesichtspunkte gegeneinander abzuwägen.»

60 Prozent Tempo 30

In Sachen Tempo 30 ist die Stadt Luzern weit vorne, wie Stadtrat Borgula erläutert: «Auf dem Gemeindesstrassennetz der Stadt Luzern gilt auf allen siedlungsorientierten Strassen bereits Tempo 30, auf den verkehrsorientierten zum Teil.»

Gesamtheitlich betrachtet, ergibt sich für Luzern folgendes Bild: Auf dem Gemeindesstrassennetz der Stadt Luzern gilt auf rund 85 Prozent der Strassen Tempo 30. Betrachtet man das gesamte Stadtgebiet mit Gemeindestrassen, Kantonsstrassen und Privatstrassen sind es rund 60 Prozent, wo Tempo 30 gilt.

«Wir spüren Bewegung beim Thema Tempo 30 auf Kantonsstrassen. »

Gerade auch bei den Kantonsstrassen geht in Luzern was: «Wir spüren Bewegung beim Thema Tempo 30 auf Kantonsstrassen. Druck kommt zunehmend auch aus verschiedenen Gemeinden der Agglomeration und eher ländlichen Gemeinden mit engen Ortsdurchfahrten», berichtet der Stadtrat.

Begegnungszonen auf Wunsch

Von einem Wegfallen der Gutachtenpflicht würden demnach eher andere Städte profitieren, die weniger weit sind als Luzern. Dennoch ist der Prozess auch hier nicht abgeschlossen, wie das städtische Tiefbauamt ausführt. Aktuell läuft die Prüfung von Tempo 30 auf der Arsenal-Eichwaldstrasse. «Im Rahmen eines Betriebs- und Gestaltungskonzeptes wird Tempo 30 auf der Tribschen-Langensandstrasse zu prüfen sein», schreibt das Tiefbauamt weiter.

Zusätzlich können Quartierbewohnerinnen die Prüfung von Begegnungszonen beantragen. In Begegnungszonen gilt Tempo 20, zudem sind Fussgänger auf der gesamten Verkehrsfläche vortrittsberechtigt. «Wir nehmen diese Anliegen auf und setzen, wo möglich, die Begegnungszonen auf Wunsch der Bevölkerung um», sagt Stadtrat Borgula.

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2 Kommentare
  • Profilfoto von rahel.estermann
    rahel.estermann, 20.09.2021, 13:50 Uhr

    Vielleicht verpflichtet die Luzerner Bevölkerung den Kanton bald zu einem noch viel grösseren Paradigmenwechsel bezüglich Strassengestaltung im Kanton Luzern – dann nämlich, wenn das Wort «siedlungsverträglich» nicht nur, wie im Artikel ausgeführt für Quartierstrassen, sondern für alle kantonalen Strassen gilt, die Ortsdurchfahrten sind.

    Dies schlägt die kantonale Volksinitiative für «attraktive Zentren» vor.

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  • Profilfoto von P. Nigg
    P. Nigg, 20.09.2021, 08:55 Uhr

    Wie der Verkehr auf Hauptstrassen in der Stadt auf 30km/h beschleunigt werden könnte, ist mir völlig schleierhaft.

    Der Mittelwert mehrerer Messungen im Bus Luzern-Kriens lag bei 18,3 km/h

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