Kultur- und Kreativbranche soll digitaler werden

Luzerner Forscher holen Picasso und Dalí zu dir nach Hause

Im Immersive Realities Research Lab der Hochschule Luzern tüftelt Aljosa Smolic (hier mit AR-Brille) an «Extended Reality»-Technologie. (Bild: zvg)

Künftig könntest du Kunstausstellungen zu Hause auf dem Sofa besuchen. Mit sogenannter «Extended Reality»-Technologie. Ein internationales Forschungsteam mit Beteiligung der HSLU tüftelt derzeit an einem Projekt dazu.

Stell dir vor, du könntest eine Kunstausstellung gemütlich von dir zu Hause auf dem Sofa besuchen. In deinem Tempo, ohne andere Besucher, die dich dabei stören. An einem Ort, an dem du dich wirklich wohl und willkommen fühlst – denn in den Museen fühlt man sich nicht immer so (zentralplus berichtete). Plötzlich könntest du gar in aller Ruhe die Mona Lisa anschauen, die bei deinem Louvre-Besuch während des Paris-Urlaubs wegen einer riesigen Menschentraube kaum sichtbar war.

Noch ist das Zukunftsmusik – was internationale Forscherinnen ändern wollen. Die Europäische Union hat ein internationales Forschungsprojekt mit dem Titel «TransMIXR» gestartet. Daran ist auch ein Forschungsteam der Hochschule Luzern beteiligt, dazu später mehr.

Das erklärte Ziel: die europäische Kultur- und Kreativbranche fit für den digitalen Wandel machen. Und ihnen das nötige Rüstzeug mitgeben, um digitale Möglichkeiten in ihrem Schaffen auszunutzen. Dauern soll das ganze Projekt drei Jahre. Dabei stehen den Forschern gut zehn Millionen Euro zur Verfügung.

Digitale Festivals und Preisschlachten um virtuelle Häuser

Allzu abwegig ist das nicht. Während der Pandemie ist beispielsweise die Musikbranche nach zahllosen Konzertabsagen in die digitale Welt vorgeprescht. So haben 2021 ganze Musikfestivals in virtuellem Raum stattgefunden. Bei manchem beschränkte es sich auf Livestreams, die aneinander gereiht wurden. Bei anderen, wie dem «Splendour XR», konnten Festivalbesucherinnen mit Virtual-Reality-Ausrüstung auf einem virtuellen Festivalplatz herumlaufen, Merchandise kaufen und an mehreren Bühnen verschiedene Künstler entdecken, wie «The Guardian» berichtet.

«Künftig sollen AR- und VR-Inhalte so einfach zu erstellen sein, wie man mit Instagram-Filtern Bilder bearbeiten kann.»

Aljosa Smolic, Dozent an der HSLU und Projektleiter des Luzerner Teams

Noch stecken digitale Festivals in den Kinderschuhen – der Guardian-Journalist bezeichnete den Anlass als «unheimlich» und «leer». Doch derzeit gibt es einen Hype um die virtuelle Welt, das sogenannte Metaverse. Promis wie Snoop Dogg oder Modemarken wie Adidas zahlen Millionen von Dollars, um Grundstücke in digitalen Welten zu kaufen, wie das «SRF» kürzlich berichtete. Unter anderem, um darin exklusive Events oder Konzerte zu veranstalten. Virtuelle Festivals dürfen also in Zukunft öfters stattfinden, als nur als Pandemie-Alternative.

Laien sollen VR-Inhalte erstellen können

Mittendrin im Trubel um virtuelle Welten steckt Informatik-Forscher Aljosa Smolic. Er und sein Team des Immersive Realities Research Lab der Hochschule Luzern sind Teil des «TransMIXR»-Projekts und erhalten daraus 800'000 Euro. Er erklärt den Anstoss für das Projekt am Telefon wie folgt: «Virtual und Augmented Reality Technologie erzielen derzeit sehr viel Interesse. Aber Inhalte dafür herzustellen, benötigt sehr viel Fachwissen.» Mit «TransMIXR» soll das auch für Laien möglich werden.

Augmented Reality beschreibt virtuelle Inhalte, die über technische Hilfsmittel im realen Raum stattfinden. So etwa das Trendspiel Pokémon-Go, bei dem ein virtuelles Monster auf dem Handybildschirm in das eigene Wohnzimmer versetzt wird (zentralplus berichtete). Bei Virtual Reality wirst du in den Inhalt versetzt – so befindest du dich etwa mitten in einem Film und läufst selbst darin herum.

«Künftig sollen AR- und VR-Inhalte so einfach zu erstellen sein, wie man mit Instagram-Filtern Bilder bearbeiten kann», meint Smolic. Sein Team wäre dabei spezifisch für das Programm zuständig, mit denen die Inhalte erstellt werden. Er stellt sich das ganze etwa so vor:

Eine Journalistin geht auf Reportage und macht dabei verschiedene Bild- und Videoaufnahmen – etwa von der verfallenden Bodum-Villa (zentralplus berichtete). Zurück in der Redaktion lädt sie alle Aufnahmen in das Programm und schneidet sie so einfach wie ein normales Video zusammen. Das fertige Video lässt sich dann beispielsweise auf der Website einbetten oder auf einem speziellen Webtool hochladen. Dort können die Leserinnen in die Villa eintauchen und virtuell zusammen mit der Journalistin erkunden – oder gar selbst ein paar Schritte tun.

Im Projekt sind Medien- und Kulturhäuser involviert

Gleiches sollen beispielsweise Regisseure mit ihrer neuen Theater- oder Opernproduktion tun können. Oder Galeristinnen mit der neuesten Kunstausstellung. «Kreative erhalten so die Möglichkeit, neue Inhalte und Formate zu erstellen. Um sich in zukünftigen Märkten positionieren zu können», ist Smolic überzeugt. Das EU-Projekt hat dabei auch das Ziel, den virtuellen Markt nicht nur Tech-Giganten wie Meta und Google zu überlassen. Damit Museen virtuelle Ausstellungen konzipieren können, ohne zuerst hunderttausende Franken für ein virtuelles Stück Land im Metaverse hinblättern zu müssen.

Bis es aber soweit ist, wird das Forschungsteam in mehreren Pilotprojekten das Programm entwickeln. Gut ein Drittel des Konsortiums dahinter sind potenzielle Nutzerinnen. So etwa die französische Presseagentur AFP, das Baltic Film & Creative Tech Cluster aus Litauen oder Radiotelevizija Slovenija, der öffentlich-rechtliche Rundfunk aus Slowenien. Wie Smolic erzählt, sei er jedoch auch auf der Suche nach potenziellen Partner-Unternehmen aus der Schweiz.

Nur ein Bruchteil besitzt überhaupt VR-Brillen

Das Interesse der Kreativschaffenden scheint also gegeben. Doch wie sieht es beim Publikum aus? Gerade nach zwei Jahren Pandemie, in denen man die eigenen vier Wände sehr intensiv kennengelernt hat, lechzen viele wieder nach realen sozialen Kontakten und Erfahrungen «draussen» in der echten Welt. Nach Aktivitäten, Events und Festivals – greifbarer, realer Erlebnissen eben. Wollen Schweizerinnen dann die Kunstausstellung wirklich vom heimischen Sofa aus besuchen?

«Solange es keine Inhalte gibt, interessiert es niemanden. Und wenn es niemanden interessiert, werden keine Inhalte erstellt.»

Aljosa Smolic dazu, ob die Inhalte überhaupt auf Interesse stossen

Gemäss Smolic ja. «Gerade die Pandemie hat den Hype um Extended Reality Technologien stark befeuert.» Während Corona seien viele damit in den Kontakt gekommen und haben gesehen, was für Potenzial solche Technologien haben. Nun stehen Museumsbesuchern quasi zwei Optionen offen – live vor Ort und online. Zumal man für Augmented-Reality-Inhalte ja immer noch vor Ort gehen müsste.

Und mit AR-Technologie sind gemäss einer Studie der Universität Luzern von 2021 gut die Hälfte der Schweizerinnen bereits in Kontakt gekommen. Harziger wird es hingegen bei der VR-Technologie. Gemäss einer kürzlich veröffentlichten Studie des Werbeforschungs-Unternehmen WEMF besitzen lediglich zwei Prozent der Schweizer eine VR-Brille, wie «Persönlich» berichtet.

Virtual Reality nicht nur Gamerinnen schmackhaft machen

Auch Smolic räumt ein, dass sich anfangs vermutlich vor allem Tech-Enthusiasten vom Projekt angesprochen fühlen. «Aber ich denke, dass andere nachziehen werden.» Es sei ja gerade ein erklärtes Ziel des Projekts, die VR-Technologie für mehr Genres als Gaming interessant zu machen. Er spricht dabei vom Huhn-Ei-Problem: «Solange es keine Inhalte gibt, interessiert es niemanden. Und wenn es niemanden interessiert, werden keine Inhalte erstellt.»

Das Problem mit den wenig verbreiteten VR-Brillen sei zwar eine Hürde, aber kein Hindernis. Denn VR-Inhalte lassen sich auch normal auf dem Computer anschauen. Dann steckst du zwar beispielsweise nicht mitten im Video drin, kannst aber trotzdem mit Mausklick nach links und rechts sehen und dich darin bewegen.

Bis es jedoch so weit ist, muss Smolics Team erstmal das Programm zur Erstellung dieser Inhalte kreieren. Ob und wie sich das Interesse der Schweizer in virtuelle Welten in diesen drei Jahren entwickelt, ist schwer zu sagen. Bis dahin gibt es die zentralplus-Reportagen jedenfalls noch im gewohnten Format.

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