Nach Prostituiertenmord vor fünf Jahren

Strassenstrich Ibach: Die Angst geht immer noch um

(Symbolbild: Adobe Stock)

Die Erschütterung war gross, der Schock sass tief, als vor fünf Jahren die Leiche einer jungen Frau aus dem Vierwaldstättersee gezogen wurde. Es war eine Sexarbeiterin, die zuletzt auf dem Strassenstrich Ibach gesehen worden war. Wie sicher sind die Sexarbeitenden heute – fernab des städtischen Treibens?

In der Nacht auf den 21. September 2014 wurde die 36-Jährige zum letzten Mal gesehen. Ihre Arbeitskolleginnen auf dem Strassenstrich Ibach machten sich Sorgen. Ihre Kollegin war nicht mehr auf dem Handy erreichbar. Also meldeten sie die 36-Jährige als vermisst.

Traurige Gewissheit herrschte, als am Sonntagmorgen in der Harissenbucht in Stansstad die Leiche der Bulgarin aus dem Vierwaldstättersee gezogen wurde (zentralplus berichtete). Noch immer fehlt vom Mörder jede Spur.

Es war nicht der einzige Fall in diesem Milieu: Vor zwei Jahren raubte eine Bande mit Pistolen und Pfeffersprays bewaffnet drei Mal Sexarbeiterinnen auf dem Strassenstrich Ibach aus. Die Gruppe wurde gefasst (zentralplus berichtete).

Es sind brutale Ereignisse, die sich auf dem Strassenstrich Ibach ereigneten. Immer wieder stand die Kritik im Raum: Der Strassenstrich Ibach ist zu abgelegen, für die Sexarbeitenden ist es zu gefährlich.

Arbeiterinnen erzählen den Neuen vom Mord

Der Mord sei immer wieder Thema, die Sexarbeiterinnen sprechen darüber. Das sagt Birgitte Snefstrup. Sie ist die Geschäftsleiterin von «LISA», dem Luzerner Verein für die Interessen der Sexarbeitenden.

«Der Mord gehört zur Geschichte des Strassenstrichs Ibach.» Die wenigsten der derzeit rund 15 Sexarbeitenden hätten die Tat vor fünf Jahren miterlebt – dennoch werde die Geschichte an die neuen Kolleginnen weitererzählt. «Die Unsicherheit und die Angst sind noch immer da.» Und ganz verschwinden werden sie wohl nie.

Aktuell kein Gewalt-Vorfall

Die diplomierte Sozialpädagogin weiss aktuell von keinem Vorfall, in dem eine Sexarbeiterin von einer Gewalttat oder Ähnlichem betroffen war. Auch der Polizei sind keine grösseren Zwischenfälle bekannt. Seit den vergangenen Vorfällen, insbesondere nach dem Tötungsdelikt des Jahres 2014, hat man gemeinsam mit der Staatsanwaltschaft, privaten Sicherheitsfirmen und der Polizei die Sicherheitslage ausgewertet und Verbesserungen umgesetzt. Unter anderem wurde die Beleuchtung erneuert. Die Zusammenarbeit mit der Polizei laufe sehr gut, regelmässig fahre sie Patrouille, erklärt Snefstrup.

Auch der Serviceplatz direkt am Strassenstrich sei eine Massnahme, die eine «deutliche Verbesserung» mit sich gebracht habe. Snefstrup erklärt: Der Serviceplatz ist ein kleiner Platz, an dem drei bis vier Autos halten können, damit Sexarbeitende dort ihre Dienstleistungen anbieten können. Zuvor mussten sie mit ihren Freiern wegfahren. Das Gebiet rund um den Strassenstrich ist Privatgrund und die Dienstleistungen wurden hier nicht toleriert.

Sexboxen sind eher abschreckend

Weitere Massnahmen müssten derzeit nicht ergriffen werden. Sexboxen, die man auf dem Strassenstrich Altstetten eingeführt hat, brauche es in Luzern nicht. Diese wären eine «Nummer zu gross» für Luzern. Snefstrups Meinung nach hätten diese Sexboxen zudem eine eher abschreckende Wirkung auf die Freier.

Als Folge könnten Sexarbeitende ins Auto der Freier steigen und mit ihnen wegfahren. Oder die Strassensexarbeit könnte sich verlagern. Das wäre auf keinen Fall wünschenswert, sagt Snefstrup. Denn wenn man weiss, wo die Sexarbeitenden ihre Dienstleistungen anbieten, kann man am ehesten für ihre Sicherheit sorgen.

«Strassenprostitution ist immer mit mehr Risiken verbunden, als wenn Sexarbeitende ihre Dienstleistungen in Bordellen anbieten.»

Simon Kopp, Informationsbeauftragter Staatsanwaltschaft

Nicht nur die Polizei trägt zur Sicherheit bei, sondern auch die Frauen untereinander. Seit dem Tötungsdelikt würden die Arbeitenden besser auf sich und aufeinander Acht geben: «Wenn jemand mit einem Freier weggeht und lange nicht zurückkommt, fragen sie nach», sagt Snefstrup.

Zu abgelegen

Doch sie verschweigt auch nicht die Probleme. Der Strassenstrich sei zu abgelegen: «Sexarbeitende ins Ibachquartier zu verlagern – fernab von Wohnungen und Läden und dem städtischen Treiben – ist inakzeptabel.» Die Polizei und der Verein «LISA» können nicht rund um die Uhr soziale Kontrolle bieten.

Auch die Polizei kennt die Risiken. «Strassenprostitution ist immer mit mehr Risiken verbunden, als wenn Sexarbeitende ihre Dienstleistungen in Bordellen anbieten», sagt Simon Kopp, Informationsbeauftragter Staatsanwaltschaft. Das Ibachquartier ist abgelegen, es ist zum Teil schlecht beleuchtet. Zudem hat es kaum Anwohner, die einen Vorfall bemerken würden.

Risko besteht immer auf der Strasse

«Im Ibach besteht immer ein Risiko», fährt Kopp fort. «Die Sexarbeitenden verlassen mit ihren Freiern den sicheren Boden, steigen ins Auto, sind mit ihren Freiern alleine und haben keine Kolleginnen mehr um sich, die auf sie achtgeben könnten.»

«Die Sexarbeitenden sagen: Eigentlich braucht man uns, aber man möchte uns nicht sehen.»

Birgitte Snefstrup, Geschäftsleiterin Verein «LISA»

Es gebe jedoch regelmässig Polizeikontrollen. Gerade nach den Vorfällen wurden die Patrouillen verschärft. «Polizeikontrollen sind jedoch nicht nur beliebt bei den Sexarbeitenden», sagt Kopp. «Zum Teil sagten sie auch aus, dass die Polizei durch die Kontrollen die Freier vertreibe.»

Eine Frage der Moral

Die Abgelegenheit des Strassenstrichs führt aber auch zu ganz anderen Problemen, sagt Snefstrup. Sexarbeitende müssten mit dem Taxi hinfahren. Und das kostet Geld. «Sexarbeitende müssen ein, zwei Kunden mehr annehmen, um die Taxispesen zu decken.»

Kürzlich habe es eine Diskussion mit Sexarbeitenden über die Lage des Strassenstrichs gegeben. «Die Sexarbeitenden haben das Gefühl, ausgegrenzt zu werden. Einerseits wissen sie, dass das Bedürfnis besteht: Männer wollen ihre Dienstleistungen. Dennoch werden sie ins Ibachquartier abgeschoben, wo sie nicht stören. Die Sexarbeitenden sagen: Eigentlich braucht man uns, aber man möchte uns nicht sehen.»

Es ist hauptsächlich eine Frage der Moral, ist die Geschäftsleiterin des Vereins überzeugt. Doch in der Stadt werde man wegen des Strassenstrichreglements den Sexarbeitenden wohl nichts anderes bieten können. Deswegen versuchen alle Involvierten das Beste aus der Situation zu machen.

Sexarbeitende erzählen nicht von jeder Ohrfeige

Für totale Sicherheit kann man nie sorgen. Aber man kann vor Ort sein. Der Verein «LISA» bietet einen Beratungscontainer im Ibachquartier an. Er ist an vier Abenden in der Woche für drei Stunden bis Mitternacht offen. Hier erhalten die Sexarbeitenden einen warmen Tee, werden zu Alltagsdingen, aber auch zu Gesundheit, Sicherheit und Gewaltprävention beraten. Zudem bietet der Verein unentgeltliche juristische und medizinische Beratungen an.

Im Frühling und Herbst konnten die Sexarbeitenden zudem an Selbstverteidigungskursen teilnehmen. «So werden sie gestärkt. Sie lernen, wie sie sich auf engstem Raum – wie in einem Auto – wehren und Situationen deeskalieren können. Und was sie tun können, wenn sie beispielsweise von einem Freier gewürgt werden.»

Die Nähe des Vereins zum Strassenstrich sei enorm wichtig. Denn nur durch Vertrauen und ein freundschaftliches Verhältnis sind die Sexarbeitenden auch bereit, von ihren Erfahrungen zu berichten. Dennoch glaubt Snefstrup nicht, dass jede Ohrfeige und jeder Würger erzählt wird. «Ein Stück weit gehört das leider auch zu den Erfahrungen vieler Frauen dazu.»

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