Wo es wirklich spannend ist

Stadt-Land-Graben? Willkommen in der Agglo!

«Die einfache Gegenübersetzung von Stadt versus Land ist völlig absurd», sagt Joachim Blatter, Professor für Politikwissenschaft an der Uni Luzern. (Bild: zvg)

Viel wird über den Stadt-Land-Graben gesprochen. Die interessanten Bruchlinien finden sich aber anderswo, sagt der Luzerner Professor Joachim Blatter.

Der Stadt-Land-Graben ist in aller Munde. Noch bevor die SVP am 1. August zum Angriff auf die «Schmarotzer-Politik der links-grünen Städte» blies, machte in Luzern Regierungspräsident Marcel Schwerzmann die Beziehungen der beiden Seiten zum Thema (zentralplus berichtete).

Für Experten ist diese Diskussion abwegig. «Diese einfache Gegenübersetzung von Stadt versus Land ist für Politologen und Geografen völlig absurd», sagt Joachim Blatter, Professor für Politikwissenschaft an der Uni Luzern. «Denn die wichtigste geografische Einheit ist weder Stadt noch Land, sondern die Agglomeration. Dort werden Wahlen und Abstimmungen entschieden, dort passieren die stärksten sozioökonomischen und politischen Transformation.»

Ein Gegensatz, der seit jeher zu reden gibt

Joachim Blatter weiss, wovon er spricht. Er hat seine Habilitation über Agglomerationen geschrieben. In seinem neusten Projekt beschäftigt er sich mit dem Zusammenhang zwischen dem Stadt-Land-Graben und Populismus (siehe Box).

«Will man die Unterschiede bewirtschaften, wie es die SVP tut, muss man schwarz-weiss malen.» 

Joachim Blatter, Politologie-Professor

Der Stadt-Land-Graben sei ein ewiger Zankapfel. «Das ist ein Thema, seitdem es Städte gibt.» Im 20. Jahrhundert habe es nach dem Zweiten Weltkrieg eine grosse Stadtflucht gegeben. Die Städte als Verliererecke. Um die Jahrtausendwende kehrte sich das Blatt, die Städte wurden zu den grossen Gewinnern. «Jetzt, nach der Corona-Krise, ist noch unklar, in welche Richtung es geht.» 

Spannend sind – wie immer – die Grautöne

Klar ist, dass die Stadt-Land-Dichotomie in erster Linie aus populistischen Zwecken instrumentalisiert wird. «Will man die Unterschiede bewirtschaften, wie es die SVP tut, muss man schwarz-weiss malen.» 

Das werde der Realität aber nicht gerecht. Denn ein grosser Teil der Bevölkerung lebe weder in der Stadt noch auf dem Land, sondern eben in der Agglomeration. Einem Gebiet, das sich stark entwickelt. Gerade in Luzern könne man das sehr gut beobachten. Das zeigt sich an nüchternen Zahlen: Während viele ländliche Gemeinden und auch die Stadt Luzern bevölkerungsmässig kaum wachsen, explodiert die Agglomeration regelrecht.

Und das reisst Gräben auf. «Wir erleben das zum Beispiel in Kriens: Die Eingesessenen wollen nicht noch mehr neue Wohnungen und fürchten, dass der dörfliche Charakter zerstört wird, die Zugezogenen hingegen sind froh, dass sie bezahlbare Wohnungen finden und sie bringen eine urbane Lebenskultur mit.» Auch in Emmen, wo rund um den Seetalplatz in den nächsten Jahren zahlreiche neue Arbeitsplätze und Wohnungen entstehen, ist das Selbstverständnis in Zukunft solchen Spannungen ausgesetzt.

Urban ist, wer divers ist

Werden Kriens und Emmen neue (Vor-)Städte oder bleiben sie grosse Dörfer? Entscheidend dafür ist laut Joachim Blatter, ob sie urban ticken. Und diese Urbanität zeichnet sich einerseits durch Dichte aus, andererseits durch Diversität. Letzteres heisst, es gibt einen differenzierten Arbeitsmarkt, unterschiedliche soziale Milieus, ein breites Kulturleben, zahlreiche Lebensformen oder Nationalitäten. «Die Agglomerationsgemeinden werden immer dichter, aber ob sie diverser werden, ist noch nicht klar.» 

Augenscheinlich zeigt sich das – und zugleich auch die Bruchlinie – an einem ganz simplen Punkt: Während Kriens sich seit Kurzem Stadt nennt, wehren sich die Emmer gegen diese Bezeichnung. Man will lieber ein Dorf bleiben.

In Zürich, wo vieles zehn Jahre schneller passiert als in Luzern, haben sich die Umlandgemeinden lange gegen die Urbanisierung gestemmt – sind später aber doch städtischer geworden. Auch in politischer Hinsicht: Zunächst mit einer deutlichen Zuwendung zur SVP, jüngst aber wird zunehmend rot-grün gewählt. Nicht in erster Linie weil die Eingesessenen ihre Meinung änderten, sondern weil urban denkende Menschen aus der Stadt in die Agglo zügelten. Ein Trend, der auch im Kanton Luzern ansatzweise zu beobachten ist. Es wird spannend sein zu beobachten, wohin dieser Trend noch führt.

Die These der Abgehängten vom Land

Das neue Forschungsprojekt «Populism as Perpheral Resentment?» der Universität Luzern beschäftigt sich mit der These, dass der Populismus angeheizt wird vom Ressentiment der «Abgehängten». Denjenigen, die sich als Verlierer des Urbanisierungsprozesses wahrnehmen, in dem die kosmopolitische Elite in den Metropolen zunehmend an Einfluss gewinnt. Insbesondere in den USA gewann diese Deutung nach der Wahl von Donald Trump Aufwind.

Anders als in Amerika wurde die These in Europa wissenschaftlich noch kaum untersucht. Joachim Blatter (Politologe) und Martin Hartmann (Philosoph) möchten das mit einer Forschungsgruppe nun für die Schweiz, England und Ostdeutschland tun.

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2 Kommentare
  • Profilfoto von Karl Mörre
    Karl Mörre, 18.10.2021, 20:00 Uhr

    Kriens nennt sich zwar Stadt, aber wenn ich in Kriens bin fühle ich mich nie wie in einer Stadt. Man versucht in Kriens zwar alles, um städtisch und urban zu wirken, aber die Resultate sind dann doch immer sehr fade, wie ich finde. Das wird sich weder mit den Mattenhof/Schweighof-Quartieren noch mit der Pilatusarena ändern. Liegt wohl auch daran dass in Kriens wohl einfach zu viele Berge in unmittelbarer Nähe sind, um ein wirklich urbanes Image zu erhalten. Umgekehrt sehe ich es in Emmen, da will man zwar auf keinen Fall als Stadt bezeichnet werden, aber ganz ehrlich: Technisch gesehen hat Emmen wirklich alles was eine Stadt haben muss, kein anderer Ort in der Zentralschweiz geniesst von so einer vielfältigen Urbanität. Und in Emmen bzw. Emmenbrücke, spürt man im Gegensatz zu Kriens sofort dass man sich an einem Ort befindet, der sehr stark von Industrie und kultureller Vielfalt geprägt ist.

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    • Profilfoto von schaltjahr
      schaltjahr, 19.10.2021, 10:54 Uhr

      In Kriens ist es nie darum gegengen eine Stadt zu sein, oder zu werden ! Es war einzig und alleine das Ego der Politiker, welche sich unbedingt als Stadträte, oder Stadtparlamentarier gwsehen werden wollen. Kaum waren sie das, kam die dreiste Forderung nach mehr Lohn ..

      Leider haben sich damals die Krienser, einmal mehr, über den Tisch ziehen lassen ..

      Die Infrastruktur in Kriens ist wie in einem Dorf oder etwa etwa mit der einer Favela in Brasilien zu vergleichen. Mit Ausnahme des «Vorzeigeprojektes» Nidfeld /Mattenhof verkommt die Ortschaft. Dafür haben wir einen Verwaltungspalast (Palazzo Prozzi) wie einst die DDR hatte. Auch der Platz davor ist eine Augenweide …

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