Nach elf Jahren Spitzensport studiert er in Luzern

Ex-Skirennfahrer Marc Gisin: «Ich kann meinen Körper jetzt nicht einfach hängen lassen»

Marc Gisin im Schuss. Mittlerweile drückt der Engelberger die Hochschulbank in Luzern. (Bild: zvg)

Die Karriere des ehemaligen Skirennfahrers Marc Gisin war geprägt durch zwei böse Stürze. Der letzte führte Gisin zum Rücktritt. Nun verschlägt es den 32-Jährigen nach Luzern. zentralplus sprach mit ihm über seine Ziele, Schwester Michelle und die Beatles.

Denkt man zurück an die Karriere von Skirennfahrer Marc Gisin, fallen einem – neben drei Top-10-Plätzen im Weltcup – insbesondere zwei grausige Stürze ein. In Kitzbühel erleidet Gisin bei einem Sturz 2015 ein Schädel-Hirn-Trauma. Die Spätfolgen: unter anderem Schlafstörungen und Albträume. Drei Jahre später erleidet der Obwaldner bei einem Sturz 29 Knochenbrüche, eine Gehirnerschütterung und verletzt sich Lunge, Rippen und Wirbelsäule.

Obwohl sich Gisins Körper erstaunlich schnell von diesem Unfall erholt, will es einfach nicht mehr so recht klappen auf den Skiern. Eine frustrierende Tatsache, die letztlich dazu führt, dass der 32-Jährige letztes Jahr am 30. November seinen Rücktritt gibt.

zentralplus: Vor zwei Monaten haben Sie Ihre Skisportkarriere beendet. Wie hat sich Ihr Leben seither verändert?

Marc Gisin: Dass ich die Skirennen jetzt nicht mehr selber fahre, sondern am TV schaue. Er lacht. Das ganze Ausmass davon, was passiert ist, wird mir erst nach und nach bewusst. Langsam nur realisiere ich, wie sehr sich jetzt mein Leben verändert. So musste ich etwa Swiss Ski mein Auto letzten Freitag zurückgeben. Auch trainiere ich natürlich nicht mehr ganz so viel. Zweimal in der Woche absolviere ich ein kontrolliertes Ausdauertraining, einmal bin ich im Kraftraum. Beim Sport, den ich daneben treibe, entscheide ich jedoch frei, wie hoch mein Puls sein soll und wie intensiv ich trainiere. Darauf freue ich mich je länger je mehr.

zentralplus: Trainieren müssten Sie ja nun eigentlich gar nicht mehr.

Gisin: Das stimmt. Es gibt auch viele Spitzensportler, die nach Beendigung ihrer Karriere nur noch wenig machen. Ich finde das schwierig. Vielleicht hängt das auch mit meinen einstigen Verletzungen zusammen. Mein Körper hat sich so schnell erholt von diesen, dass ich ihn jetzt nicht einfach hängen lassen kann.

zentralplus: Sie trainieren jedoch nicht nur den Körper, sondern auch den Kopf. Vor kurzem haben Sie in Luzern zu studieren begonnen. In welche Richtung geht’s?

Gisin: Seit vergangenem Herbst studiere ich berufsbegleitend an der HSLU Wirtschaftspsychologie.

zentralplus: Können Sie in diesem Studienfach von Ihren eigenen Erfahrungen profitieren?

Gisin: Absolut. Die Psychologie ist von grosser Wichtigkeit im Skisport. Ich verfüge diesbezüglich über einen guten Boden, musste etwa lernen, mit Rückschlägen umzugehen. Ich könnte mir gut vorstellen, diese Erfahrungen in einem Unternehmen einzubringen, etwa im betrieblichen Gesundheitsmanagement. Da könnte ich Mitarbeitern beispielsweise helfen, nach Verletzungen oder Krankheiten wieder Fuss zu fassen. Oder auch die Arbeit auf präventiver Ebene könnte ich mir vorstellen, bei der es darum geht, Mitarbeiter zu unterstützen, damit sie nicht in ein Burnout geraten.

«Studium und Jobsuche sind für mich komplettes Neuland.»

Marc Gisin, Ex-Skirennfahrer

zentralplus: Letztes Jahr trainierten Sie noch voll auf diese Saison hin. Wann haben Sie dennoch angefangen, einen Plan B zu schmieden?

Gisin: Für dieses Studium habe ich mich letzten Frühling entschieden, nachdem mir eine Freundin davon erzählt hatte. Ich musste mir zu diesem Zeitpunkt überlegen, wie es für mich auf den Skiern weitergehen sollte. Damals hatte ich ja die Saison 19/20 gerade abgebrochen. Meine Chancen, den richtigen Dreh wieder zu finden, schätzte ich auf etwa 50 Prozent. In der Schweiz ist es ausserdem fast zwingend, ein Studium vorweisen zu können, wenn man eine Perspektive haben will. Entsprechend erlerne ich jetzt auf theoretischer Basis das, was ich bereits gut aus der Praxis kenne. Der Unterricht ist bis jetzt spannend, die ersten Prüfungen liegen hinter mir. Was mir noch fehlt, ist ein Job, den ich parallel zum Studium ausüben kann. Idealerweise in diesem Bereich. Studium und Jobsuche sind für mich komplettes Neuland. Das ist schon ein krasser Wechsel von dem, was ich bis vor kurzem gemacht habe.

«Für mich war klar: Entweder ich bin beim Saisonstart bei 100 Prozent oder ich höre auf.»

zentralplus: Sie haben Ihren Rücktritt am 30. November 2020 bekannt gegeben. Warum gerade zu diesem Zeitpunkt?

Gisin: Ich hatte ja die Saison davor in Wengen abgebrochen. Es ging nicht vorwärts, meine Leistung stagnierte. Viel Zeit verging, bis ich herausfand, wo das Problem lag. Als ich es dann wusste, fielen meine Pläne wegen Corona ins Wasser. Ich wollte mir jedoch bis im Herbst mit dem Aufbau Zeit geben, trainierte im Sommer Ski mit den Slalomfahrern und merkte auch, wie es wieder aufwärts ging. Doch blieb ich stets bei 96, 97 Prozent hängen. Für mich war da klar: Entweder ich bin beim Saisonstart bei 100 oder ich höre auf.

Marc Gisin. (Bild: zvg/Swiss-Ski)

zentralplus: Beim letzten Kurs vor Saisonstart haben sie das dann konsequenterweise getan. Ein schwieriger Entscheid?

Gisin: Nein, eher ein natürlicher Entscheid. Seit dem Sturz 2018 war das Gefühl, Skirennen zu fahren, nicht mehr gut, sondern nur noch frustrierend. Bei der Skiabfahrt und dem Super G muss man Risiken nehmen, es kann zuweilen gefährlich werden. Da muss man sich schon überlegen: Ist es sinnvoll, weiterzumachen, wenn dein Körper nicht das tut, was du von ihm erwartest? Wenn also Kopf und Körper nicht übereinstimmen? Da landet man über kurz oder lang im Netz.

«Anfangs hatte ich jede Woche eine neue Theorie, weshalb die Leistung nicht stimmte.»

zentralplus: Bei Ihnen trat nach dem zweiten Sturz, bei dem Sie sich fast 30 Knochen brachen und sich die Lunge und die Wirbelsäule verletzten, ein besonderes Phänomen auf. Obwohl der Körper sich sehr schnell erholte, konnten Sie die erwünschte Leistung nicht mehr erbringen. Anfangs sprachen Sie von fehlendem Selbstvertrauen. Dahinter steckte jedoch mehr.

Gisin: Ja, das Selbstvertrauen, das fehlte, war quasi die indirekte Folge des Problems. Anfangs hatte ich jede Woche eine neue Theorie, weshalb die Leistung nicht stimmte. Zuerst dachte ich, dass es an den Hüftbrüchen liege, dann am Vertrauen. Danach fragte ich mich, ob visuell etwas bei mir nicht stimmte. Letzten Endes machte die Theorie der Propriozeption jedoch am meisten Sinn.

zentralplus: Propriozeption: Ein kompliziertes Wort für eine komplizierte Sache.

Gisin: Es geht dabei um die Wahrnehmung im Raum. Ich habe beispielsweise meine Kräfte nicht mehr gespürt. So war für mich etwa nicht selbstverständlich, was mit meinem Körper in einer Kurve passiert. Auch fiel es mir zeitweise schwer, nur auf einem Bein zu stehen. Insbesondere, wenn ich dabei die Augen geschlossen hatte. So etwas erschüttert in der Folge auch das Selbstvertrauen.

zentralplus: Sie haben bei einem Interview auf «SRF» vor einem Jahr gesagt, Sie hätten die paar Sekunden vor dem Stutz 2018 in Gröden sicher 80 Mal geschaut, um zu analysieren, was dazu geführt hatte. Sind Sie nun froh, dass dieses ewige Analysieren ein Ende hat?

Gisin: Ja, es ist eine Erleichterung, nicht mehr alle fünf Minuten überlegen zu müssen, was ich machen muss, um wieder in die Gänge zu kommen. Das war insbesondere schwierig, da mir niemand von aussen die Theorie von der Propriozeption bestätigen konnte. Ich musste alles selber herausspüren. Ähnlich war es auch nach meinem ersten Sturz in Kitzbühel.

«Das Gefühl der Kraftlosigkeit verschlimmbesserte ich mit noch mehr Training.»

zentralplus: Damals haben Sie ein Schädel-Hirn-Trauma von diesem Unfall davongetragen. Nicht ohne Folgen: Später litten Sie an Schlafstörungen, fühlten sich kraftlos.

Gisin: Genau. Bei einem kaputten Knie gibt es eindeutige Referenzen, ob etwas gut oder schlecht ist. Ein geschwollener Schleimbeutel, eine gerissene Patellasehne. Beim Kopf ist das viel schwieriger. Der macht nicht weh, man sieht von aussen nichts. Ausserdem funktioniert jedes Hirn anders. Ich stand nach diesem Sturz schnell wieder auf den Skiern. Zu schnell. Die darauf folgenden Symptome, etwa das Gefühl der Kraftlosigkeit, verschlimmbesserte ich mit noch mehr Training. Aber im Nachhinein ist man immer schlauer.

zentralplus: Sprechen wir von Ihrer heutigen Situation. Was sind Ihre Ziele für die kommende Zeit?

Gisin: Ich war schon während meiner Skikarriere kein Fan von allzu konkreten Zielen, da man diese nur zu einem gewissen Grad beeinflussen kann. Ich kann weder die Wetterbedingungen noch das Material und die Leistung der anderen Fahrer beeinflussen. Darum war mein Hauptziel jeweils, mein eigenes Potenzial abrufen zu können. Allzu konkrete Ziele setze ich mir auch jetzt nicht. Ich muss mich noch etwas zurechtfinden. Als erstes Ziel jedoch gilt es, möglichst schnell eine Struktur zu haben und Fuss zu fassen im Arbeitsmarkt.

Die Familie Gisin: Michelle (l.), Marc und Dominique.

zentralplus: Auf Ihrem Instagram-Profil, das übrigens ziemlich unterhaltsam ist, liest man zuoberst: «One thing I can tell you is you got to be free», ein Zitat aus dem Beatles-Lied «Come together». Wie kommt’s?

Gisin: Ich bin etwas im Zwiespalt bezüglich Social Media, obwohl ich schon seit 2011 dabei bin. Damals posteten die Leute primär, wenn sie etwas Cooles gemacht hatten oder weil sie dadurch eine künstlerische Ader ausleben konnten. Auch ich habe das versucht. Ich möchte Instagram nicht nur als PR-Plattform für Kommerzielles nutzen, sondern mir diese Freiheit nehmen, auch persönliche, lustige Dinge zu posten und diese mit eigenen Worten zu versehen. Abgesehen davon bin ich ein riesen Beatles-Fan. Gisin lacht.

zentralplus: Nach dem Rücktritt Ihrer Schwester Dominique Gisin und Ihrem Karriereende hat Ihre Familie noch ein Eisen im Feuer. Und was für eines! Ihre jüngere Schwester Michelle ist gerade ziemlich im Schuss! Das muss für Sie schön mitanzusehen sein.

Gisin: Ja, sehr! Besonders dass Michelle kürzlich in Semmering im Slalom die Goldmedaille gewann, hat mich enorm gefreut. In dieser Disziplin ist das Niveau der Frauen am höchsten. Zu sehen, wie Michelle fährt, die Skis laufen lässt und Risiken nimmt, macht sehr viel Spass.

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