Ansturm auf Luzerner Beratungsstellen

Sozialer Lockdown: «Jugendliche trifft es besonders hart»

Jugendliche klopften unter anderem bei Beratungsstellen an, weil sie sich einsam oder unverstanden fühlten. (Bild: Yuris Alhumaydy/Unsplash)

Jugendlichen macht die Corona-Krise zu schaffen. Vor allem, weil das soziale Leben eingeschränkt wird und der Austausch mit Gleichgesinnten fehlt. Luzerner Beratungsstellen verzeichnen deswegen einen massiven Anstieg der Anfragen – teilweise sind es bis zu 70 Prozent mehr als im Vorjahr.

Jugendliche fühlen sich einsamer. Haben Angst, Freunde zu verlieren. Fühlen sich teilweise depressiv.

Die Corona-Krise nagt an der Psyche vieler. Das spüren auch Jugend- und Familienberatungen, die derzeit massiv mehr zu tun haben als in normalen Zeiten.

Bei der Luzerner Jugend- und Familienberatung Contact sind die Beratungen in den Monaten Juli und August um rund 70 Prozent gestiegen. «Hier liegt die Vermutung nahe, dass dies mit der Situation rund um Covid-19, den Lockerungen und dem Zurückfinden in den Alltag zu tun hat», schreibt Leiterin Anja Meinetsberger auf Anfrage von zentralplus.

Depressive Verstimmungen und Ängste haben sich zugespitzt

Neben den üblichen Themen wie Ablösung von den Eltern, Berufswahl, Freundschaft und Liebe gab es in letzter Zeit andere Punkte, die öfter aufs Tapet kamen.

«Bei einigen Jugendlichen haben sich gewisse Themen wie Schulverweigerung, depressive Verstimmungen oder auch Ängste während des Lockdowns zugespitzt», so Meinetsberger. Sie vermutet, dass sich diese, je länger die Einschränkungen anhalten, noch mehr zuspitzen werden.

Inwiefern diese Probleme mit der Corona-Krise zusammenhängen, wird sich wohl erst in den nächsten Monaten zeigen. Laut der Leiterin der Jugendberatungsstelle gibt es aber Einzelfälle, bei denen der Zusammenhang offensichtlich ist. Sie erzählt von Jugendlichen, die während des Lockdowns aus der Alltagsstruktur fielen und ihre freie Zeit mit exzessivem Gamen genutzt haben.

Ein Teufelskreis. Denn das wiederum führte zu schlechteren Schulleistungen und zu mehr Konflikten mit den Eltern.

Auch schweizweit haben die Jugendberatungen stark zugenommen

Auch schweizweit steigen die Zahlen im Bereich der Jugendberatungen. So haben auch die Beraterinnen des Sorgentelefons 147 der Stiftung Pro Juventute massiv mehr zu tun:

Jugendliche suchten Hilfe, weil sie sich einsam oder unverstanden fühlen. In diesem Bereich haben die Beratungen seit März im Vergleich zum Vorjahr um 41 Prozent zugenommen. Die Zahl der Gespräche über Konflikte mit Eltern stieg um fast 50 Prozent, jene zum Thema Freunde verlieren um satte 153 Prozent. Dafür haben in Zeiten des Fernunterrichts deutlich weniger Jugendliche Hilfe rund ums Thema Mobbing gesucht.

Jugendlichen fehlt der soziale Austausch massiv

Hier findest du Hilfe

Wähle die Nummer 143 der «Dargebotenen Hand», wenn es dir schlecht geht. Kostenlos und rund um die Uhr wird dir auch über die Nummer 147 (Pro Juventute) geholfen.

Eltern finden beim Elternnotruf über die Nummer 0848 35 45 55 kostenlos und anonym Unterstützung.

Bernhard Bürki ist Mediensprecher bei Pro Juventute Schweiz. Er sagt, dass die Jugendlichen insbesondere während des Lockdowns vermehrt Unterstützung gesucht haben. Mit den Einschränkungen haben je nach Thema erneut mehr Jugendliche ein Gespräch gesucht.

«Viele haben insbesondere mit dem eingeschränkten Sozialleben zu kämpfen», sagt Bürki. Meinetsberger von der Beratungsstelle Contact sieht das ähnlich. «Die Einschränkungen, die die Jugendlichen in ihrem Leben momentan erfahren, sind meiner Meinung nach nicht zu unterschätzen.» Sowohl in der Freizeit als auch in der Schule seien vor allem die Bereiche betroffen, in denen es um soziale Interaktion und um soziale Kontakte ginge.

Die Nachtclubs sind zu, Konzerte und Events werden reihenweise abgesagt, die sozialen Kontakte sollen auf ein Minimum reduziert werden. «Jugendliche trifft das besonders hart», sagt Bürki. «Denn sie definieren ihren Selbstwert und ihr Selbstvertrauen stark durch den sozialen Austausch mit ihren Freunden.»

«Jugendliche können den sozialen Austausch nicht 1:1 übers Smartphone kompensieren.»

Bernhard Bürki, Mediensprecher Pro Juventute

Anders als bei einem erwachsenen Familienvater sei das soziale Netz bei Jugendlichen viel weniger gefestigt. Auch brauchen Jugendliche die Bestätigung aus ihrem Kollegenkreis. In der jetzigen Zeit fehlt das oftmals, denn digitale Kommunikationsplattformen reichen nicht als Ersatz, so Bürki. «Jugendliche können den sozialen Austausch nicht 1:1 übers Smartphone kompensieren.»

Zweifel, dass Jugendliche derzeit den richtigen Beruf wählen

Neben den psychologischen Aspekten befürchtet Anja Meinetsberger aber auch noch ganz andere Konsequenzen. Sie zählt auf: Die Schnupperlehre könnte kurzfristig abgesagt werden. Der Zukunftstag wurde in vielen Firmen gestrichen. Die Zentralschweizer Bildungsmesse fällt ins Wasser. 

«Der Berufswahlprozess, der für Jugendliche so zentral ist, kann zurzeit nur ungenügend garantiert werden – mit Folgen fürs ganze Berufsleben.»

Anja Meinetsberger, Leiterin Contact

«Später erhält die betroffene Jugendliche zwar eine Lehrstelle, muss jedoch feststellen, dass der Beruf gar nicht zu ihr passt. Der Berufswahlprozess, der für Jugendliche so zentral ist, kann zurzeit nur ungenügend garantiert werden – mit Folgen fürs ganze Berufsleben.»

Auch Eltern sind besorgter

Genauso wie die Sorgen bei den Jugendlichen in Krisenzeiten grösser werden, suchen auch ihre Eltern öfter Hilfe. Bei Pro Juventute sind die Elternberatungen seit März um 28 Prozent gestiegen.

«Das wichtigste Thema für Eltern war die Familienorganisation, also die Vereinbarkeit der verschiedenen Rollen und Ansprüche», sagt Bürki. «Zum Beispiel, zu Hause sowohl zu arbeiten als auch die Kinder zu unterrichten, und familiäre Konflikte.»

Bei der Luzerner Jugend- und Familienberatung sind dabei auch konkrete Fragen zu Themen wie Quarantäne und Maskenpflicht aufgekommen, oder wie Eltern mit ihren Kindern mit der Nachrichtenflut umgehen sollen.

So kannst du helfen

Du bemerkst, dass es einem Freund über mehrere Wochen nicht gut geht? Seine Gedanken kreisen, er ist schwer zu motivieren oder kommt kaum aus dem Bett? Er zeigt wenig Interesse? Das kannst du tun:

  • Frage genauer nach, was los ist und bleibe in engem Kontakt.
  • Bei Depressionen und Ängste gilt: «Wenn Jugendliche sich mindestens zwei Wochen am Stück von Freunden, Schule, Familie zurückziehen, ihre Freizeitaktivitäten vernachlässigen und ungewohnt bedrückt sind, sind das Alarmzeichen», sagt Anja Meinetsberger von der Luzerner Jugend- und Familienberatung Contact.
  • Ein offenes Gespräch klärt schnell, ob Eltern beruhigt sein können oder eingreifen müssen. 
  • Wenn Jugendliche ängstlich sind, ist es gut, aufzuzeigen, dass ein übermässiger Konsum von Nachrichten Ängste schüren kann. Ideal ist es laut Meinetsberger festzulegen, wie oft Nachrichten zum Thema Corona gelesen werden dürfen.
  • Als Eltern soll man Ängste nicht bagatellisieren, sondern ernst nehmen und gemeinsam nach Lösungen suchen.

Meinetsberger sagt, dass Jugendliche immer wieder dankbar sind, wenn sie von ihren Kollegen oder ihren Eltern in die Beratungsstelle begleitet werden. «So kann die Schwelle, sich Hilfe und Unterstützung zu holen, abgebaut werden.» Es gilt: Je früher Hilfe angenommen wird, desto einfacher ist meist eine Veränderung.

Für Eltern sei es hilfreich, sich mit einer neutralen Person auszutauschen. So können sie im Gespräch herauszufinden, wie sie ihre Beobachtungen bezüglich ihres Kindes einordnen und sie darauf ansprechen können.

Du fühlst dich einsam? Hier kannst du ein Interview mit einer Zuger Psychotherapeutin nachlesen. Zudem findest du hier Tipps, was gegen das Alleinsein hilft:

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