Er besucht Gefangene im Grosshof

Seelsorger: «Das Gefängnis ist keine Insel, wo all die Bösen sind»

Hansueli Hauenstein, der reformierte Gefängnisseelsorger, in einer Zelle im Grosshof in Kriens. (Bild: ber)

Hansueli Hauenstein hat ein offenes Ohr für jene, die «abtrünnig» geworden sind. Als reformierter Pfarrer kümmert er sich seit neun Jahren um Menschen, die in Kriens im Gefängnis sitzen. Dabei hat er Dinge an sich entdeckt, die ihm selbst nicht ganz geheuer sind.

Hansueli Hauenstein kommt als Besucher ins Gefängnis Grosshof. Und so verhält er sich auch. Er klopft höflich an die Zellentüre und betritt den Raum nur, wenn er dazu eingeladen ist. Nie setzt er sich einfach so auf den einzigen Stuhl in der kargen Behausung. Er wartet, bis sein Gesprächspartner ihm den Platz anbietet.

Seine Gesprächspartner sind meistens Männer. Vielleicht einer, der eine Geldstrafe nicht bezahlt hat und ersatzweise ein paar Tage absitzen muss. Vielleicht ist es aber auch einer, der verdächtigt wird, jemanden umgebracht zu haben. Oder einer, der sich an Kindern vergangen haben soll.

Viele Gefangene, die Hauenstein besucht, befinden sich in Untersuchungshaft, wie er zentralplus bei einem Treffen im Gefängnis erzählt. Es ist möglich, dass sie nicht getan haben, was ihnen vorgeworfen wird.

Doch der Seelsorger will nicht vorher wissen, worum es geht. Und er kümmert sich auch nicht um die Frage, ob jemand schuldig ist. «Ich versuche den Menschen zu begegnen, ohne zu urteilen», sagt er. Das Urteilen, das sei Aufgabe der Gerichte, nicht seine.

Plötzlich vollkommen isoliert

Einmal in der Woche klopft Hauenstein am Donnerstagnachmittag an die Zellentüren. Sie bleiben ihm selten verschlossen. Die meisten empfinden es als Erleichterung, dass überhaupt jemand vorbeikommt.

In die U-Haft zu kommen, ist für die Gefangenen ein Schock. Von einem Moment auf den anderen sind sie während 23 Stunden alleine in einem Raum eingesperrt. «Man ist abgeschnitten von der Umwelt und völlig isoliert», sagt Hauenstein.

Die Betroffenen wissen nicht, wie es der Familie geht, wer die Katze füttert, wer den Chef informiert. Sie verlieren alle Mitbestimmungsrechte.

Die Zauberfrage: «Wie geht es Ihnen?»

Der Seelsorger hat es noch nie erlebt, dass das einer einfach so weggesteckt hätte. Psychosomatische Reaktionen sind die Regel: Von Rückenschmerzen bis zu Herzbeschwerden, die aufgrund der psychischen Belastung auftreten.

«Delikte entstehen aus dem Leben heraus, sie haben eine Vorgeschichte.»

Wenn Hauenstein redet, dann tut er es ruhig und überlegt. Er selber kommt aus einem «behüteten und intellektuellen Umfeld», wie er sagt. Und doch hat er einen Zugang zu dieser männerdominierten Welt hinter den Gefängnismauern. Wie geht das? Die Antwort ist simpel. Die «Zauberfrage», wie er sie nennt.

«Wie geht es Ihnen?», sagt er, wenn er in der Zelle Platz genommen hat. Und dann sagt er meistens eine ganze Weile nichts mehr, weil der andere ganz viel loswerden muss. Das drängendste Thema zu Beginn: die Familie. Erfahrungsgemäss reden die Gefangenen später über das, was sie getan haben.

«Delikte entstehen aus dem Leben heraus, sie haben eine Vorgeschichte», sagt Hauenstein. «Damit meine ich nicht, dass man sie wegerklären kann oder sollte. Aber eine Straftat ist immer verwurzelt in einer Person. Wenn ich im Gefängnis mit einem Menschen über seine aktuelle Situation spreche, geht das kaum, ohne dass das Delikt zur Sprache kommt.»

Der Seelsorger ist ein Spiegel für die Gefangenen

Oft wollen die Betroffenen sich selber erklären, wie es zur Tat kam. Ganz besonders bei Beziehungsdelikten. «Es ist meine Aufgabe, empathisch zu sein, sonst ist ein Gespräch nicht möglich. Das heisst aber nicht, dass ich eine Tat gutheisse», betont Hauenstein. «Empathie heisst für mich, dass ich die Perspektive eines anderen einnehme. Und mal schaue, wie die Welt aus diesem Blickwinkel aussieht.»

Hauenstein sieht sich als Spiegel für die Gefangenen. Auch wenn das seinen Gesprächspartnern teils nicht passt. «Einmal hat mir einer erzählt, wenn er rauskomme, werde er alles wieder gut machen. Er werde nicht mehr trinken und keine schnellen Autos mehr fahren. Ich habe zu ihm gesagt, dass ich ihm kein Wort glaube. Da hat er gelacht. Warum? Weil ich empathisch war. Und weil ich recht hatte.»

«Ich bin kein Verbrecher. Das ist ein Satz, den ich sehr oft höre.»

Manche denken, es reiche, einfach das Richtige zu sagen. Dass es einem leidtue zum Beispiel. «Solchen Aussagen traue ich nicht», sagt der Seelsorger. Der Wunsch nach Vergebung drücke sich in der Haltung eines Menschen aus. Und in seinem Verhalten.

«Die Schwierigkeit ist: Man muss sich mit sich selber versöhnen, aber auch mit den anderen. Im Gefängnis ist eine vertiefte Auseinandersetzung mit anderen kaum möglich. In den Gesprächen nehme deshalb oft ich diesen Part ein», sagt Hauenstein.

Taten lassen sich nicht rückgängig machen

Es gibt Menschen, die lange darüber reden, wie es zu einem Delikt gekommen ist. «Ich bin kein Verbrecher. Das ist ein Satz, den ich sehr oft höre. Meist folgen danach viele Erklärungen, welche die Frage nach der Verantwortlichkeit überdecken. Aber erst, wenn man diese selber erkennt, macht die Bitte um Vergebung überhaupt Sinn», sagt Hauenstein.

Hansueli Hauenstein klopft an den Zellentüren und sucht vor Ort das Gespräch mit den Gefangenen. Bild: ber

Die meisten Gefangenen wüssten ganz genau, was sie getan haben und dass es falsch war. «Dass das einer einfach so wegsteckt, habe ich noch nie erlebt. Man kann es aber nicht rückgängig machen und nicht verschwinden lassen. Man muss damit leben.»

Es kommt vor, dass ein Täter einen Brief an die Opfer schreibe und ihn vorher von Hauenstein lesen lässt. «Ich finde es sehr wichtig, was sie schreiben. Schlimm sind Formulierungen wie ,Es tut mir leid, aber…’. Damit relativiert der Täter, was er getan hat. Im schlimmsten Fall schreibt er sogar: ,Es war schlimm, was ich getan habe, aber Du…’ - und schiebt dem Opfer damit die Schuld zu.» Damit sei niemandem geholfen.

Viele Gefangene seien aber auch schlicht mit dem Schreiben überfordert und es nicht gewohnt, auf Papier zu bringen, was in ihnen vorgeht. Deshalb unterstützt Hauenstein sie dabei, wenn sie das möchten.

Das Schlechte findet sich überall

Was aber, wenn einer keinerlei Reue zeigt? Kein Mitgefühl mit den Opfern empfindet? «Ich hatte bislang noch nie mit einem pathologischen Sadisten zu tun. Aber ja, ich habe auch schon mal gedacht: Das ist ein schlechter Mensch», sagt Hauenstein. Dieser Gedanke komme ihm aber nicht nur im Gefängnis, sondern auch draussen.

Regeln wurden verschärft

Der reformierte Pfarrer Hansueli Hauenstein ist der einzige Gefängnisseelsorger in der Krienser JVA Grosshof, der die Gefangenen noch alleine in ihren Zellen besuchen kann. Sein katholischer und sein muslimischer Kollege halten die Gespräche in einem Anwaltsbüro ab. Hintergrund ist ein Vertrauensbruch des früheren katholischen Seelsorgers in der JVA Grosshof, der 2017 wegen mehrfacher Begünstigung und versuchter sexueller Handlungen verurteilt wurde. Nach Bekanntwerden des Falls verschärfte der Kanton die internen Richtlinien. Neue Seelsorger dürfen sich in den Zellentrakten nicht mehr alleine bewegen.

Der Grosshof hat Platz für 120 Gefangene, davon 12 Frauen. Letztere darf auch Hansueli Hauenstein nur im Anwaltszimmer ausserhalb der Abteilung treffen. In der JVA Grosshof werden neben der Untersuchungshaft auch Freiheitsstrafen vollzogen. Die Seelsorge arbeitet eng mit dem Sozial- und Gesundheitsdienst sowie dem Betreuungsteam des Grosshofs zusammen.

«Das Gefängnis ist keine Insel, wo all die Bösen sind und ausserhalb davon sind die Guten. Hier finden sich alle Charaktere, alle Sprachen, alle Kulturen und Bildungsgrade.» Die meisten Menschen seien sich nicht bewusst, wie schnell es gehen kann, dass man ins Gefängnis kommt.

Hauenstein sagt, er habe bei seiner Arbeit als Gefängnisseelsorger viel über sich gelernt. «Es kommt vor, dass ich mit einem Gefangenen rede und mich unwillkürlich selber frage: Wie hätte ich in der Situation reagiert? Und wenn ich ehrlich bin, es gibt Momente, in denen ich sagen muss: Vermutlich genau gleich.» Auch wenn das ganz und gar nicht in sein Selbstbild passe.

Man mag kaum glauben, dass es so ist. Aber Hauenstein sagt es mit grossem Ernst. «Das sind dann meistens Taten, die aus dem Affekt heraus passieren: wenn sich ein Mensch völlig in die Ecke gedrängt fühlt und keinen anderen Handlungsspielraum mehr sieht. Wenn die Worte ausgehen, kommt es zu Gewalt.»

Zu Gott finden? Das ist nicht immer gut

«Ich war im Gefängnis, und ihr seid zu mir gekommen», heisst es im neuen Testament. Für Hauenstein ist die Kirche aber nicht die einzige Instanz, wenn es um die Frage geht, warum er diese Arbeit macht. «Ich bin hier, weil gesetzlich vorgeschrieben ist, dass die Gefangenen im Gefängnis möglichst so leben sollen, wie sie es in Freiheit täten. Und da gehört die Seelsorge dazu», sagt er.

Sein Ziel sei nicht, neue Kirchengänger zu rekrutieren. Er steht Wandlungen «vom Saulus zum Paulus» skeptisch gegenüber. «Ins Gefängnis zu kommen, ist – wie die Geburt eines Kindes oder der Tod eines nahen Menschen – ein extrem einschneidendes Erlebnis. Es kommt vor, dass die Gefangenen deshalb plötzlich zu Gott finden.» Das sei zwar ein guter Anfang für ein Gespräch. Aber es sei nicht per se gut.

Manchmal würden sich Gefangene autoritären Formen der Religion zuwenden. «Oder sie missbrauchen Religion nach dem Motto: Gott hat das alles geplant. Das ist nicht förderlich, weder für die psychische Gesundheit der Gefangenen noch für die Aufarbeitung des Delikts.»

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