Verdingkinder im grössten Zuger Kinderheim

Schläge und Essensentzug als trauriger Alltag

Die Bilder, die der Fotoreporter Paul Senn von den mageren und traurigen Buben in der Erziehungsanstalt Sonnenberg in Kriens in den 40er-Jahren machte, wurden archetypisch für das Los von Heim-, Anstalts- und Verdingkindern.

(Bild: Paul Senn/www.wiedergutmachung.ch)

Versorgt, verwahrt oder verdingt wurden Kinder aus «schwierigen Verhältnissen» auch im Kanton Zug. Die Zuger Historikerin Gisela Hürlimann hat die traurigen Schicksale von Zöglingen erforscht, die im Kinderheim Marianum in Menzingen lebten. Es ist ein Blick in Abgründe.

Kinder und Jugendliche wurden bis weit ins 20. Jahrhundert in der ganzen Schweiz ihren Eltern entrissen, in Heime gesteckt, an Bauernhöfe verdingt oder in Erziehungs- und Strafanstalten administrativ versorgt. Oft erlebten sie dort Demütigungen und Misshandlungen.

Das Thema ist aktuell, weil die Opfer jetzt eine Wiedergutmachung für die erlittenen Qualen beantragen können. Am Freitagabend, 3. Februar, findet in der Bibliothek Zug ein First-Friday-Anlass zum Thema «Verdingkinder» statt (Beginn 18 Uhr).

«Es ist zu lange weggeschaut worden.»
Joachim Eder, Zuger Ständerat

Der Zuger FDP-Ständerat Joachim Eder hat sich als erster bürgerlicher Politiker klar für die Wiedergutmachungsinitiative ausgesprochen und sich dafür im Initiativkomitee eingesetzt. Er wird den schwierigen politischen Weg der Wiedergutmachungsinitiative von der Idee bis zur Schlussabstimmung über den Gegenvorschlag in den eidgenössischen Räten schildern.

«Das ist ein Drama respektive viele verschiedene Dramen», sagt der Ständerat auf Anfrage. Es gebe rund 20’000 Betroffene in der ganzen Schweiz. «Dass man ihnen jetzt eine finanzielle Hilfe gibt, macht ihr Leid nicht rückgängig», sagt er.

Das Institut Menzingen hat sich entschuldigt – und bezahlt

Was denken die heutigen Menzinger Schwestern über die Verfehlungen? Laut Schwester Antoinette Hauser, Provinzoberin der Menzinger Schwestern, waren die Vorfälle im Kinderheim Marianum (sowie anderen von den Nonnen geführten Institutionen) durchaus ein Thema in den letzten Jahren. «Da unsere Schwestern in der Vergangenheit in verschiedenen Heimen tätig waren, nicht nur im Marianum, hat das Institut Menzingen schon im August 2010 eine Spezialkommission bestellt», schreibt Hauser zentralplus. Diese Spezialkommission habe den Auftrag gehabt, alle eingehenden Anfragen und Meldungen bezüglich Missbrauchsfällen aufzuarbeiten.

«Die Kommission hat mit allen Personen, die sich bei uns gemeldet haben, unverzüglich Kontakt aufgenommen und das Gespräch angeboten.» In den überwiegenden Fällen sei dieses Angebot angenommen worden und es sei «zu sehr guten Gesprächen» gekommen. Die Provinzoberin fügt hinzu: «Meistens waren die Betroffen mit einer Entschuldigung der Provinzleitung befriedigt, und mit der gegenseitigen Unterzeichnung des Ausspracheprotokolls war die Angelegenheit erledigt.»

Bei den meisten Klagen sei es um missbräuchliche Körperstrafen und nicht um sexuelle Übergriffe übergegangen, schreibt Hauser weiter. «Es gab nur wenige finanzielle Forderungen. Das Institut Menzingen hat schon früh einen namhaften Betrag in den freiwilligen Wiedergutmachungsfonds einbezahlt.» Die Provinzoberin wollte sich zur Höhe des einbezahlten Betrags oder der Anzahl Missbrauchsfälle nicht äussern. Es sei den Schwestern nicht bekannt, wer sich beim Wiedergutmachungsfonds gemeldet habe.

Sie schätzten die Geste des Staates aber sehr, habe er in vielen Gesprächen mit Opfern von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen erfahren. «Diese Menschen», so Joachim Eder, «sind in ihrer Freiheit, ihrer Würde und ihrem Recht auf körperliche Unversehrtheit schwer verletzt worden.» Es sei zu lange weggeschaut worden.

Wie war die Situation in Zug?

Die Zuger Historikerin Gisela Hürlimann hat für ihre Lizentiatsarbeit die Situation in Zug bereits vor Jahren erforscht. Der Titel ihrer Arbeit lautet «Versorgte Kinder – Kindswegnahme und Kindsversorgung 1912–1947 am Beispiel des Kinderheims Marianum Menzingen». Die promovierte Historikerin arbeitet heute in leitender Funktion bei der Professur für Technikgeschichte der ETH Zürich.

 

Gisela Hürlimann. Die Wissenschaftlerin und Baarerin erforschte die Zuger Sozial- und Heimgeschichte.

Gisela Hürlimann. Die Wissenschaftlerin erforschte die Zuger Sozial- und Heimgeschichte.

(Bild: PD)

zentralplus: Frau Hürlimann, in der Schweiz läuft nun die Wiedergutmachung an. Wie ist die Situation im Kanton Zug, wurde das Thema wissenschaftlich aufgearbeitet?

Gisela Hürlimann: In Zug gab es nach meinem Wissensstand bisher nicht sehr viele Untersuchungen. Meine Lizentiatsarbeit über das Kinderheim in Menzingen war eine davon.

zentralplus: Gab es hier viele solche Kinderheime und Erziehungsanstalten?

Hürlimann: Anfänglich waren einige Waisenheime mit «Arbeiterheimen» verbunden, diese kamen mit der Fabrikindustrialisierung im 19. Jahrhundert auf. Im Fall von Menzingen war dies etwa die Erziehungs- und Arbeitsanstalt am Gubel, die auch von Menzinger Schwestern geleitet wurde. Dorthin kamen die älteren Kinder aus der «Waisenanstalt in der Euw», wie das Marianum zuerst hiess. Anstaltskinder mussten im Ägerital bis in die 1860er-Jahre und in Hagendorn bis in die 1880er-Jahre in den Spinnerei- und Weberei-Fabriken arbeiten. Im Zuge der Fabrikgesetze kam man davon ab.

 

«Im Fall der jenischen ‹Kinder der Landstrasse› war die Wegnahmepolitik systematisch und klar diskriminierend.»
Gisela Hürlimann

zentralplus: Stichwort «versorgte Kinder»: Wie und aus welchen Gründen landeten sie in den Heimen?

Hürlimann: Teilweise waren es Waisenkinder. Zum grössten Teil waren es aber Kinder, die man den Eltern weggenommen hatte, weil sie angeblich oder tatsächlich «verwahrlost» waren. Oder Kinder von alleinstehenden Müttern. 1912 wurde die rechtliche Grundlage im Zivilgesetzbuch dafür geschaffen. Teilweise hatte man durchaus gute Absichten und dachte, zum Wohle des Kindes zu handeln. Die Behörden intervenierten in Familien, wo es tatsächlich nicht zum Besten bestellt war. Aber leider hielten Behörden und Versorgungsanstalten oft ihre eigenen Ansprüche nicht ein. Und im Fall der jenischen «Kinder der Landstrasse» war die Wegnahmepolitik systematisch und klar diskriminierend.

zentralplus: Was gab es für soziale Probleme in diesen Familien?

Hürlimann: Sie hatten oft Geld-Probleme, der Vater arbeitslos, manchmal kamen Alkoholprobleme dazu. Oft wandte sich dann eine Mutter an die Bürgergemeinde und bat um finanzielle Unterstützung. Diese gewährte man ihr aber nur unter gewissen Bedingungen. Zum Beispiel kamen vier von sieben Kindern in Heime. Das war auch günstig für den Staat, denn die Unterbringung von Kindern in den von Nonnen geführten katholischen Heimen kostete nicht viel. Tendenziell nahm man Eltern aus gewissen Schichten die Kinder weg, es waren meist Arbeiterfamilien oder Kleingewerbler. In bäuerlichen oder mittelständischen Familien intervenierten die Behörden dagegen viel seltener.

Das Kinderheim Marianum (im Vordergrund) wurde 1985 abgebrochen. Das Schulhaus (rechts oben) existiert noch und heisst ebenfalls Marianum.

Das Kinderheim Marianum (im Vordergrund) wurde 1985 abgebrochen. Das Schulhaus (rechts oben) existiert noch und heisst ebenfalls Marianum.

(Bild: PD)

zentralplus: Kommen wir zum Kinderheim Marianum der Schwestern in Menzingen. Woher kamen die Kinder, die dort untergebracht waren?

Hürlimann: Teilweise aus Zuger Gemeinden, aber auch aus anderen katholischen Gebieten wie Luzern oder dem St. Galler Rheintal. Im Marianum, wie in einem weiteren Heim in Hagendorn, wurden auch «Kinder der Landstrasse» durch die Pro Juventute oder durch das Seraphische Liebeswerk versorgt. Die Kinder mussten heuen, holzen und auf den Feldern arbeiten. Die älteren Kinder wurden, wenn sie die obligatorische Schulzeit beendet hatten, später oft als Knecht, Magd oder Haushalthilfe an Bauern und Gewerbetreibende im Kanton Zug vermittelt. Viele hatten keine Aussicht auf eine Lehre und lebten später in ärmlichen Verhältnissen.

zentralplus: Was weiss man sonst noch über diese Kinder. Welche Spuren haben Sie von ihnen in den Archiven gefunden?

Hürlimann: Meine Ausgangsquellen waren zwei Bände im Archiv der Hilfsgesellschaft Menzingen. Diese betrieb das Kinderheim Marianum. Es waren «Kinderverzeichnisse» respektive Kassabücher von 1912 bis 1945 mit insgesamt 621 Einträgen, die rund 930 Kinder betreffen. Es befanden sich zwischen minimal 110 Kinder (Ende 1927) und 140 Kinder (Ende 1932) im Heim. Das Alter schwankte. Es hatte Kleinkinder von eins bis drei Jahren bis zu Jugendlichen von maximal 15 Jahren im Heim.

«Ich fand Hinweise, dass die Schwestern zum Beispiel Butter, die sie von Bauern erhielten, nicht gerecht auf die Kinder weiterverteilten.»

zentralplus: Sie schildern in Ihrer Studie Missbräuche. Was ist in Menzingen passiert?

Hürlimann: Ich fand Akten zu einer richterlichen Untersuchung von 1946–1947, weil Kinder und Jugendliche über Jahre körperlich misshandelt worden seien. Diese Untersuchung wurde in Reaktion auf einen Artikel in der Zeitung «Vorwärts» von 1946 lanciert. Darin kamen ehemalige Marianum-Zöglinge zu Wort. Die Befragungen zeigten: Die Heimkinder wurden oft geschlagen, oder man bestrafte sie mit Essensentzug. Interessant ist, dass einige der damals befragten ehemaligen oder Noch-Zöglinge die Schwestern und den Lehrer fürs Schlagen nicht verurteilten. Dass aber massiv geschlagen wurde, das stellte niemand in Abrede. Auch die Strafen für Bettnässen waren hart. Im Zweiten Weltkrieg war zudem das Essen rationiert. Ich fand Hinweise, dass die Schwestern zum Beispiel Butter, die sie von Bauern erhielten, nicht gerecht auf die Kinder weiterverteilten.

«Die konservativen ‹Zuger Nachrichten› beschuldigten damals das freisinnig geprägte ‹Zuger Volksblatt›, es würde mit seiner kritischen Berichterstattung eine ‹katholische Anstalt› diffamieren.»

zentralplus: Was war das Ergebnis der Strafuntersuchung, wurde jemand entlassen oder verurteilt?

Hürlimann: Nein. Der Fall wurde abgeschlossen, niemand wurde bestraft. Man hat das intern durch die Versetzung der damaligen leitenden Schwester des Marianums geregelt. Dass alle so glimpflich davonkamen, hatte auch damit zu tun, dass der Verhörrichter den Hauptzeugen, der in der Presse die Sache ins Rolle gebracht hatte, als «erblich belastet» und «asozial» darstellte. Das zeigt die zeittypische Einstellung, die bis in die 1940er-Jahre verbreitet war und durch die viele Menschen auch in der Schweiz viel Leid erfahren haben. Weil es sich beim «Vorwärts» um eine linke Zeitung handelte, wurde die Sache teilweise auch als anti-katholischer Feldzug wahrgenommen. Die konservativen «Zuger Nachrichten» beschuldigten das freisinnig geprägte «Zuger Volksblatt», es würde mit seiner kritischen Berichterstattung eine «katholische Anstalt» diffamieren.

zentralplus: Sie haben auch im Klosterarchiv geforscht. Wie sind Sie im Kloster Menzingen empfangen worden, als Sie erzählten, dass Sie über ein so heikles Thema forschen wollten?

Hürlimann: Sehr offen. Ich bin im Archiv des Klosters, das damals von der gegenüber dieser Forschung sehr aufgeschlossenen Schwester Dr. Uta Fromherz geleitet wurde, zuerst auf Unterlagen zur Missbrauchsaffäre gestossen. Sie ermöglichten eine interessante Erweiterung der zeitgenössischen Anstalt-Skandalisierung, für die Mitte der 1940er insbesondere die Zeitung «Nation», ihr Redaktor Peter Surava und die Erziehungsanstalt Sonnenberg bei Kriens standen.

Ein weiteres Foto von Paul Senn, das ein Mädchen im Heim zeigt.

Ein weiteres Foto von Paul Senn, das ein Mädchen im Heim zeigt.

(Bild: Paul Senn/www.wiedergutmachung.ch)

zentralplus: Das müssen Sie genauer erklären,was meinen Sie mit Anstalt-Skandalisierung?

Hürlimann: Von 1942 bis zirka 1944 wurden schlimme Zustände in Kinderheimen und bei Bauern, die Verdingkinder hatten, in verschiedenen Reportagen thematisiert. Das muss man im Kontext der vorgezogenen Nachkriegszeit sehen. Man war nicht mehr bereit, unter dem Deckel der «Geistigen Landesverteidigung» alles unter den Teppich zu kehren. Als klar war, dass die Nazis den Krieg verlieren würden, wurde quasi aufgeräumt. Solche Reportagen, die von eindrücklichen Bildern begleitet wurden, rüttelten die Öffentlichkeit auf und zeigten Wirkung: Die Knabenerziehungsanstalt Sonnenberg bei Kriens wurde wegen Brutalität und Ausbeutung geschlossen.

zentralplus: Was haben die erforschten Schicksale bei Ihnen ausgelöst?

Hürlimann: Meine nun schon 17 Jahre zurückliegende Lizentiatsarbeit brachte mich und die Leserinnen und Leser auf die Spuren ganz unterschiedlicher Kinder und ihrer Schicksale. Das ging und geht nahe. Gleichwohl habe ich mich bemüht, wissenschaftlich-historische Distanz und Objektivität walten zu lassen.

zentralplus: Wie haben die heutigen Menzinger Schwestern auf die Verfehlungen ihrer Vorgängerinnen reagiert?

Hürlimann: Schwester Uta Frommherz, die selber Historikerin war, war froh, dass jemand das Thema einmal aufarbeitete und darstellte, und zwar aus eigenem Antrieb. Ich habe ja nicht wegen eines politischen Vorstosses oder im Rahmen einer Kommission dazu gearbeitet. Von der Menzinger Bürgergemeinde, die das Archiv der Hilfsgesellschaft verwaltete, erhielt ich ebenfalls ein positives Echo. Auch dort hatte man meine Forschung mit einem grosszügigen Zugang zum Archiv unterstützt. Das galt übrigens auch für die weiteren Institutionen, mit denen ich zu tun hatte.

«Die Frage stellt sich besonders deutlich, wenn die Kinder in die Obhut geistlicher Personen gebracht wurden, die sich eine besondere ethische Orientierung zur Berufung gemacht hatten.»

zentralplus: Kamen Sie durch Ihre Arbeit in Kontakt mit ehemaligen Heimkindern?

Hürlimann: Meine Arbeit ist auf der Webseite des Zürcher Forschers Thomas Huonker aufgeschaltet, so kontaktierten mich einige Personen. Vor fünf Jahren hat mir eine Frau geschrieben, deren Mutter in diesem Heim lebte. Sie wollten gerne meine Arbeit lesen. Ein Pater, der als Kind mit Heimkindern aus dem Marianum zur Schule gegangen war, schrieb mir vor wenigen Wochen. Er kannte dies alles aus den Schilderungen seiner Schulkameraden. Er hat noch heute im Ohr, wie der Schularzt bei den Marianum-Buben sagte: «Warum seid ihr auch alle so mager?» Und er fragte sich schon damals, warum niemand etwas unternahm.

Eine historische Postkarte vom heute noch existierenden Schulhaus Marianum in Menzingen.

Eine historische Postkarte vom heute noch existierenden Schulhaus Marianum in Menzingen.

(Bild: PD)

zentralplus: Heute haben wir die Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB), die auch immer wieder Kritik einstecken muss. Gibt es Parallelen mit damaligen Zuständen, wenn die KESB heute den Eltern die Kinder wegnimmt oder andere Massnahmen verfügt?

Hürlimann: Ich habe schon davon gehört, dass Kinder aus Migrantenfamilien in Heimen oder bei Massnahmen übervertreten sind. Dem müsste man einmal systematisch nachgehen und schauen, wie das erfolgt, was es für Kinder und Eltern bedeutet und ob es auch anders ginge. Dann hätte man etwas aus der Geschichte gelernt.

zentralplus: Aus heutiger Sicht zu urteilen, ist immer einfach. Zu welchem Schluss sind Sie gekommen bezüglich Recht und Unrecht an damaligen Massstäben gemessen?

Hürlimann: Auch wenn viele Lebensverhältnisse der Kinder auch aus damaliger Sicht unhaltbar waren, stellt sich doch die folgende ethische Frage, an der man auch aus heutiger Sicht die Verantwortlichen – die Vormünder, Versorger, Gemeinderäte, Lehrer, Schwestern, Pfarrer, Bauern und Bäuerinnen, Pflegefamilien – messen kann: Wurden die Lebens-, Erziehungs- und Bildungsbedingungen, welche die Kinder im Heim oder in der Pflegefamilie erfuhren, den Ansprüchen und Begründungen, mit denen man sie ihren Eltern weggenommen hatte, wirklich gerecht? Wurde ihr Leben verbessert? Oder wie oft wurde diesen Kindern stillschweigend oder explizit ein minderes Leben mit nur bescheidenen oder gar keinen Aussichten auf soziale Mobilität zugedacht?
Die Frage stellt sich besonders deutlich, wenn die Kinder in die Obhut geistlicher Personen gebracht wurden, die sich eine besondere ethische Orientierung zur Berufung gemacht hatten. Ich glaube, das ist im Kern auch die Frage, mit der die heutigen ehemaligen Verdingkinder und administrativ Versorgten ringen.

 

Das Kinderheim Marianum war das grösste Heim im Kanton Zug

Das Marianum war zwischen 1920 und 1940 das grösste Zuger Kinderheim, wie aus der Darstellung von Gisela Hürlimann hervorgeht. An zweiter Stelle folgte das Kinderheim Hagendorn-Cham. Etwas kleiner waren die Heime in Baar und in Oberägeri. Ein fünftes Heim war das Kinderheim Baar-Walterwil, das vom katholischen Priesterkapitel Zürich verwaltet und von den Chamer Heiligkreuz-Schwestern des Olivetanerordens für katholische Kinder geleitet wurde. Daneben gab es im Kanton Zug, vor allem im Ägerital, eine ganze Reihe von Kuranstalten für kranke Kinder.

Menzinger Schwestern an 400 Orten tätig

In dieser Zeit waren Menzinger Schwestern in über 400 Kindergärten, Schulen und Institutionen in der Schweiz tätig. Davon waren 1944 gemäss einer Ordenschronik 17 Kinderheime und 12 sogenannte Mädchen- und Damenheime. Die Menzinger Heime funktionierten wie ein Netzwerk und die Heimkinder und «Zöglinge» gelangten nicht selten von einer Anstalt in die andere, etwa vom Marianum nach Bremgarten, Lütisburg, Fischingen oder Hermetschwil – alles grössere Anstalten für angeblich oder tatsächlich sogenannt schwachbegabte oder schwererziehbare Kinder.

Anfangs der 1950er-Jahre war die Ära der Kinder- und Waisenheime im alten Stil vorbei, 1952 auch fürs Marianum. Das bisherige Heim wurde stärker in Richtung einer Betreuung für kleinere Kinder ausgerichtet.

1975 zogen sich die Nonnen zurück

Man stritt sich in den 1960ern jahrelang um eine pädagogische Neuausrichtung des Heims und die Finanzierung eines Neubaus. 1966 hatte das Marianum noch 71 Kinder. Die Hälfte stammte aus geschiedenen oder zerrütteten Familienverhältnissen oder war ausserehelich. Weitere Kinder waren solche mit «Schul- und Charakterschwierigkeiten» und eine dritte Gruppe Kinder von «Fremdarbeitern», Waisen und solche mit «familiären Schwierigkeiten», wie die Heimleitung in einem Bericht an den Einwohnerrat schrieb.

Weder die Menzinger Behörden noch der Bund wollte eine weitere bzw. eine neue Anstalt für diese aus Sicht der Schwestern «verwahrlosten» und «schwererziehbaren» Kinder finanzieren. Die Menzinger Schwestern zogen sich 1975 schliesslich zurück. Die Zeiten hatten sich gründlich gewandelt. 1985 wurde das Heim abgebrochen. Nur das 1940 erbaute Schulhaus trug den Namen Marianum weiter; es steht heute noch.

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2 Kommentare
  • Profilfoto von Albert Röllin
    Albert Röllin, 06.06.2020, 13:55 Uhr

    Ich bin in Menzingen aufgewachsen, und kenne das Marianum gut. In den Jahren 1955-1970
    sind in diesem Heim keine schlimmen Verfehlungen geschehen. Einige Nonnen waren sehr
    lieb zu den Kindern, andere waren eher zu streng. Sicher waren es keine Verhältnisse
    wie in einer guten Familie. Einig Kinder die ich kannte haben sehr an Heimweh und der
    fehlenden Mutterliebe gelitten.

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  • Profilfoto von Rolf Langenegger
    Rolf Langenegger, 14.08.2019, 23:27 Uhr

    Hallo

    Ich war 10 Jahre in diesem Heim ab 1952. Ich war damals 4 Jahre alt.
    Meine Eltern hatten mich nie besucht.
    Ich glaube diese Zeit hat mich bis heute geprägt.
    Das einzig Gute war die Natur, die war noch in Ordnung.

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