Regionales Leben
Das sagt die Wissenschaft zum Strassenprojekt

Was, wenn der Bypass Luzern nichts bringt?

Der Bypass soll die Stauprobleme vor den Toren Luzerns lösen. (Bild: Adobe Stock)

Mehr Strassen bedeuten mehr Verkehr. So lautet das Hauptargument aller Bypass-Gegner. Die Theorie dazu geht bis in die 1960er-Jahre zurück, seit einigen Jahren gibt es auch Daten. Diese liefern erstaunliche Erkenntnisse: An verstopften Strassen ändern neue Strassen gar nichts – mehr ÖV-Angebote aber auch nicht.

Kein Schweizer Strassenbauprojekt hat einen so sinnbildhaften Namen wie der Luzerner Bypass. Der Name ist Programm. Mit chirurgischer Präzision sollen die verengten Zustände auf den Autobahnen A2 und A14 gelöst werden und der Verkehr wieder fliessen – auch in der Innenstadt.

Dafür sind zusätzliche Autobahnspuren zwischen Buchrain und dem Ibach, eine dritte Röhre beim Tunnel Rathausen und – als Herzstück des Projekts – zwei neue Tunnelröhren durch den Sonnenberg geplant (zentralplus berichtete).

Ökonomen warnten schon früh

In der Regel ist die erste Karte, die Gegner solcher Strassenbauprojekte ausspielen, immer diese: «Mehr Strassen = mehr Verkehr». Als Autoaufkleber funktioniert das super, aber was steckt hinter dieser Gleichung? Und stimmt sie tatsächlich?

Die Theorie dahinter geht bis in die 1960er-Jahre zurück. Damals, in den absoluten Boomjahren der Automobilwirtschaft, begannen sich auch Ökonomen für die Verkehrsplanung zu interessieren. Der US-Amerikaner Anthony Downs warnte in diesem Zusammenhang bereits 1962 vor einer «induzierten Nachfrage».

Grob vereinfacht: Sobald man das Angebot an Strassen erhöht, steigt auch die Nachfrage, diese Strassen zu nutzen. Anhand mathematischer Modelle wurde dieses Phänomen mehrfach beschrieben, harte Daten dazu fehlten jedoch. Bis sie im Jahr 2011 plötzlich da waren.

Daten aus verschiedenen Städten verglichen

Unter dem verheissungsvollen Titel «Fundamentale Gesetzmässigkeit der Strassenüberlastung» veröffentlichten die nordamerikanischen Forscher Gilles Duranton und Matthew Turner eine wegweisende Studie.

Die beiden sammelten in verschiedenen US-Städten Daten dazu, wie viele Kilometer Strassen und Autobahnen (Highways) zwischen 1980 und 2000 in und um eine jeweilige Stadt gebaut wurden. Danach verglichen sie diese Zahlen mit dem Total an Kilometern, die in der gleichen Zeitspanne in der Stadt gefahren wurden. Das Resultat ist ein echter Hingucker.

Perfekte Eins-zu-eins-Beziehung

Je mehr Daten die beiden verglichen, desto deutlicher wurde der Befund: Zwischen der Erhöhung der Strassenkapazität und der Menge an Verkehr auf dieser Strasse herrscht eine perfekte Eins-zu-eins-Beziehung.

Erhöhte eine Stadt ihre Strassenkapazität innert zehn Jahren um zehn Prozent, nahm der Verkehr um genau zehn Prozent zu. Wuchs in derselben Stadt in den darauffolgenden zehn Jahren die Kapazität um elf Prozent, stieg auch die totale Zahl gefahrener Kilometer um elf Prozent. Die beiden Zahlen verändern sich im absoluten Gleichschritt.

Diese Beobachtungen veranlassten Turner und Duranton dazu, ihre «fundamentale Gesetzmässigkeit der Strassenüberlastung» zu formulieren. Dessen Kern lautet: Neue Strassen kreieren immer auch neue Fahrer, was in einer gleichbleibenden Verkehrsintensität resultiert.

Bund hofft auf Abflachung der Verkehrsentwicklung

Übertragen auf den Luzerner Bypass würde dies Verheerendes bedeuten. All die zusätzlichen Spuren und Tunnels würden das Stauproblem nicht lösen, stattdessen dürfte sich der Verkehr, in einer grösseren Dimension, innert weniger Jahre genau gleich weiterstauen.

Gemäss Angaben des Bundes reicht der Bypass aus, «um die anwachsende Verkehrsentwicklung, die aufgrund der verfügbaren Prognosen bis Mitte des Jahrhunderts realistisch erscheint, abzudecken». Theoretisch könnte das 1,7-Milliarden-Projekt frühestens 2024 starten. Die Bauphase dauert rund 12 Jahre. Das würde bedeuten, dass die Kapazitätsgrenze innert rund 15 Jahren erreicht wäre. Danach erwartet der Bund jedoch eine Abflachung der Verkehrsentwicklung.

Mobilität ist das «Problem»

Die Frage ist: Woher sollen denn all die neuen Fahrer plötzlich auftauchen? Aus der dünnen Luft jedenfalls nicht – aber aus allen Richtungen.

Ausgebaute Strassennetze erlauben eine erhöhte Mobilität. Man kann weiter weg von seinem Arbeitsplatz leben, schnell noch in die Stadt was einkaufen gehen etc. Um so attraktiver, günstiger und effizienter der Strassenverkehr ist, desto reger wird er genutzt. Ein Teufelskreis, der direkt zur Überlastung des Strassenverkehrs und zum Verlust von dessen Qualitäten führt.

Die beiden Forscher sprechen zusätzlichen Strassen nicht kategorisch die Zweckmässigkeit ab – die Daten würden den Schluss aber nicht zulassen, dass mehr Strassen zu einer Entlastung des Strassennetzes führen.

Die Verstopfung bleibt konstant

Wenn aber ausgebaute Strassen nicht zu einer Verbesserung führen, was dann? Meist wird von der anderen Seite der Ausbau des öffentlichen Verkehrs als einzig echte Lösung der Verkehrsprobleme ins Feld geführt. Turner und Duranton haben aber auch für diese Fraktion schlechte Nachrichten.

Gemäss ihren Daten blieb auch in Städten, die ihren ÖV ausbauten, die Verkehrsüberlastung gleich. Die Verstopfung ist konstant.

In ihrem Fazit betonen Turner und Duranton, dass ihre Befunde nicht bedeuten, dass ein Ausbau des ÖV nicht im Sinne der Öffentlichkeit sein würde. Der Wert eines guten ÖV-Netzes sei breit belegt. Nur ist der ÖV eben auch kein effektives Mittel gegen Stau.

Gleicher Effekt mit weniger Strassen

Wir resümieren: Mehr Strassen bedeuten nicht weniger Stau; mehr ÖV aber auch nicht. Vielleicht weniger Strassen? Die Antwort der Forscher: Jein.

Der Verkehr wird tatsächlich nicht schlimmer, wenn eine Fahrbahn entfernt wird – was die logische Befürchtung wäre. Stattdessen rejustiert sich das Verkehrsaufkommen auf der Strasse, der Überlastungsgrad bleibt jedoch derselbe. Also auch in diesem Fall: Die Verstopfung bleibt konstant.

Die «Turner-Duranton-Gesetzmässigkeit» ist natürlich kein Naturgesetz: Realistischerweise kann die im Gebiet Ibach zehnspurige A2 nicht auf eine einzige Fahrspur heruntergefräst werden, ohne einen kompletten Stillstand zu provozieren.

Nur am Preis schrauben hilft

Ist das Fazit etwa die ernüchternde Erkenntnis, dass der vermaledeite Stau sich schlicht nicht verhindern lässt? Nicht ganz, aber die Lösung wird vielen nicht gefallen. Turner und Duranton sahen in ihrer Auswertung ein Mittel, das tatsächlich einen spürbaren Effekt auf den Stau zu Stosszeiten zu haben scheint: am Preis schrauben.

Die beiden US-Forscher kommen zum Fazit, dass die politische Antwort auf verstopfte Strassen in einer Pricing-Massnahme liegen muss. Modelle dafür gibt es verschiedene: Innenstadtmaut, Road-Pricing oder die Schweizer Variante Mobility-Pricing.

Die Idee dahinter: Wer zu Spitzenzeiten Strasse oder Schiene nutzt, muss dafür mehr zahlen als zu Randzeiten. So sollen die Verkehrsspitzen gebrochen und Staus vermieden werden, da sich der Tagesverkehr besser verteilt.

Luzerner Regierung will's nicht ausprobieren

Das Problem des Mobility-Pricings: Es ist unbeliebt. Wer zahlt schon gerne für etwas, das heute «gratis» ist? Das belegt die Tatsache, dass der Bund, der die Idee des Mobility-Pricings aktiv verfolgt, Mühe bekundet, Städte für Pilotversuche zu gewinnen. Zuletzt sprach sich auch der Luzerner Regierungsrat dagegen aus (zentralplus berichtete).

Die Frage, ob der Bypass tatsächlich unsere verstopften Verkehrsarterien entlastet oder auch in Zukunft das Herz der Stadt öfters mal stillsteht, bleibt bislang unbeantwortet im Raum hängen. Die Wissenschaft ist zumindest skeptisch.

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