Skorpione, Schlangen und eine Totenwache

Tierretterin Henzen: «Ein Tier ist ein gleichwertiges Lebewesen»

Marcel Henzen (links) und Harris Dinger haben ein Herz für Tiere. (Bild: cbu)

Seit rund drei Jahren kümmert sich die Tierrettung Schweiz um entlaufene und verletzte Tiere in der Innerschweiz. Neben Vierbeinern haben Marcel Henzen und sein Team bereits Skorpione, Füchse und Schwäne gerettet. Dabei arbeiten sie zwar eng mit den Behörden zusammen, wünschen sich aber mehr Hilfe vom Bund.

Auf die Arbeit von Tierrettung Schweiz stiess ich, als mir Ende Juli ein fremder Hund zugelaufen war. Die Luzerner Polizei rückte nach mehrmaligem Nachfragen schliesslich die Nummer von Marcel Henzens Tierrettung Schweiz heraus. «Ich muss noch schnell einen Skorpion einfangen, dann komm ich zu euch», sagte Henzen freundlich am Telefon. Einen Skorpion? In Luzern? Die Neugier war geweckt.

Zu einem Treffen mit Henzen kam es in diesem Juli jedoch (noch) nicht. Ein neu zugezogener Nachbar holte den ausgerissenen Hund ab und tauschte ihn gegen eine Flasche Wein.

Das Treffen kommt schliesslich Anfang September zustande. Ich treffe Marcel Henzen in Erstfeld, Uri, wo die Tierrettung Schweiz ihren Sitz hat – in Henzens Privathaus. Dass Tiere hier ein hohes Ansehen geniessen, sieht man sofort. Im Treppenhaus hängen Bilder von Raubkatzen, in der Wohnung sind nebst zwei Hunden auch zwei Katzen, vier Ratten, ein Leopardgecko und eine Königspython zu Hause.

Das Tierwohl geht vor

Von hier aus erledigt Henzen mit seinem Team Anfragen aus der ganzen Innerschweiz. Zusammen mit seinem 15-köpfigen Team kümmert er sich um Findeltiere, verletzte Tiere, fungiert als «Tiertaxi» und sucht, wenn nötig, nach neuen Bleiben für die Tiere. Auch für die administrativen Arbeiten hinter diesen Einsätzen stehen sie zur Verfügung. Dabei arbeiten sie sowohl im Auftrag von kantonalen Behörden wie der Polizei oder der Feuerwehr, aber auch für Privatpersonen.

Henzen und sein Team schieben dafür auch mal 14-Stunden-Tage. «Das Wohl der Tiere geht vor», sagt Chiara Henzen, Inhaberin und Ehefrau. Sie ist vor allem hinter den Kulissen tätig, weil sie «ein besseres Zahlenflair hat», wie sie sagt. «Und mehr Organisationstalent», ergänzt Marcel Henzen und lacht. Aufträge können rund um die Uhr eintrudeln. Die Tierrettung Schweiz ist ein 24-Stunden-Betrieb und sowohl bei den kantonalen Polizeistellen als auch Notfall-Apps als solcher eingetragen.

«Wir können nicht jedes Tier der Welt retten, aber wir können die Welt eines Tieres retten.»

Chiara Henzen, Inhaberin

Gerettet hat das Team der Tierrettung schon allerlei Tiere. Von Hunden und Katzen über Schwäne, Igel, Enten, Schlangen, Skorpione und – in klarer Absprache mit den zuständigen Wildhütern – Wildtiere wie Rehe und Füchse. Die Arbeit ist nicht immer einfach: Nicht jedes Lebewesen kann gerettet werden. «Wir können nicht jedes Tier der Welt retten, aber wir können die Welt eines Tieres retten», erklärt Chiara Henzen das Motto des Betriebs.

Besonders schlimm sei es natürlich, wenn ein verletztes Tier stirbt, egal ob vor Ort oder in den Händen eines Tierarztes. Henzen stellt klar: «Wir sind keine Tierärzte. Wir machen zwar alle halbjährlich den Kurs für erste Hilfe für Kleintiere, aber verletzte Tiere bringen wir zum Tierarzt. Der Arzt entscheidet über Leben und Tod. Nicht wir.»

Kontakt über die Rettung hinaus

Trotzdem gibt es immer wieder schöne Momente. Manchmal – und das sei besonders erfreulich – bleibe der Kontakt zu den Tierhaltern auch nach der Rettung noch erhalten. Als Beispiel erzählen die Henzens die Geschichte eines Hundes, der am 1. August wegen eines Feuerwerks in Panik geraten und im dritten Stock aus dem Fenster gesprungen ist. Das Tier hat den Sturz zwar überlebt, hat sich aber zwei Beine gebrochen und sich schwere Verletzungen an Brust und Kiefer zugezogen. Henzens Team sorgte für eine Erstversorgung vor Ort und brachte den Hund dann zum Tierarzt. Der Rüde genas und damit wäre der Fall eigentlich abgeschlossen gewesen.

Der glückliche Halter meldete sich jedoch über Monate hinweg immer wieder bei den Rettern mit Updates über das Wohlbefinden seines Vierbeiners. Und genau diese Menschlichkeit sorgt für viel Wertschätzung bei der Arbeit. «Wir schätzen es zudem, dass sich die kantonalen Polizeibehörden nach jedem Einsatz schriftlich bei uns bedanken», sagt Marcel Henzen.

Pitbull bewacht totes Frauchen

Ein denkwürdiger Einsatz fand im November 2019 in der Stadt Luzern statt. Die Luzerner Polizei meldete sich bei den Henzens, weil ein Pitbull in einer Wohnung seine vor zwei Wochen verstorbene Halterin bewacht hat. Henzen hat das Tier bereits von früher gekannt und ist vorbeigegangen, um die Situation zu entschärfen. Die Hündin hat sich ohne Probleme von ihm ein Halsband anlegen und aus der Wohnung bewegen lassen. «Das war kein Kampfhund, das war ein Kampfschmuser», so Marcel Henzen.

Später verhalf er dem Schmusehund zu einem neuen Zuhause. Der Einsatz in der Wohnung der Verstorbenen sei ihm in lebendiger Erinnerung geblieben – und vor allem in der Nase. Allgemein erzählen die Henzens und Harris Dinger ihre Anekdoten mit viel Schalk und Humor. «Galgenhumor ist oft hilfreich», sagt Marketing-Chef Harris Dinger. «Weil die Einsätze teils sehr nahegehen», ergänzt Marcel Henzen.

Tierrettung als Beruf

Im Gegensatz zu Vereinen, die ähnliche Dienste anbieten, kostet der Einsatz der Tierretter aus Erstfeld. Sie bezeichnen sich selbst als Berufstierrettung. «Von irgendetwas müssen wir leben», erklärt Marcel Henzen. Für diese Einstellung erntet er vor allem bei ehrenamtlichen Vereinen immer wieder Kritik – die schon bis zu exzessiven Hassmails und empörten Anrufen eskaliert ist.

Obwohl ihre Arbeit kostenpflichtig ist, gehen sie bei manchen Einsätzen trotzdem leer aus. «Weil sich oft niemand verantwortlich fühlt – weder der Finder noch die Behörden – bleiben wir am Ende auf den Rechnungen sitzen.» Das sei zwar ärgerlich, aber letztlich ginge es um das Wohl des Tieres.

Einige sind gleicher als andere …

Ärgerlich sei auch, dass Kleintiere wie Hunde oder Katzen im Gegensatz zu Nutztieren wie Kühen oder Pferden vor dem Gesetz anders behandelt würden. «Im Obligationenrecht werden Kleintiere nach wie vor als Gegenstände behandelt.» Deswegen würde ihrem Dienst nicht die Wichtigkeit beigemessen, die er in ihren Augen verdient. «Wir wünschen uns mehr Unterstützung und Anerkennung auf Bundesebene», sagt Marcel Henzen. «Da geht es nicht nur um uns, es geht um die Kleintierrettung im Ganzen.»

Freuen würde er sich beispielsweise nur schon über ein Blaulicht für das Firmenauto. «Das wäre das Nonplusultra», sagt er. Bisher sei es schon mehrfach zu Notfällen gekommen, wo er von der Polizei für ein verletztes Tier aufgeboten wurde, dann aber im Stau stecken blieb. Den Versuch, an ein Blaulicht zu kommen, hat Henzen schon unternommen – und wurde von den zuständigen Stellen ausgelacht. Unverständlich, wie die Henzens finden. «Auch verletzte Tiere können Notfälle sein. Denn sie leiden und können Schmerzen empfinden», sagt Chiara Henzen. «Tiere sind gleichwertige Lebewesen.»

Arbeit mit IV-Bezügern

Den Henzens liegt nicht nur das tierische Wohl am Herzen. Immer wieder beschäftigen sie IV-Bezüger, die auf dem ersten oder gar zweiten Arbeitsmarkt kaum Chancen hätten. «Die Arbeit mit Tieren kann zu tollen Ergebnissen führen – für Mensch und Tier», sagt Chiara Henzen. Aktuell stehen fünf IV-Bezüger im Rahmen einer Wiedereinstiegsmassnahme für die Tierrettung Schweiz im Dienst. Dabei arbeiten die Henzens auch eng mit Institutionen wie dem Verein Wertfrei oder der IV Zürich zusammen.

Für die Zukunft hat das Team um das Ehepaar Henzen schon viele Ideen. «Ein Ziel wäre es, das 144 im Bereich der Tierrettung zu werden», sagt Marcel Henzen. Auch ein Tierheim sei angedacht, bei dem Mitarbeitende aus den Wiedereinstiegsprogrammen einen Platz finden würden. «Am besten alles unter einem Dach», schliesst Dinger.

Über Tierrettung Schweiz

Ihr Rettungsdienst war eine buchstäbliche Schnapsidee. Während einer geselligen Runde mit Bier wurde das Konzept entworfen. Zwei Tage später standen Logo und Website. Der offizielle Betrieb läuft seit 1. Juni 2017. Für rund 2,5 Jahre führte Marcel Henzen die Firma als One-Man-Show. Mittlerweile beschäftigt der Betrieb drei Angestellte, sieben Freiwillige und fünf IV-Bezüger im Rahmen eines Praktikums. Zum Einzugsgebiet zählen nebst den Kantonen Uri, Schwyz, Ob- und Nidwalden, Zug und Luzern auch Teilgebiete im Aargau und in Zürich.

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1 Kommentar
  • Profilfoto von Ursi Niklaus
    Ursi Niklaus, 12.09.2020, 17:23 Uhr

    Super Bericht!!! Hatte schon mit der Tierrettung kontakt. Hilfsbereite und sehr freundlich Mensche!!!

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