Seniorin: «Ich werde zu etwas gezwungen, das ich nicht will»
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zentralplus ist mit einer Gruppe Senioren durch die Luzerner Neustadt gelaufen und hat gefragt: Was beschäftigt euch? Die Antwort: Angst und die Digitalisierung.
Eigentlich wären alle glücklich. Warum aber gehen Sie dann abends nicht raus? «Weil es unsicher ist», sagt die 85-jährige Verena Baumann. «Ich will mir nicht das Portemonnaie wegnehmen lassen.»
Am frühen Mittwochabend ist zentralplus mit einer Gruppe Senioren in der Luzerner Neustadt spazieren gegangen und wollte wissen: Welche Hindernisse machen ihr Leben schwerer? Und gäbe es Lösungen? Mit dabei waren Forscher der Hochschule Luzern (HSLU) und Journalistinnen von Correctiv.
Das Projekt «Achtung Barriere!»
Dieser Spaziergang ist der zweite von drei Rundgängen für das Projekt «Achtung Barriere! Wo wird dir das Leben erschwert?». Die Hochschule Luzern (HSLU) und das gemeinnützige Medienhaus Correctiv wollen dabei sichtbare und unsichtbare Hindernisse ermitteln. Die HSLU wird sie mit Augmented Reality erlebbar machen. zentralplus ist Medienpartner.
Auf dieser interaktiven Karte können Hindernisse eintragen werden. Vor diesem Rundgang hat bereits ein erster mit Blinden und sehbeeinträchtigten Personen stattgefunden. Hier kannst du ihn nachlesen. Der letzte Spaziergang nächste Woche gilt Autistinnen.
Wo kommt die ältere Generation ins Stolpern? Das ist gar nicht so leicht herauszufinden. Verhältnismässig leichtfüssig überwinden die Teilnehmer abschüssige Trottoirs und unübersichtliche Kreuzungen. Dann aber kommt ein Thema auf.
Senioren in Luzern: Angst vor Diebstahl und Gewalt
Patrick Zwickel, 50 Jahre alt und wohnhaft am Neuweg, hat Angst, überfallen zu werden. Andere pflichten ihm bei. Einer Kollegin, die viele aus dem Quartiernetzwerk des Vereins Vicino kennen, sei das vor Kurzem am helllichten Tag in der Neustadt passiert. Beweise gibt es dafür nicht.
Auch wurde keiner der Anwesenden selbst schon einmal bestohlen. Die Angst bleibt dennoch: «Ich mache einen grossen Bogen um Gruppen, die gefährlich wirken», sagt eine Seniorin. Abends trauen sich nur wenige, das Haus zu verlassen.
Wie denn gefährliche Gruppen aussehen? Patrick Zwickel kämpft mit einer Antwort. Er informiere sich regelmässig im Polizeiticker – und mache sich Sorgen.
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«Auch wir haben in der Schule geschlägert, aber wenn einer auf dem Boden lag, haben wir aufgehört. Heute geht es dann erst richtig los», findet Zwickel.
Die Zahlen aus dem Sicherheitsbericht der Stadt zeigen derweil, dass Straftaten abnehmen. Während es 2012 noch über 3000 Diebstähle pro Jahr gab, waren es 2022 weniger als 1000. Raub stagniert bei jährlich etwa 40 Delikten, einfache Körperverletzung bei rund 100 Vorfällen. Es kommen jedoch vermehrt Messer und andere Waffen zum Einsatz (zentralplus berichtete).
Die grossen unsichtbaren Hürden: Einsamkeit und Digitalisierung
Elisabeth Rudolf, 74 Jahre alt und Gründungspräsidentin des Sentitreffs in der Baselstrasse, hat keine Angst auf der Strasse. Sie hält dafür Einsamkeit für ein grosses Problem ihrer Generation – und die Digitalisierung.
Die Gruppe pflichtet bei. Wenn man für ein Billett oder eine Information einen QR-Code lesen muss, ist für viele Schluss. «Ich werde zu etwas gezwungen, das ich nicht will», sagt Rudolf mit Blick auf immer mehr Dienstleistungen, für die Apps nötig sind. «Mir wird ein Stück Freiheit weggenommen», findet die Seniorin. Selbst hat sie kein Smartphone.
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Geldsorgen, dunkle Plätze und Strassen, fehlende Ansprache: Die Liste an Sorgen der älteren Generation wird länger – auch wenn es anfangs den Anschein hatte, dass alles gut sei. Immer wieder sagt jemand dennoch etwas wie: «Aber ich bin zufrieden. Luzern ist gut.»
So ganz klar wird an diesem Mittwochabend nicht, wie sicher oder unsicher sich die Senioren in Luzern wirklich fühlen. Und ob sie kaum mit Hindernissen kämpfen oder aber: man einfach nicht meckert.
Verbesserungsvorschläge gibt es zumindest. Saubere öffentliche WCs, mehr Beleuchtung, längere Grünphasen an Ampeln und Wohnungen mit Gemeinschaftsräumen, um sich zu treffen. Denn Gemeinschaft, zum Beispiel im Verein Vicino, ist für viele existenziell. «Ich bin mit 56 zum ersten Mal zu Vicino. Heute ist es mein zweites Zuhause», sagt Beatrice Marfurt.
Experte sagt: Man kann Kindergärten und Altersheime gemeinsam denken
Besonders für ältere Frauen seien Begegnungsangebote wichtig, darin ist sich die Gruppe einig. Viele ihrer Generation seien Hausfrauen gewesen und hätten wenig soziale Kreise. «Männer gehen in den Schiessverein oder zu Stammtischen», merkt jemand an.
Auch von fachlicher Seite gibt es dafür Daumen hoch. Markus Baumann berät für die die Fachstelle Pro Senectute Luzerner Gemeinden in Sachen Zugänglichkeit für Seniorinnen. Er hat den Spaziergang begleitet.
«Auf Plätzen gehören Beleuchtung und Sitzgelegenheiten sicherlich dazu», erzählt Baumann. Auch die anderen aufgebrachten Themen der Seniorinnen sind ihm bekannt. Für zukunftsweisend hält er daher Konzepte, die Generationen miteinander verbinden, zum Beispiel Kindergärten und Altersheime gemeinsam denken. «Wir müssen Kontakt aktiv ermöglichen.»
- Spaziergang mit den Teilnehmern im Rahmen des Projekts «Achtung Barriere! Wo wird dir das Leben erschwert?»
- zentralplus-Medienarchiv
- Sicherheitsbericht Stadt Luzern 2023