So finden Freiwillige im Kanton Zug Jungtiere

Rehkitzrettung: ein Selbstversuch

Silja Sutter hebt ein Rehkitz aus dem Feld. Bewusst nutzt sie dafür Handschuhe und Gras. (Bild: Andreas Busslinger)

Jährlich werden in der Schweiz wohl tausende Rehkitze von der Mähmaschine getötet. Der Kanton Zug tritt diesem grausigen Umstand mit einer schönen Aktion entgegen. Freiwillige suchen in den Feldern mit Wärmebildkamera-Drohnen nach Kitzen. zentralplus war bei einer Rettungsaktion dabei.

Kurz nach 5 Uhr in der Frühe: Am östlichen Horizont kündigt sich der Tagesanbruch an, als beim Moosrank im Talacher zwei Autos anhalten. Aus dem vorderen steigt jemand aus, läuft zum zweiten Auto, gibt dem Fahrer Anweisungen. Wenig später setzen sich die Fahrzeuge wieder in Bewegung.

Hier passieren keine krummen Geschäfte. Im Gegenteil. Hier geht es um eine noble Sache, die jährlich im Frühling ihren Lauf nimmt. Bevor die Bauern ihre Mähmaschinen aufs Feld setzen, kommen nämlich die Freiwilligen von der Rehkitzrettung zum Zuge.

Dass Rehkitze in den Feldern gesucht werden, um diese vor dem Mäher zu retten, ist nicht neu. Das Angebot, die Wiesen im Mai und Juni vor dem Mähen mit einer Drohne nach Rehkitzen abzusuchen, gibt es hingegen erst seit 2020. Es steht allen Landwirtinnen im Kanton Zug kostenlos zur Verfügung. Zuständig ist das Amt für Wald und Wild, in Zusammenarbeit mit der Jägerschaft und einer Vielzahl an Freiwilligen, welche wochenweise eingeteilt sind für den ehrenamtlichen Dienst.

Im Frühtau zu Gottschalkenberge

zentralplus möchte wissen, wie das genau vonstattengeht und steht – gerade im Hinblick darauf, live dabei zu sein, wenn ein winziges Bambi aus dem Feld gerettet wird – gerne in aller Herrgottsfrühe auf.

Die Mission an diesem Mittwoch: Zwei Felder in den Berggemeinden abzusuchen, welche die Bauern tags zuvor angemeldet haben. Das sind Flächen, welche die Landwirte an diesem Tag mähen möchten.

Vom Moosrank geht’s zügig weiter. Tatsächlich ist hier Schnelligkeit gefragt. Während der ganzen Aktion befindet man sich im Wettlauf gegen die Zeit. Die Suche nach den Rehkitzen passiert mittels Wärmebildkamera. Sobald sich der Boden erwärmt, wird es schwierig respektive unmöglich, einzelne Lebewesen im Gras zu sichten.

Allein auf dem Weg zum ersten Feld, das abgelegen auf dem Gottschalkenberg liegt, begegnen wir zwei Rehgeissen und einem Fuchs. Kaum angekommen, macht sich das Einsatzteam startklar. Rolf Bedognetti und Silja Sutter platzieren die Drohne am Boden, starten System und Bildschirme auf und wählen die richtige «Mission».

Gelbe Punkte weisen auf Lebewesen im Feld hin

Bedognetti, der heutige Drohnenpilot, erklärt dazu: «Der zuständige Wildhüter Adrian Zehnder programmiert die Flugrouten der sogenannten Missions, also der einzelnen Felder, jeweils vorgängig. Beim ersten Flug über dem Feld muss ich nicht selber steuern.» Stattdessen blicken die zwei Freiwilligen nach dem Abheben der handlichen Drohne konzentriert in ihre Bildschirme. Zu sehen sind grosse gelbe und violette Flächen, zwischen denen wenige gelbliche Punkte liegen.

«Wenn die gelben Punkte auf dem Bildschirm markant sind, stehen die Chancen gut, dass es sich um ein Kitz handelt.»

Silja Sutter, Rehkitzretterin

Sutter erklärt: «Alles, was violett und rot erscheint, ist Oberfläche, die kalt ist. Die gelben Flächen sind solche, die deutlich wärmer sind. Wenn diese sehr markant sind, stehen die Chancen gut, dass es sich um ein Kitz handelt, das im Gras liegt.»

Rolf Bedognetti und Silja Sutter überwachen den Drohnenflug. (Bild: Andreas Busslinger)

Womit wir beim eigentlichen Problem sind. Rehkitze werden von ihren Müttern im hohen Gras platziert, da sie dort für den Fuchs weniger gut aufspürbar sind. Die Mutter kommt regelmässig vorbei, um ihre Jungen, meist sind es zwei pro Mutter, saugen zu lassen. Bloss: Rehkitze hören sehr schlecht und sind oft noch schwach. Während eine Rehgeiss vor der Mähmaschine flüchten kann, bleiben ihre Jungen oft liegen und werden entsprechend häufig «vermäht».

Die Drohne, welche über unseren Köpfen surrt, fliegt das riesige Feld systematisch ab. An mehreren gelb leuchtenden Stellen setzt Bedognetti digitale Markierungen, die er später manuell anfliegen wird.

Währenddessen schnappt sich Sutter zwei Holzkisten aus dem Auto. Sollte es sich bei den Punkten um Rehkitze handeln, werden diese in die Kiste gesetzt und an einen sicheren Ort gebracht. Dort bleiben sie fixiert, bis der Bauer das Feld gemäht hat und die Gefahr gebannt ist.

Am Tag, nachdem zentralplus mit dabei war, wurde das Einsatzteam gleich mehrmals fündig.

Ein Reh? Ein Erdhaufen!

Im oberen Teil des Feldes hat uns die Wärmebildkamera einen Hinweis darauf geliefert, dass dort ein Reh im Gras liegen könnte. Wir eilen durchs hüfthohe, nasse Gras, über uns surrt die Drohne, schwebt über dem gelben Punkt. Etwas mehr links, ein paar Schritte vorwärts: Stopp. Silja Sutter steht nicht vor einem Kitz, sondern vor einem Erdhaufen. «Das ist oft der Fall. Erdhaufen und auch Steine sind wärmer als das umliegende Gras.»

Auf demselben Feld wiederholt sich das Szenario gleich mehrmals. Jede der gelben Flächen entpuppt sich als Stein oder Erdhaufen. Auch wenn das heruntergedrückte Gras an einer Stelle Aufschluss darüber gibt, dass hier vor kurzem Tiere gelegen haben.

Weiter geht’s mit dem Auto zum nächsten Feld unterhalb des Gubels. Die Sonne ist mittlerweile aufgegangen und sorgt für eine Wärme, die uns ungelegen kommt. Da sich die Wiesenfläche jedoch gegen Westen hin senkt, ist ein grosser Teil noch im Schatten, als wir dort ankommen. Wieder geht alles schnell. Und tatsächlich, hier sehen wir auf der Wärmebildkamera ein paar deutliche gelbe Punkte. «Das ist sicher etwas», sagt die Zugerin. Sie sollte recht behalten. Auch wenn dieses Etwas nicht das ist, wonach wir suchen.

Aus dem Busch geklopft

Wieder eilen wir, mit Kisten bepackt, durchs hohe Gras. Dann langsamer, sachte, Schritt für Schritt, den Blick gesenkt. Bloss nicht übers Rehkitz stolpern. Plötzlich rennt etwas davon. Ein Kitz? Oder war es ein Hase? Nur die Ohren sind zu sehen. Als wir dem Tier folgen, flüchtet es erneut und tritt wenig später auf einen Feldweg hinaus. Wir haben kein Rehkitz, auch keine Ricke – ein weibliches Reh –, sondern einen Fuchs aus dem Busch geklopft.

Auf zum letzten gelben Punkt, der ebenfalls sehr stark aufleuchtet. Bereit, die Holzkiste schnell über das Geschöpf zu legen, tasten wir uns heran an die Stelle. Bis wir merken, dass ein Bäumchen, das an einem Holzpfahl fixiert ist, der Ursprung der Wärme ist. Mittlerweile ist es sieben Uhr, die Sonne steht hell am Himmel und hatte offenbar bereits genügend Zeit, den Pfahl zu erwärmen.

Eine sinnstiftende Tätigkeit

Mission accomplished, gefundene Rehkitze: 0. «Das ist in Ordnung. Hauptsache, es liegen nun keine Tiere mehr in den Feldern», sagt Sutter. Wie sinnvoll ihre Einsätze sind, wissen die beiden sehr genau. In seiner Einsatzwoche rettet das Team ganze sieben Rehkitze und ein Hirschkalb aus dem Gras. Ihre Ergebnisse notieren die beiden jeweils in einer eigens dafür konzipierten App.

Rolf Bedognetti startet die Drohne. (Bild: Andreas Busslinger)

Weder Sutter noch Bedognetti sind Wildhüter. Sutter arbeitet im Büro, Bedognetti führte bis zu seiner Pensionierung ein Consulting-Unternehmen. Bis 2022 war der Baarer zudem als Friedensrichter tätig. Seinen ersten Rehkitzrettungseinsatz leistete er im letzten Frühling. «Ich habe vor rund acht Jahren mit dem Drohnenfliegen begonnen. Dies insbesondere, da mich Luftaufnahmen schon immer fasziniert haben. Als ich darüber las, dass man diese Kenntnisse für die Rehkitzrettung nützen kann, meldete ich mich beim Wildhüter.»

Bedognetti sagt: «Schade, haben wir heute kein Kitz gefunden. Der Moment, wenn man tatsächlich ein Jungtier im Gras findet, ist emotional. Oft befindet sich die Mutter ganz in der Nähe und wartet unruhig, während das Junge nach ihr schreit.» Sobald die Kitze aus der Kiste befreit werden, dauert es jedoch nicht lange, bis die Mutter und ihr Junges wieder vereint sind.

45 Rehkitze wurden letztes Jahr gerettet

Seit 2020 wird im Kanton Zug im Mai und Juni mit Drohnen und Wärmebildkameras nach Rehkitzen gesucht. Dieses Jahr haben sich 140 Zuger Bauern gemeldet, damit ihre Felder kontrolliert werden. Im vergangenen Jahr konnten dank der Rehkitzrettung 45 Rehkitze gerettet werden. Heuer sind es bis dato 20.

Martin Ziegler, der Amtsleiter des Amtes für Wald und Wild, erklärt auf die Frage, wie viele tote Rehkitze jährlich gemeldet werden: «Es sind zwischen zwei und zehn Rehe, jedoch besteht eine Dunkelziffer.» Auch für den Bauern sei ein solcher Unfall ein sehr einschneidendes und negatives Erlebnis.

Ziegler weiter: «Es gibt eine abnehmende Tendenz der vermähten Tiere. Allerdings wurden bereits vor den Drohnenflügen Felder vor dem Mähen nach Kitzen abgesucht.» Dieses Absuchen in Gruppen sei jedoch mit grossem Aufwand verbunden und werde heute aufgrund der effizienteren Drohnentechnologie nur noch selten eingesetzt.

Verwendete Quellen
  • Teilnahme bei einer Rehkitzrettung
  • Gespräche vor Ort
  • Mailkontakt mit dem Amt für Wald und Wild
  • Schweizer Website zum Thema Rehkitzrettung
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1 Kommentar
  • Profilfoto von Hegard
    Hegard, 05.06.2023, 17:47 Uhr

    Gut das solche Leute gibt,ich als Bauer hätte mir schon längst eine Drohne mit thermografischer Kamera gekauft, um vor dem Mähen das Feld zu kontrolieren,oder zB Schäden, Wachstum usw. überschauen oder punktuel Pestizide sprühen,
    die Kühe Schafe ( WOLF ) zu treiben oder ausgebüchste Tiere suchen und Littering entdecken oder Krähen verscheuchen,Achtung Greifvogel
    Auch den Zustand des Daches vom Haus,Scheune und Schuppen zu kontrolieren.
    Also vielseitig dieses Gerät.
    ,

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