Blinde Luzernerin: «Ich träume, dass ich mir ein rotes Kleid kaufe»
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Wir sind mit fünf blinden und sehbehinderten Menschen in der Stadt Luzern spazieren gegangen. Wie sie ihre Welt wahrnehmen und ob eine Blinde weiss, wie ein Tiger aussieht: Wir haben gefragt und wurden mehr als einmal überrascht.
Tatjana Hozjan ist seit neun Jahren blind. «Ich hatte Panik vorm Blindsein», erzählt sie am Arm ihrer Begleiterin. Die 55-Jährige konnte nie gut sehen, als junge Frau erhielt sie die Diagnose: eine genetische Augenerkrankung. Der Gedanke, eines Tages nichts mehr zu sehen, machte ihr Angst. Als die Sehkraft schwand, war ihr der Blindenstock erst peinlich. Heute gehört er zu ihr.
Denn die Welt um sie herum ist laut und unübersichtlich. Stimmen, Motoren, das Rattern der Busse. Sie kann sie hören, doch sehen kann sie nichts. «Ich erkenne nur hell und dunkel. Der Himmel ist hell, der Boden ist dunkel», sagt sie. Mehr nicht. Zu Hause in Reiden findet sie sich zurecht. Hier in der Stadt Luzern könnte sie nicht allein spazieren.
Und doch gibt es Erinnerungen: Sie weiss, dass Gras grün und die Sonne gelb sind. Und manchmal kann sie in Träumen ein wenig sehen. «Ich träume davon, dass ich mir ein rotes Kleid kaufe.» Sie lacht.
Tatjana ist eine von fünf blinden und sehbehinderten Menschen, die mit uns durch Luzern gehen. Wir wollen erfahren, wie es ist, mit keiner oder weniger Sehkraft zu leben. Welche Hürden bleiben für «Sehende», so werden wir von ihnen genannt, unsichtbar?
Das Projekt «Achtung Barriere!»
«Achtung Barriere! Wo wird dir das Leben erschwert?» ist ein Projekt der Hochschule Luzern (HSLU) und des gemeinnützigen Medienhauses Correctiv mit zentralplus als Medienpartner. Auf dieser interaktiven Karte können Menschen mit und ohne Behinderung die sichtbaren und unsichtbaren Hindernisse eintragen, die ihnen tagtäglich begegnen. Die HSLU will sie mit Augmented Reality erlebbar machen.
Dieser Spaziergang ist der erste von drei Rundgängen. In der nächsten Woche laufen wir mit einer Gruppe Senioren durch ein Quartier, in zwei Wochen mit einer Gruppe Autistinnen. zentralplus wird laufend berichten.
Albert Giesler ist 71 Jahre alt, kommt aus Altdorf und hat Grauen Star. Er sieht die Welt schon immer anders. «Ich weiss nicht, was für einen Sehenden verschwommen ist», sagt er. «Ich sehe schon immer so.»
Was ihn besonders nervt: Menschen, die achtlos auf den taktilen Bodenleitsystemen am Bahnhof stehen. «Sie müssen wissen, ein Blinder mit Stock kann ganz schön schnell sein», sagt er grinsend – nutzt aber selbst keinen Stock. Er läuft der Gruppe schnell davon, resolut sagt er: «Ich kenne mich aus.»
«Für mich ist die grösste Barriere der Mensch»
Alberts Aussage stellt Laura Kirschner unter Beweis. Mit ihrem Stock und einer Begleitung ist sie schneller als alle anderen. Die 25-Jährige wurde auf Teneriffa mit einem Kolobom geboren, einer Fehlbildung im Auge. Heute lebt sie in Horw. Sie sieht nicht verschwommen, nicht grau, nicht schwarz. Sie sieht nichts. «Stellt euch vor, ihr hättet keine Augen im Kopf», sagt sie geübt. Sie muss das häufiger erklären.
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Teneriffa, Luzern, beides schöne Orte, die Menschen für ihre Aussichten schätzen. Wie ist das für sie? «Schön heisst für mich, dass ich die Atmosphäre dort mag. Und in Luzern geht es mir so.»
Laura hat Angewandte Sprachwissenschaften studiert, spricht fliessend Deutsch, Englisch, Französisch, Spanisch. Die Unterlagen im Studium mussten für sie übersetzt werden, am Computer kann sie sicher schreiben. Kinderfrage: Weiss sie eigentlich, wie Dinge aussehen, die sie noch nie angefasst hat? Zum Beispiel ein Krokodil, ein Tiger oder ein Wal?
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Laura sagt ernst: «Natürlich. Ich habe das mit Figuren zum Anfassen gelernt.» Dann überlegt sie erneut. «Ein Jaguar. Ich weiss nicht, wie ein Jaguar aussieht.»
«Schau doch selbst hin!»
Kathrin Mederlet, die Tatjana den gesamten Spaziergang am Arm führt, sieht auf den ersten Blick nicht aus wie eine sehbehinderte Person. Sie geht sicher durch die Stadt, kennt sich aus. Aber nur in Luzern. «Wenn ich nach Bern oder Basel fahre, bin ich blind wie ein Maulwurf.»
Die Luzernerin weiss sich zu helfen. Sie fotografiert Gemüsenummern in der Migros, zoomt am Handy ran, um sie zu lesen. Schaut sie Menschen an, seien sie jedoch wie ein Pixelbild, in dem Pixel fehlen. Ihre «Unauffälligkeit» ist Chance und Hindernis zugleich. «Manchmal frage ich an der Bushaltestelle, welcher Bus kommt. Und dann sagt man mir: ‹Schau doch selbst hin.›.»
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Trotz ihrer Sehbehinderung konnte sie als Pflegefachfrau arbeiten. Doch es war ein Kraftakt. Und als sie erfuhr, dass ihre Tochter dieselbe genetische Erkrankung hat, war das ein Schock. «Das hätte nicht sein müssen», sagt sie. Ihr Trost: Ihr Enkelkind scheint gut zu sehen.
Es gibt schon viele Hilfestellungen – aber Veränderungen sind Stress
Viele Hindernisse für Blinde und sehbeeinträchtigte Menschen lassen sich nicht auf Anhieb erkennen. Ein zugeparktes Trottoir oder eine Baustelle, die plötzlich einen vertrauten Weg versperrt. Mit dem Projekt «Achtung Barriere!» wollen Correctiv, die Hochschule Luzern und zentralplus genau diese Barrieren sichtbar machen.
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Für Laura werden auch Menschen regelmässig zu Hindernissen. «Die grösste Barriere sind Leute, die nur aufs Handy schauen und nichts um sich herum wahrnehmen.» Häufiger stösst sie mit ihnen zusammen. Nicht immer reagieren sie nett. Andere würden sie zum Umdrehen auffordern. «Danach habe ich keine Orientierung mehr.» Einmal hat sie ein Fremder von hinten am Nacken gepackt: «So etwas ist schrecklich.»
Natürlich sei Hilfe willkommen, aber bitte mit Ankündigung. Albert erklärt: «Wer Blinden helfen will, braucht vor allem eines: Zeit.» Felix Opel von der Fachstelle Sehbehinderung Zentralschweiz betont, dass es auch ihre Aufgabe sei, Bedürfnisse mitzuteilen. Und dass es Hilfestellungen gebe: eine Einkaufsassistenz zum Beispiel oder Apps.
Die Gruppe pflichtet stumm bei. Viele von ihnen werden von Felix Opel gecoacht. Aber nicht immer ist die Umsetzung einfach. Tatjana sagt: «Alles, was neu ist, macht mir Stress. Ich muss mich erst daran gewöhnen.» Elfi Grendene, 89 Jahre alt, ist die Einzige in der Gruppe, die als junge Frau scharf sehen konnte. Im Alter wurde sie taubblind. Sie schliesst: «Ich habe grossen Respekt vor euch.»