Das Zuger Dorf zieht immer mehr Einwohner an

Inwil: Vom lauschigen Weiler zur Wohnmaschine

Bevölkerungsmässig explodiert: Inwil bei Baar. Links im Bild sind die drei grossen Blöcke der «Scheibenhäuser» zu sehen, die den Bauboom im Dorf ausgelöst haben.

(Bild: Andreas Busslinger)

Jüngst ist ein neues Bauprojekt in Inwil genehmigt worden. Mitten im Dorf werden klotzige Mehrfamilienhäuser gebaut. Das ist nichts Neues. Doch die Frage bleibt, wie ein Weiler in 50 Jahren von 400 auf über 4’000 Einwohner wachsen kann.

Wer in die Ortsmitte von Inwil will, fragt sich unweigerlich, wo diese eigentlich ist. Denn ausser einem schönen Riegelhaus und der Gaststätte Ebel gibt’s da nicht viel. Ach ja, da gibt es auch noch das Café Bäckerei Dorfplatz, das sogar am Sonntag frische Mutschli verkauft. Aber ansonsten. Niente.

Hätte der Weiler zwischen Zug und Baar nur einige Hundert Einwohner – man hätte mit so einem kleinen Ortskern keine Orientierungsprobleme. Doch Inwil ist das Zuger Boom-Dorf schlechthin. Inzwischen wohnen dort so viele Personen, dass die Gemeinde Baar, zu der Inwil ja gehört, nicht mal weiss, wie viele Einwohner dort genau leben.

«Es handelt sich hierbei um eine Grobschätzung, da wir diese Zahlen nicht speziell ausweisen.»

Sachbearbeiterin der Gemeinde Baar

«Der Schätzwert der Anzahl Einwohner in Inwil beträgt 4’000 Personen», sagt einem die freundliche Sachbearbeiterin auf der Baarer Gemeindekanzlei. «Es handelt sich hierbei um eine Grobschätzung, da wir diese Zahlen nicht speziell ausweisen.»

Quasi so gross wie Menzingen – bevölkerungsmässig

Da stellt sich einem sofort die Frage: Will die Gemeinde Baar tatsächlich gar nicht wissen, wie viele Einwohner nun in Inwil wohnen – das inzwischen längst Gemeinden wie Walchwil (3’616) und Neuheim (2’239) überholt hat, was die Zahl der Einwohner angeht? Sogar mit Menzingen – wo 4’499 Einwohner registriert sind – kann es Inwil ja mittlerweile locker aufnehmen.

Oder ist der Gemeinde Baar aufgrund der geradezu explosionsartigen Bevölkerungsentwicklung die Zahl der Einwohner längst über den Kopf gewachsen – genauso wie die bauliche Zersiedlung des einstigen Weilers?

So lauschig sah es in Inwil noch in den 1930er-Jahren aus.

So lauschig sah es in Inwil noch in den 1930er-Jahren aus.

(Bild: Aus Sammlung H.P. Sattler, Zug & Marlis Rickenbacher-Sattler, Baar)

Denn nicht nur Mega-Wohnblocks in Gestalt der riesigen vier «Scheibenhäuser» stechen da aus dem Siedlungsbrei Inwils heraus. Wohnblocks, die problemlos irgendwo in einem Vorort Lissabons oder einer südamerikanischen Grossstadt stehen könnten. Am Hang hinter den «Scheibenhäusern» sind Terrassenhäuser wie urbane Flechten in die Landschaft gewuchert. Nicht zu vergessen die neuesten Flachdach-Grosskompositionen der undörflich-gediegenen Art in der Mühlimatt – auf der Rückseite des Dorfs.

Die wundersame, wirtschaftswachstumsbedingte Vermehrung der Inwiler Bevölkerung – deren Ende aufgrund der künftigen Direktanbindung an die Autobahn über die Tangente noch nicht abzusehen ist – wirkt befremdend. Nicht zuletzt, wenn man sich historische Bilder von Inwil aus den 1930er-Jahren anschaut.

«Bis Anfang der 1960er-Jahre präsentiert sich der Weiler noch in seinem ursprünglichen Ausdruck als Bauernweiler.»

Thomas Baggenstos, Vorstandsmitglied Bauforum Zug

Auf Postkarten und Luftbildern von 1931 etwa wirkt Inwil noch wie ein lauschiges Dorf mit viel Grün drumherum. Man muss die wenigen Bauernhäuser inmitten der vielen Obstbäume schon regelrecht suchen, um überhaupt Spuren einer Besiedlung zu entdecken. Man fühlt sich eher ins Zuger Museum für Urgeschichte zurückversetzt, wo Jäger und Sammler noch mit handgespitzten Pfeilen auf Wildschweinjagd gehen.

Doch ganz so unzivilisiert ging’s damals natürlich nicht zu in Inwil. Der Kirchturm der St.-Martins-Kirche dämmert im Dunst der Ferne. Die Inwiler Kapelle steht auch schon. Und im urchigen Restaurant Schwerzmann – dem heutigen «Ebel» – gibt’s nicht nur ein kühles Bier zu trinken.

Thomas Baggenstos ist nicht nur Architekt in Baar, sondern beschäftigt sich auch mit Fragen des Städtebaus und der Raumplanung.

Thomas Baggenstos ist nicht nur Architekt in Baar, sondern beschäftigt sich auch mit Fragen des Städtebaus und der Raumplanung.

(Bild: woz)

Wie sind diese bevölkerungsmässige Explosion und der heute ganz und gar urbane, architektonische Mischmasch des ehemaligen Streuobstwiesenweilers Inwil zu begreifen?

Früher noch Hunderte von Obstbäumen

Thomas Baggenstos, Baarer Architekt und Vorstandsmitglied der Architektenvereinigung Bauforum Zug, findet diese Fragen spannend. Und hat auf Anfrage von zentralplus nach Erklärungen dafür recherchiert.

«Betrachtet man die Entwicklung von Inwil aufgrund der historischen Luftbilder, muss man das Wachstum in zwei Phasen teilen», sagt Baggenstos. Bis Anfang der 1960er-Jahre präsentierte sich der Weiler an der alten Verbindungsstrasse zwischen Zug und Baar noch in seinem ursprünglichen Ausdruck als Bauernweiler – umstanden von Hunderten von Obstbäumen.

Wie ein gallisches Dorf im Baarer «Outback»: Inwil. Im Hintergrund schimmert der Kirchturm von St. Martin.

Wie ein gallisches Dorf im Baarer «Outback»: Inwil. Im Hintergrund schimmert der Kirchturm von St. Martin.

(Bild: Aus Sammlung H.P. Sattler, Zug & Marlis Rickenbacher-Sattler, Baar)

«Der Ort lag an der Kreuzung zur Talacherstrasse, welche in Richtung Ägerital führt. Als erster Entwicklungsschub Inwils sind in den 1960er-Jahren dann die Scheibenhochhäuser mit den rund 160 Wohnungen der Verzinkerei Zug zu verstehen», sagt Baggenstos. Die Zuger Fabrik wollte preiswerte Wohnungen im Grünen für die eigenen Arbeiter bauen, welche eine hohe Wohnqualität besitzen.

«Das Quartier war typisch für die damalige Zeit relativ gut erschlossen, am Rande der Siedlungsgebiete – aber mit entsprechendem Umschwung und auf der grünen Wiese», erklärt der Architekt. Die Wohnsiedlung habe über viel Aussenraum verfügt, welcher durch die Konzentration der Wohnnutzung auf wenige hohe Gebäude frei bleibt.

«Mit diesem Entwicklungsschritt standen die Scheiben auf einmal viel weniger auf der grünen Wiese, sondern waren rundum in einen Siedlungsbrei eingebaut worden.»

Thomas Baggenstos

Wobei besagte Scheibenhäuser ja ursprünglich in der Stadt Zug gebaut werden sollten, dort aber nicht für gut befunden wurden. In Baar hingegen schon – wo ja fast alles in Sachen Bauten durchgewunken wird.

Total winzig: Das Dorfzentrum von Inwil – im Vergleich zu den umgebenden Überbauungen.

Total winzig: Das Dorfzentrum von Inwil – im Vergleich zu den umgebenden Überbauungen.

(Bild: woz)

Zweiter Entwicklungsschub Inwils in den 1990er-Jahren

Weitere Beispiele solcher Siedlungen im Kanton Zug seien die fast zeitgleich entstandenen Überbauungen im Alpenblick in Cham von Josef Stöckli oder die sogenannten Toblerone-Hochhäuser in Oberwil. «Natürlich hatte der Wohnungsbau in einem solchen Masse auch entsprechende Infrastrukturbauten zur Folge: Das Schulhaus Inwil oder etwa die St.-Thomas-Kirche. Baggenstos: «Typisch für diese Art der Siedlungsentwicklung sind im Übrigen auch die Schrebergärten entlang der Inwilerstrasse.»

In den 1990er-Jahren setzte laut Baggenstos ein zweiter Entwicklungsschub in Inwil ein. Einerseits wurde der Hangfuss gegen den Zugerberg mit sehr dichten Terrassenhaussiedlungen geschlossen, was den Hochhäusern und Scheiben den grünen Hintergrund nahm. Andererseits baute man in der Ebene wiederum dem Zeitgeist entsprechend drei- bis viergeschossige Wohnquartiere mit Schrägdach.

Baggenstos: «Mit diesem Entwicklungsschritt standen die Scheibenhäuser auf einmal viel weniger auf der grünen Wiese, sondern waren rundum in einen Siedlungsbrei eingebaut worden.»

«Über alles gesehen sind Zug, Inwil, Baar, Cham und Steinhausen eh nur ein Teil der grossen Lorzenstadt am nördlichen Ufer des Zugersees.»

Thomas Baggenstos

Je weiter kleine Weiler von Zentren und Subzentren entfernt sind, desto langsamer und umso organischer wachsen sie – so der Baarer Architekt. Je näher dagegen die Wachstumsdynamik rücke, desto unkontrollierter und schneller gehe es. Wobei Baggenstos den Inwiler Wachstumswahn relativiert.

Die Sache mit der Lorzenstadt

«Ich würde da den Vergleich mit Eingemeindungen rund um die Kernstadt von Zürich machen: Hottingen, Höngg oder Wipkingen waren einst auch lauschige Bauerndörfer vor den Toren der Stadt.» Siedlungsmässig und verwaltungstechnisch zusammengewachsen, spüre man da auch nur noch in den Zentren etwas vom Massstab der alten Strukturen.

«Ich denke, Inwil wird eher zusammen mit der Stadt Zug gelesen als mit Baar. Aber über alles gesehen sind Zug, Inwil, Baar, Cham und Steinhausen eh nur ein Teil der grossen Lorzenstadt am nördlichen Ufer des Zugersees.»

«Ich bin nicht glücklich über diese Entwicklung, aber …»

Wie sieht eigentlich ein Ur-Inwiler die Entwicklung vom Weiler zur Wohnmaschine? zentralplus fragte nach bei Paul Langenegger, Bauchef der Gemeinde Baar.

Der CVP-Politiker ist ehrlich und bekennt: «Ich bin nicht glücklich über diese Entwicklung, aber man kann sie nicht aufhalten.» Langenegger, der selbst im Riegelhaus in der Dorfmitte aufgewachsen ist, kann sich noch sehr gut an jene Zeiten Anfang der 1960er-Jahre erinnern, als noch 350 bis 400 Personen in Inwil wohnten, «und man gegenseitig wusste, wer gerade Bauchweh und Zahnweh im Dorf hatte».

Auch Baars Bauchef Paul Langenegger – hier auf der Terrasse seiner Wohnung in Inwil – ist nicht glücklich über die gigantische Entwicklung des Dorfs.

Auch Baars Bauchef Paul Langenegger – hier auf der Terrasse seiner Wohnung in Inwil – ist nicht glücklich über die gigantische Entwicklung des Dorfs.

(Bild: woz)

Paul Langenegger beansprucht für sich, zu den letzten 20 Ur-Inwilern zu gehören. Er hat auch noch miterlebt, wie die Bodenpreise in Inwil von 50 bis 70 Franken in den 1960er-Jahren auf heute 3’500 bis 4’000 Franken pro Quadratmeter gestiegen sind.

«Das starke Wachstum des Dorfs hat tatsächlich mit dem Bau der Scheibenhäuser in den 1960er-Jahren eingesetzt», erklärt der Baarer Bauchef. Und wo ist das Ende der Fahnenstange in Inwil? «Das ist leider nicht absehbar, weil noch so viel Land eingezont ist.»

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