Zuger Brauchtum wird 299 Jahre alt

Greth Schell: «Eigentlich ist es Zufall, dass ich eine Fasnächtlerin bin»

Greth Schell trägt ihren Löli von einem Mann nach der Handwerkerfeier am Sonntag nach Hause. (Bild: Schreinerzunft Zug)

Vor fast 300 Jahren trug Greth Schell ihren betrunkenen Mann nach Hause. Seither erfreuen sie und ihre Lölis Kinder und Erwachsene an der Zuger Fasnacht. Im Gespräch verrät die prominente Einwohnerin der Kolinstadt, weshalb es ein Privileg ist, ein Löli zu sein. Und: Weshalb sie lieber ans Eidgenössische als nach Luzern an die Fasnacht geht.

zentralplus: Greth Schell, wie geht es Ihrem Mann?

Greth Schell: Nach der Handwerkerfeier am Sonntag gings ihm nicht gut. Er konnte nicht mehr alleine laufen, so betrunken war er. Nach dem blauen Montag ist der Schreinermeister aber nun wieder bei der Arbeit.

zentralplus: Es heisst, sie hätten ihn mit einer Chrätze abholen müssen?

Schell: Obwohl ich eine stämmige Frau bin, konnte ich diesen Brocken doch nicht mit blossen Händen tragen! Da fiel mir nichts anderes ein, als ihn in die Hutte zu stecken. Das hat den Leuten offenbar so gut gefallen, dass sie eine Holzmaske schnitzten, die immer am Tag nach der Handwerkerfeier, also dem blauen Montag hervorgeholt wird – zufälligerweise ist das auch gleich der Güdelmäntig.

zentralplus: Diese Handwerkerfeier ist ja nun schon eine Weile her. Wann war das schon wieder?

Schell: Das war 1721. Im nächsten Jahr feiere ich also meinen 300. Geburtstag. Das weiss ich so genau, weil es in einem Buch stand, von einem Herrn Raschle, der herausgefunden hat, dass im Jahr 1921 mein 200. Geburtstag gefeiert wurde.

zentralplus: Dieser Autor muss betrunken gewesen sein.

Schell: Moment mal, glauben Sie mir etwa nicht? Schell, das war mal ein verbreitetes Zuger Geschlecht. Um 1720 herum, da gab es zum Beispiel eine Margaretha Schell, die war Lehrerin. Sie hat in der Altstadt gewohnt, in der Nähe der Liebfrauenkapelle, wo heute der Greth-Schell-Brunnen steht. Weil sie aber Kinder in Sprache und Mathematik unterrichtete und später sogar gemischte Klassen, wurde sie vom Stadtrat gerügt.

«Den Brauch wollen wir gerne fortführen – aber sicher auch kein Food-Waste betreiben.»

zentralplus: Weshalb denn das?

Schell: In der katholisch geprägten Zentralschweiz war Frauen nur das Unterrichten in «weichen» Fächern wie Lismen, Kochen oder Singen erlaubt. Es war also unverschämt, als Frau Mathematik oder Schreiben zu unterrichten.

zentralplus: Und diese Greth Schell holte dann ihren betrunkenen Mann nach Hause?

Schell: Möglich wäre es, allerdings war die Lehrerin Margaretha Schell nicht verheiratet. Dies trifft dagegen auf zwei andere Frauen aus dem Geschlecht der Schell zu, deren Lebensläufe eher schillernd sind. Denkbar ist es, dass ehemalige Schüler Margaretha Schell nach ihrem Tod 1740 den Brauch widmeten, als Greth Schell durch die Strassen zu ziehen. Als eine Art Hommage wird die Szene deshalb immer am blauen Montag wiederholt. Wahrscheinlich ist der heutige Brauch eine Mischung aus beiden geschilderten Szenarien.

Hier trägt Greth Schell ihren Mann nach Hause – und verteilt den Kindern Leckereien. (Bilder: Schreinerzunft Zug) (Bild: Schreinerzunft Zug)

zentralplus: Die Zunft der Schreiner, Drechsler und Küfer der Stadt Zug kümmert sich darum, dass sie nicht so schnell in Vergessenheit geraten. Was sind das eigentlich für komische Gesellen?

Schell: Den Begriff «komische Gesellen» verbitte ich mir. Meine Hüter sind ehrbare Zuger Meister aus verschiedensten Berufen, die mich vor mehr als 100 Jahren gerettet haben. Um 1887 hatte ein Meister der Zunft gehört, die Masken und Gewänder von Greth und den Lölis seien in schlechtem Zustand. Obwohl sie keine Fasnachtszunft ist, nahm sich die Meisterschaft meiner Gestalt und meinen Begleitern, den Lölis, an. Seit dann sind die Meister dafür verantwortlich, dass der Brauch lebt.

zentralplus: Und seither sind sie also Zugs wichtigste Fasnachtsfigur?

Schell: Nein, das hat doch mit der Fasnacht nichts zu tun!

zentralplus: Hä?!

Schell: Eigentlich ist es Zufall, dass ich eine Fasnächtlerin bin. Am Güdelmäntig ist halt der Hauptbottag der Zunft. Weil dann auch die Fasnacht ist, macht es Sinn, mich dort zu zeigen.

Die Lölis verteilen Nahrungsmittel – oder leichte Hiebe mit der Schweineblase. (Bild: Schreinerzunft Zug)

zentralplus: Daran haben viele Kinder Freude, aber nicht alle.

Schell: Ich stamme aus einer Zeit, in der es vielen nicht so gut ging, vor allem im Winter. Deshalb verteile ich gemeinsam mit den Lölis Brötchen, Orangen, Süssigkeiten oder auch eine Wurst. Doch einige Kinder wollten die Lölis auch bestehlen oder waren unartig. Dann gibt's halt eins mit der Schweinsblase, der sogenannten «Süüblootere».

zentralplus: Heute geht es den meisten Zugern ökonomisch besser, oder nicht?

Schell: Es ist nicht mehr dasselbe wie im 18. Jahrhundert. Heute haben fast alle Zugerinnen und Zuger genug zu essen. Den Brauch wollen wir gerne fortführen – aber sicher auch kein Food-Waste betreiben. Wichtig ist, dass wir das Mutschli von lokalen Bäckern, Meistern der Zuger Bäckerzunft, und die Wurst vom Metzger beziehen können.

zentralplus: Was gefällt Ihnen sonst noch an der Zuger Fasnacht?

Schell: Den Umzug der Letzibuzäli am 22. Februar kann ich wärmstens empfehlen. Auch die Chesslete am Schmutzigen Donnerstag. Ein Highlight ist natürlich auch die Baarer Fasnacht, wo es im Kanton wohl das bunteste Treiben gibt.

«Im Land eines edlen Tropfens wie dem Zuger Kirsch hat es halt schon Tradition, ihn hin und wieder zu probieren.»

zentralplus: Und waren Sie auch schon auswärts an der Fasnacht?

Schell: Es gab wilde Zeiten. Eine Zeit lang hatten mich die Zünftler etwas vernachlässigt. Da wurde ich in Küssnacht gemeinsam mit den Lölis verhaftet und verhört. Aber das ist schon lange her.

zentralplus: Und heute?

Schell: Ich bin etwas wählerisch geworden. Am Sonntag bin ich beispielsweise am Festumzug in Reichenburg an der Narrhalla eingeladen. Die feiert ihr 100-jähriges Bestehen. Vergangenes Jahr verschlug es mich und die Lölis zum internationalen Brauchtumstreffen nach Altstätten im Rheintal. Aber ich besuche nur noch spezielle Anlässe. Natürlich im vergangenen Sommer den Festumzug am Eidgenössischen Schwing- und Älplerfest zu Hause, in Zug.

zentralplus: In Luzern wird man Sie auch mal antreffen?

Schell: Hm, eher nicht. Die haben ja dort ihren Fritschi und andere Figuren. Wenn ich nur eine Nebenfigur bin, dann reizt es mich nicht so.

zentralplus: Wechseln wir das Thema, bevor das noch jemand liest. Wird Ihr Mann eigentlich je wieder einen Schnaps trinken?

Schell: Im Land eines edlen Tropfens wie dem Zuger Kirsch hat es halt schon Tradition, ihn hin und wieder zu probieren. Also: Ja, ich denke, er wird sich gerne irgendwann wieder ein Glas gönnen. Der Kirsch ist schliesslich auch eine Art des Patriotismus, der Zugerinnen und Zuger auf der ganzen Welt verbindet. Ausserdem ist die Distillerie Etter persönlich und prominent in der Zunft vertreten.

zentralplus: Sie meinen, Zugerinnen und Zuger trinken gerne eins über den Durst?

Schell: Wie überall in der Welt. Die einen tun nur so, aber es gibt auch solche, die ihn nicht so mögen. Der Kirsch ist aber auch ein Gesundheitsmittel. Oder wie wir in Zug zu sagen pflegen: «Wers nid suuft, chaas yriibe.»

zentralplus: Hand aufs Herz: Sie sind doch eine Legende, Greth Schell!

Schell: Ein Original, würde ich sagen. Jemand, der aus der Norm fällt. Da passe ich halt ganz gut zur Fasnacht. Und das schon seit 299 Jahren.

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