Den höchsten Gipfel jedes Kontinents besteigen: Dieses Ziel verfolgt Christian Binggeli, Bergsteiger aus Oberkirch. Den Mount Everest hat er kürzlich bestiegen, wo er auch unangenehme Szenen miterlebte. Nun hat er noch einen Gipfel vor sich.
Akkurat gestutztes Golfgreen, ein feiner Balken Sempachersee und sanft geschwungene Hügel im Hintergrund: Die Aussicht von Christian Binggelis Heimetli in Oberkirch kann sich sehen lassen. Und doch verblasst sie vor jenem Anblick, der ihm Ende Mai dieses Jahres beschieden war. Ein Meer an Gipfeln, schneebedeckt und schroff, lag ihm damals zu Füssen. Ja, die ganze Welt. Er hatte sich hochgekämpft, einen lang gehegten Traum realisiert, thronte auf «dem Dach der Welt», dem 8848 Meter hohen Mount Everest.
Mit dabei: Kameras, die diesen Moment nicht nur fürs Familienalbum festhielten, sondern für das gesamte Schweizer Fernsehpublikum. Denn im Rahmen einer vierteiligen Dok-Serie begleitete SRF unter anderem auch den studierten Forstingenieur vom Sempachersee auf seinem Weg zum Gipfelglück. Nicht zuletzt, um der Frage nachzugehen, wie viel von der Bergsteigerromantik am höchsten Berg der Welt tatsächlich noch zu finden ist.
Vor 25 Jahren am Everest gescheitert
Mit dieser sowie vielen weiteren Fragen hat sich auch zentralplus aufgemacht. Nicht Richtung Mount Everest, sondern nach Oberkirch, ins Zuhause des Dok-Protagonisten. Dort sitzt Binggeli am Stubentisch, lässig in kurzen Hosen und Wollpulli gekleidet. Vor ihm eine dampfende Tasse Filterkaffee, an den Holzwänden hängen eingerahmte – nein, nicht Gipfelfotos, sondern getrocknete Blätter. Bereits 1999 versuchte der gebürtige Baselbieter das Dach der Welt zu bezwingen, musste aber 900 Höhenmeter unterhalb des Gipfels wegen schlechten Wetters abbrechen. Seither sind 25 Jahre ins Land gezogen. Ein Vierteljahrhundert, in dem sich am Everest «Gewaltiges» getan habe.
Was sich am und um den höchsten Berg der Welt abspielt, insbesondere auf der nepalesischen Südseite, dafür hat Binggeli nur ein Wort übrig: «Massentourismus». Ob im Basislager, auf Akklimatisierungstouren oder dann beim Erklimmen des Everests: Alleine ist man kaum jemals. «Bis zu 400 Bergsteiger machen sich an gewissen Tagen auf zum Gipfelsturm.» Stau am Gipfel auf über 8000 Metern ist längst keine Seltenheit mehr. Das liegt auch daran, dass man aufgrund der Wetterbedingungen den Gipfel nur während weniger Tage im Spätfrühling oder Herbst erklimmen kann.
Komplett gewandelt hat sich laut Binggeli auch das Antlitz des Basislagers. Was vor über zwei Jahrzehnten noch eine bescheidene Zeltansammlung war, hat sich inzwischen zu einer veritablen Kleinstadt gewandelt. Ein Drink gefällig? Klar, gibts in der Bar. Oder wie wäre es mit einer ausgefallenen Kaffeekreation? Kein Problem für den Lagerbarista. Ein ständiger Begleiter auf über 5000 Metern ist dabei auch ohrenbetäubendes Rotorengeknatter. «Nicht weniger als drei Heli-Landeplätze befinden sich um das Lager», erklärt Binggeli. «Gefühlt alle zwei bis drei Minuten landet oder startet eine Maschine.»
Luxus bis fast auf den Gipfel
Ständige Helikopterflüge und Barbespassung zeugen von einem tief greifenden Wandel. Genauso wie isolierte Dome-Zelte mit einem Durchmesser von zwölf Metern, ausladende Feldbetten, Heizdecken, professionelle Küchenteams – selbst in höher gelegenen Lagern – und Sherpas, die einem fast jede Last bis auf den Gipfel abnehmen: Das Bergsteigen am Everest ist laut Binggeli viel bequemer, «luxuriöser» geworden. «Du musst am Morgen bloss noch rechtzeitig aufstehen, die Schuhe schnüren – und selbst hochsteigen», formuliert es Binggeli bewusst überspitzt.
Allem Wandel zum Trotz: Einiges ist noch gleich geblieben. Am Berg spiele die Weltpolitik noch immer keine Rolle. Da werde kein Bergsteiger geächtet, nur weil er Russe sei. Zudem sei die Hilfsbereitschaft nach wie vor gross – auch wenn immer mehr Anbieter um die wachsende Zahl der Everest-Besteiger buhlen würden und der Wettbewerb zunehmend härter werde. «Man nimmt Rücksicht aufeinander und hilft, wann immer möglich.» Zudem würden die wachsenden Touristenströme am Everest auch immer mehr heimischen Touranbietern ein Auskommen ermöglichen.
Nach wie vor tödliches Wagnis
Und etwas anderes hat sich ebenfalls nicht geändert: Das Erklimmen des höchsten Gipfels der Erde kann noch immer mit dem Tod enden. Gleich über zwei Leichen musste Binggeli steigen, um zum Gipfel zu gelangen, «beide noch relativ frisch». Zudem liessen am selben Tag zwei weitere Bergsteiger ihr Leben am Berg, am Vortag waren es ebenfalls deren zwei gewesen. Eine Schuld daran trage sicherlich auch, dass die sozialen Medien und der zunehmende Komfort am Berg ein Publikum anlocke, dass nicht optimal auf eine Besteigung vorbereitet sei, glaubt Binggeli. «Ein Viertel all jener, die den Everest besteigen wollen, hatte vorher noch nie Steigeisen an den Füssen.»
Beim zweifachen Familienvater, der seit gut 20 Jahren am Sempachersee lebt, ist das definitiv anders. Schon in der Jugend zog es den Bauernsohn in die Berge. Erst vor allem für Skitouren, dann vermehrt auch ohne Latten an den Füssen für Kletter- und Hochtouren. «Ein Bergsteigerass war ich aber nie», bekräftigt Binggeli. Umso unvermittelter und kometenhafter war der Aufstieg in die höchsten Sphären der Bergsteigerei, der ihn während seines Studiums in den USA ereilte. Erst führte ihn ein Sommerstudi-Job in Alaska eher zufällig auf den Denali, den höchsten Berg Nordamerikas. Dann erfolgte auf eine Anfrage einer Studienkollegin auch bereits die erste Expedition ins Himalaya-Gebirge. Das Ziel: nichts Geringeres als die Besteigung des K-2.
Auch wenn ihm dieser Gipfel letztlich verwehrt blieb: Um Binggeli war es nun geschehen. Das Gipfelvirus hatte jede Faser seines Körpers infiziert. Es folgten zig weitere Expeditionen im Himalaya (unter anderen auch jene erfolglose auf den Everest 1999), bevor schliesslich vermehrt die höchsten Gipfel Südamerikas in seinen Fokus gerieten. Etwas zur Ruhe kam Binggeli erst, als ihn Familien- und Berufssituation zu mehr Sesshaftigkeit zwangen. Und doch nagte auch während all der Jahre der Familienbehaglichkeit ein Gedanke besonders an ihm: Wie wäre es wohl, auf den höchsten Gipfeln aller sieben Kontinente zu stehen?
Ein Gipfel steht noch aus: der Kilimandscharo
Es war dieser Gedanke, der ihn wieder zurück ins Bergsteigerbusiness brachte. Der ihn veranlasste, den 2228 Meter hohen Mount Kosciuszko in Australien zu erwandern sowie den fast 5000 Meter hohen Mount Vinson in der Antarktis zu besteigen. Der ihn mit den Ski auf den Elbrus führte sowie den Mont Blanc erklimmen liess. Für diese Idee war Binggeli unlängst am Everest auch bereit, gut 70’000 Franken, acht Wochen und womöglich gar sein Leben zu opfern.
Hat es sich gelohnt? Binggelis Antwort lässt keinen Zweifel zu: «Definitiv ja!» Auch wenn er einige Tage brauchte, um den Gipfelerfolg tatsächlich zu realisieren. Mit der erfolgreichen Expedition am Everest ist das Kapitel der 8000er für ihn nun definitiv abgeschlossen. Ein Höhepunkt aber steht noch an. Im nächsten Sommer will er mit der gesamten Familie, mit Ehefrau, Tochter und Sohn, den Kilimandscharo besteigen. Es wird gleichzeitig der letzte der «Seven Summits» sein. Ob dann die Gipfellust endgültig gestillt sein wird?