Entlebuch: Vom «Armenhaus» zum Pionier für grünen Tourismus
Das Unesco-Biosphärenreservat Entlebuch gilt als Vorzeigeregion, wenn es um wirtschaftliche und nachhaltige Entwicklung geht. Der Weg dahin war steinig und zwang den heutigen Direktor auch mal zu provokativen Mitteln. Theo Schnider und Petra Wey blicken im Gespräch zurück und verraten, wie es weitergeht.
«Natürli!» So antwortet Theo Schnider im heimeligen Esszimmer des Hospizes Heiligkreuz auf die Frage, ob er – wie auf diversen Prospekten abgebildet – tatsächlich auch schon den Alpsegen praktiziert habe. Er sei auf der Alp Silwängen unterhalb der Schrattenfluh aufgewachsen, erklärt Schnider, und da hätten alle in der Familie den Alpsegen gerufen.
Auch sonst sei er stark verbunden mit Traditionen und Brauchtum. «Ich war einige Jahre im Vorstand des Zentralschweizer Jodlerverbandes und Obmann der Alphornbläser.» Zudem fungiere er ab und zu als Regisseur für den Jodlerklub Echo Sörenberg.
Regisseur. Dieser Begriff passt ausgezeichnet zu diesem Mann, der mit seiner schier unglaublichen Energie und seiner Überzeugungskraft an vorderster Front dazu beigetragen hat, dass aus dem «Armenhaus» Entlebuch innert drei Jahrzehnten nicht nur ein Unesco-Biosphären-Reservat geworden ist, sondern eine prosperierende Vorzeigeregion und ein Modell, das weltweit Beachtung findet. Wobei: Auf sein Betreiben hin wurde der Begriff «Reservat» schon zwei Jahre nach Erhalt des Unesco-Labels ersatzlos gestrichen. Seither spricht man von der Unesco Biosphäre Entlebuch (UBE).
Rothenthurm-Initiative als Schock
Theo Schnider ist Tourismusdirektor von Sörenberg, als am St. Niklaustag 1987 die Volksinitiative «Rettet die letzten Moorlandschaften!» mit fast 58 Prozent vom Schweizer Volk angenommen wird. Er erinnert sich, wie sich nach geschlagener Schlacht im Tal die Ernüchterung breitgemacht hat: «Im Entlebuch, das mit über 100 Mooren und 26 Prozent der Landfläche das grösste Moorvorkommen des Landes hat, ist massiver Widerstand aufgekommen.»
«Der Weg war beschwerlich und nur langsam haben die Menschen erkannt, dass ein Biosphärenreservat auch Chancen bietet.»
Petra Wey, Präsidentin Pflegschaft Heiligkreuz
Es ist nachvollziehbar, dass der Moorschutz in der damals strukturschwachen Region als Hemmnis für die Entwicklung angesehen wird. Auch er sei damals gegen die sogenannte Rothenthurm-Initiative eingestanden, gibt Schnider zu. Allein die Gemeinde Flühli – die mit einer Fläche von über 108 Quadratkilometern grösste Kommune auf Kantonsgebiet – wäre mit einem Mal zu zwei Dritteln geschützte Fläche geworden. Schnider: «Tourismus in Sörenberg, das zu Flühli gehört, wäre nicht mehr möglich gewesen. Es gab Verlautbarungen aus Bern, wonach wir sämtliche Skilifte hätten abbauen müssen.»
Weil Theo Schnider damals etwas ändern möchte, aber bei Medien und Politikern kaum Gehör findet, setzt er auf Provokation. Verkleidet als Indianer reist er nach Luzern, um bei der Kantonsregierung aufzutreten und zu fragen: «Sollen die Einheimischen in einem Reservat leben?» Dieser Husarenritt zeigte Wirkung und fortan sprach man auch vom Nutzen, nicht mehr nur vom Schützen. Seither trägt der Rebell aus dem Entlebuch einen Rossschwanz.
«Achtung, Einheimische nicht füttern!»
Theo Schnider wurde damals bewusst, dass das Entlebuch die Folgen der ungeliebten Moorschutz-Initiative nutzen sollte. Vor seinem geistigen Auge sah er zusammen mit dem damaligen Luzerner Regierungsrat Paul Huber ein Moorkompetenzzentrum und erkannte, dass das Entlebuch auch punkten könnte mit den anderen exklusiven Gegebenheiten – Karstlandschaft der Schrattenfluh, Jagd- und Wildschutzgebiet am Rothorn.
Er erinnert sich: «Wir haben nach einem Instrument gesucht, um alle diese Vorteile unter einen Hut zu bringen und sind zusammen mit dem regionalen Raumplaner auf die Biosphärenreservate der Unesco gestossen.» Man sah sich die Reservate Röhn im Dreiländereck Bayern, Hessen und Thüringen sowie in Berchtesgaden an und kam zur Einsicht, dass sowas auch im Entlebuch möglich wäre – vielleicht sogar noch besser. Denn, so Schnider: «Ein Biosphärenreservat soll sich nicht nur um die Natur und Umwelt kümmern, sondern auch um die Wirtschaft, die Menschen, die Gesellschaft.»
Schnider räumt ein, dass es anfänglich sehr harzig gewesen sei, den Menschen Sinn und Zweck eines solchen Reservats beliebt zu machen: «Viele dachten: Jetzt gibt es dann keine Freiheit mehr und wir Bauern müssen alle auf bio umstellen.» Er erinnert sich an jene Zeit, als die ersten Berichte über die Vision erschienen. Die «Luzerner Zeitung» illustrierte einen Artikel mit einem denkwürdigen Bild: «Darauf war in Wolhusen ein Kassenhüttli zu sehen, wo man den Eintritt ins Entlebuch entrichten sollte, davor ein Bild mit dem Spruch: ‹Achtung, Einheimische bitte nicht füttern!›»
Als «bio» noch Ängste auslöste
Spätestens zu diesem Zeitpunkt war klar: Die Entlebucher Bevölkerung muss nicht nur überzeugt werden von der Idee, sie muss sie mittragen und leben. Und sie muss darüber abstimmen können. Dies, so Schnider, sei im Verbund der rund 700 Biosphärenreservate auf der Welt einzigartig gewesen: Nirgendwo sonst habe die Bevölkerung an einem solchen Unterfangen mitbestimmen können. Schnider und seine Getreuen wurden zu wahren Wanderpredigern. «Wir waren praktisch Tag und Nacht unterwegs in der Region, bei Gemeinden, Vereinen, Organisationen – überall. Um vorzutragen, zu diskutieren und vor allem, um zu überzeugen.»
An den sehr gut besuchten Gemeindeversammlungen aller Entlebucher Gemeinden konnten die Einwohnerinnen schliesslich darüber befinden, ob sie während einer zehnjährigen Betriebsphase je vier Franken pro Kopf und Jahr für die Unterstützung des Biosphärenreservats aufbringen möchten. Und tatsächlich: Mit einem Ja-Anteil von 94 Prozent stellten sich alle Gemeinden hinter die Vision und setzten so den Grundstein. Schnider und sein Team, verstärkt durch den Gemeindeverband der sieben Entlebucher Gemeinden sowie den Verein «Freunde der Biosphäre», konnten die nötigen Vorarbeiten leisten, um die Bewerbung bei der Unesco zu deponieren.
Im September 2001 anerkannte die Sonderorganisation der Vereinten Nationen das Entlebuch als erstes Biosphärenreservat der Schweiz und erstes Biosphärenreservat der Welt, das in einem partizipativen Prozess entstanden ist.
Ein Volk mit Sinn für Nützliches
Die Bereitschaft zur Veränderung – das war laut Theo Schnider die grösste Herausforderung gewesen. Petra Wey, die in den Anfangszeiten als junge Frau und später als Gemeinderätin von Entlebuch im Team von Schnider mithalf, bestätigt diese Einschätzung. «Der Weg war beschwerlich, und nur langsam haben die Menschen erkannt, dass ein Biosphärenreservat auch Chancen bietet. Damals war ich 15 Jahre jung. Ich erinnere mich gut an die Zeit des Kampfes und der Angst. Auch der Begriff «bio» löste Ängste vor möglichen Vorgaben aus.»
Die Entlebucher sind ein besonderer Menschenschlag. «Liebenswürdig, zuverlässig, witzig, kritisch, heimatverbunden, ein guter Gastgeber mit ausgeprägtem Sinn für Nützliches. Wenn er sieht, dass es ihm etwas bringt, so ist er dabei und zieht mit», sagt Theo Schnider und fügt mit einem verschmitzten Lächeln an: «Zudem ist er gemäss historischen Quellen von kräftiger Statur und besonderer Schönheit.» Petra Wey nickt und sagt: «Der Entlebucher ist vorsichtig und schaut sicher zweimal hin, bevor er Ja sagt. Aber er ist durchaus offen, wenn er vom Sinn einer Sache überzeugt ist und selber eine Chance sieht.»
Heute, im Jahr 20 nach dem Start ins Biosphärenabenteuer, hat die Entlebucher Bevölkerung mit dem «Revervat» leben gelernt. Und sie erkennt inzwischen auch den wirtschaftlichen Nutzen. So spricht heute niemand mehr vom «Armenhaus der Schweiz» – man ist stolz darauf, als Vorzeige- und Modellregion für die Welt zu gelten.
Nachhaltigkeit ist der Schlüssel
Die wirtschaftlichen Aspekte seien wichtig, räumt Theo Schnider ein, «weil es letztlich ums Überleben geht». Dennoch suchen er und sein Team des Biosphärenzentrums in Schüpfheim stets die Balance zwischen Wirtschaft, Gesellschaft und Natur. Und allem liege die Idealvorstellung der Nachhaltigkeit zugrunde. Diese müsse als Leitprinzip verstanden, gelebt und erlebt werden, sonst tauge der Begriff nichts, so Schnider.
«Man soll weiterhin spüren, dass die Welt anders tickt, wenn man ins Entlebuch kommt.»
Theo Schnider, Direktor der Unesco Biosphäre Entlebuch
Das Biosphärenzentrum und das Biosphärenmanagement ist mittlerweile eine schlagkräftige Organisation mit 13 Mitarbeitenden. Der politischen Trägerschaft, dem Gemeindeverband, gehören 40 Delegierte aus allen Biosphärengemeinden an. Ebenfalls eine wichtige Rolle spielen die eigenständigen Foren, etwa zum Thema Energie, Bildung, Tourismus, Holz oder Landwirtschaft.
Heute liegt der jährliche Pro-Kopf-Beitrag der Gemeinden bei 20 Franken. Zusammen mit Beiträgen des Bundes und des Kantons sowie von Stiftungen kann das Biosphärenzentrum das Budget stemmen. In den letzten Jahren sind selbsterwirtschaftete Mittel als wichtiger Anteil des Haushalts hinzugekommen. Das Budget beträgt knapp drei Millionen Franken.
Auch künftig glaubwürdig bleiben
Stellt sich die Frage: Kann sich die Unesco Biosphäre Entlebuch noch weiterentwickeln? Wenn ja, in welche Richtung? Geht es nach den Vorstellungen von Theo Schnider, so könnte die UBE in ferner Zukunft einen etwas grösseren Perimeter umfassen: «Wir haben in verschiedenen Bereichen eine eher kritische Grösse. Auch neue Gemeinden müssten aber die Philosophie mittragen und den Ausgleich suchen zwischen Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt. Sonst sind wir nicht mehr glaubwürdig.» Auf keinen Fall dürfe die UBE durch eine Öffnung geschwächt werden. «Man soll weiterhin spüren, dass die Welt anders tickt, wenn man ins Entlebuch kommt.»
Schnider setzt die Messlatte hoch: «In allen unseren Kompetenzen müssen wir Spitzenreiter werden. Beim nachhaltigen Tourismus ebenso wie bei der nachhaltigen Entwicklung und den Regionalprodukten.» Von entscheidender Bedeutung sei es, dass die gelebte Philosophie über Generationen aufrecht erhalten werden könne. «Die grossartige Idee darf nicht einschlafen. Wir müssen über die Region hinaus den Ton angeben! Sonst vergisst man uns.»
Eine geografische Ausweitung sieht Petra Wey weniger. Wichtiger ist für sie, dass die Produkte und Angebote «absolut glaubwürdig» seien. Dazu gibt sie ein Beispiel: «Wer ein Naturtrekking anbietet, schenkt anschliessend keinen spanischen Wein aus.» Jeder Entlebucher müsse hinter der UBE stehen und sie verstehen.
Bleibt zum Schluss die Frage: Was sind die ganz persönlichen Herzensorte von Petra Wey und Theo Schnider im Entlebuch? Für Petra Wey ist es – neben dem Heiligkreuz – das «Mettelimoos» in Entlebuch. Und Theo Schniders Herzensort liegt «da, wo ich meine Wurzeln habe: am Fuss der Schrattenfluh».
Autor: Robert Bösiger