An der Bundesfeier in Luzern wird in den ersten August hineingefeiert. Unsere Autorin war das erste Mal dabei – auch wenn sie Nationalstolz immer ein bisschen befremdet hat.
«Patriotisch, idiotisch», hat mein Vater immer in seinen Bart geschimpft, wenn die Nachbarn im Dorf Ende Juli die Schweizerflaggen rausgehängt haben. Nationalstolz – Stolz allgemein – hielt er für ein eitles Gefühl, das ihm zuwider war.
Stolz bedeutet einerseits: Freude über etwas, das man erreicht hat. Es wird aber auch als Synonym für Überheblichkeit benutzt. In unserer Familie jedenfalls, wurde der Nationalfeiertag nicht gefeiert.
Nun aber habe ich von einer lieben Freundin die Einladung bekommen, an die Bundesfeier in Luzern zu kommen. Es gibt Jodel und Fahnenschwinger, kündigt sie mir an. Ich bin mir sicher, mich deplatziert zu fühlen.
Den Nationalfeiertag feiert «man» nicht
Woher kommt das eigentlich? Auch der Luzerner Stadtrat hat kein Interesse, den Nationalfeiertag zu feiern. Er wolle keine Bundesfeier ausrichten, hiess es vor einigen Jahren in einer Vorstossantwort. Und daran hat sich bis heute nichts geändert. Die Feier wird von einem Verein organisiert. Der Stadtpräsident lässt sie auch dieses Jahr ausfallen, was im Vorfeld für einige Misstöne sorgte (zentralplus berichtete).
«Wir können doch auch mal stolz sein», meinte meine Freundin. «Auf das, was die Schweiz erreicht hat. Wie wir durch die Pandemie gekommen sind, zum Beispiel. Oder dass wir in einem Land leben, in dem die Strassen sauber sind – und für jeden gesorgt wird.»
«Ja», sage ich. Aber vieles hängt mit dem Wohlstand zusammen, über den wir verfügen. Und da ist längst nicht alles «selbst erarbeitet». Ein guter Teil hat damit zu tun, dass wir jahrelang die Vermögen ausländischer Diktatoren gehütet und mit dem Bankgeheimnis beschützt haben. Zum Beispiel. Und darauf will ich nun wirklich nicht stolz sein.
Wenn nicht Stolz, dann zumindest Dankbarkeit
Wir einigen uns darauf, dass wir - wenn nicht stolz - dann zumindest dankbar sein wollen. Dankbar, dass wir in Sicherheit leben. Dass wir politische Rechte haben. Dass wir mitreden können, in welche Richtung sich unser Land entwickelt. Dankbar zu sein, hat mit Demut zu tun. Also mit dem Gegenteil von Überheblichkeit.
An der Bundesfeier sitze ich einen Tisch entfernt von Alain Berset, der heute die Rede halten wird. Kaum sitzen wir, drängt sich eine Menschentraube um den Bundesrat. Da sind gspässige Leute drunter.
Eine Frau redet wie ein Wasserfall von der «Neuen Weltordnung». Ein Mann mit einer Augenklappe macht Werbung für Jesus. Da sind aber auch junge Eltern, die ein Foto machen wollen, wie ihr Kind auf dem Schoss von Alain Berset sitzt. Und andere, die ihm die Hand schütteln, um ihm zu danken. Da sind viele, die den SP-Politiker wahrscheinlich nie wählen würden – und jetzt doch ein Selfie mit ihm machen wollen. Die Situation ist bizarr.
Ermensee bringt zehn Prozent der Bevölkerung mit
Als erstes spricht der Gemeindepräsident von Ermensee, der diesjährigen Gastgemeinde. 1000 Einwohnerinnen hat sie – 100 davon sind angereist, erzählt er. Stolz berichtet er, dass es nur eine Stunde dauere, bis man mit dem ÖV in Luzern «inne» sei. Autobahnanschlüsse gebe es in alle Himmelsrichtungen.
«Die Pandemie und der Krieg haben uns gezeigt, dass Freiheit, Unabhängigkeit und Souveränität keine Selbstverständlichkeit sind.»
Andrea Gmür, Ständerätin
Er rührt mich irgendwie, dieser Stolz, der Präsident einer Gemeinde zu sein. Als nächstes spricht Stadträtin Franziska Bitzi. Sie erinnert an die direkte Demokratie und dankt dem Bundesrat, dass er die Schweiz finanziell und gesundheitlich gut durch die Pandemie gebracht hat. Da ist sie wieder: Die Dankbarkeit, die mir näher ist, als der Stolz.
«Dürfen wir heute feiern, wenn in der Ukraine Krieg ist?», fragt Bitzi rhetorisch. «Ja», meint sie. Weil es sonst nie wieder was zu feiern gäbe. Irgendwo ist immer Krieg. «Konzentrieren wir uns auf die Dinge, bei denen wir einen Unterschied machen können», sagt sie. Und meint damit: Die Solidarität in der Gesellschaft.
Die politische Kultur gehört zu unserer Identität
Auch Ständerätin Andrea Gmür ruft die Stärken des Schweizer Politiksystems in Erinnerung. «Die Pandemie und der Krieg haben uns gezeigt, dass Freiheit, Unabhängigkeit und Souveränität keine Selbstverständlichkeit sind», sagt sie. «Sondern Werte, für die wir jeden Tag einstehen müssen.»
Auch ein Satz, den ich unterschreiben könnte. Schliesslich tritt Alain Berset auf die Bühne (zentralplus berichtete). Er sagt, die Luzerner hätten eine lebendige Tradition. Und lebendige Traditionen seien Träger der Identität. Zu dieser gehöre auch die politsche Kultur der Schweiz, die darauf beruhe, dass man respektvoll miteinander umgehe – und nach Kompromissen suche.
Die Frau, die an der Bundesfeier in Luzern den Patriotismus in mir weckt
Gerade in den sozialen Medien herrsche ein gewisser Stolz auf einfache Analysen. Es gebe gut oder schlecht – und keinen Raum für eine Annährung. Rechthaberei werde mit Geradlinigkeit verwechselt.
Das ist das Wort wieder: Stolz.
Ich will grade darüber nachdenken, da schreit eine Frau laut: «Alain! Du lügst!»
Die Menge schaut sich um. Alle Augen richten sich auf die Frau. Da ist kollektives Kopfschütteln. Viele verdrehen die Augen. Der Auftritt ist einfach peinlich. Beim nächsten Satz von Berset gibt es lauten Zwischenapplaus.
Und da plötzlich fühle ich ihn: den Stolz. Dass eine Frau zwar an die Bundesfeier kommen und den Bundesrat beleidigen kann, dass sie dafür aber böse Blicke erntet. Und zwar von allen. Auch jenen, die nicht die SP wählen. Auch jenen, die kein Fan sind von Alain Berset. Auch jenen, die mit den Corona-Massnahmen des Bundesrates nicht immer einverstanden waren.
Respektlosigkeit wird nicht geduldet
Mich erinnert die Szene an ein Lied von Mani Matter. Er singt davon, wie er auf der Bundesterrasse einen Mann trifft, der das Gebäude mit Dynamit sprengen will. Um dies zu verhindern, hält er eine 1. Augustrede, die «ein Ross patriotisch hät gmacht».
Das könnte mir auch passieren, merke ich in genau diesem Moment und blicke zu der seltsamen Frau. Du kannst abstimmen, du kannst wählen, du kannst mitreden. Aber du kannst nicht einen Bundesrat beleidigen. Wenn jemand die Grundfesten der Demokratie angreift, dann gilt es diese zu verteidigen – und sei es nur mit einem bösen Blick. Die Frau hat keinen Applaus bekommen. Weil die Art, wie sie sich einbringt, einfach daneben ist. Das macht mich tatsächlich ein bisschen stolz.
- Teilnahme an der Bundesfeier in Luzern
- Rede von Alain Berset
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Luzi Meyer, 22.08.2022, 16:30 Uhr Liebe Lena
Eine grossartige Reportage – und eine ausgezeichnete 1. August-Rede obendrein!👍0Gefällt mir👏0Applaus🤔0Nachdenklich👎0Daumen runterIsabelle Schmitt, 01.08.2022, 23:19 Uhr Hallo Lena Berger,
Ihr Artikel über die Bundesfeier hat mich sehr angesprochen. Einmal was Anderes, persönliche Gedanken die ich sehr gut nachvollziehen kann.
In diesem Sinne ein herzliches Dankeschön.
I.S.👍1Gefällt mir👏1Applaus🤔0Nachdenklich👎0Daumen runterKurt, 01.08.2022, 17:21 Uhr Liebe Leute wenns so schlimm ist mit der Schweiz dann macht eteas dafür. Verbessert die Geschichte
👍1Gefällt mir👏1Applaus🤔0Nachdenklich👎1Daumen runterBrummbär, 01.08.2022, 14:02 Uhr BR Berset glänzte nun mal in der Vergangenheit nicht mit Ehrlichkeit und beispielhaftem Lebenswandel. Da kommt ein «Alain, du lügst» zwar in die Quere und die Masse scheint es vor Ort mit Kopfschütteln zu quittieren. Recht hat die Dame trotzdem und vielleicht auch ein Quäntchen Zivilcourage? Ich kann da den gefühlten Stolz von Lena Berger nicht nachvollziehen. Aber die Masse kam nicht um Zivilcourage zu zeigen, sondern möchte Teil der Feierlaune sein und einfach mal alles etwas vergessen. Das passt doch ganz schweizerisch zum 1. August und dem Berset wird ein friedliches Bad ganz ohne Gegenstrom in der Menschenmenge gegönnt! Respekt verdient, wer auch respektvoll handelt. Die Schweiz ist heute in Feier- und Patriotenlaune – das Katerfrühstück folgt morgen.
👍1Gefällt mir👏0Applaus🤔1Nachdenklich👎2Daumen runterHelvetica, 01.08.2022, 12:45 Uhr Dankbarkeit wem oder was gegenüber? Den unermüdlich ehrlich Arbeitenden, den Migrantinnen und Migranten, jenen, die freiwillig die Natur geschützt haben, auf verschwenderisches Leben in der reichen Schweiz verzichtet haben! Dankbarkeit gegenüber Europa, das uns immer wieder in die Mitte genommen hat und nimmt, trotz Rosinenpickerei und kitschigem Patriotismus.
👍3Gefällt mir👏1Applaus🤔0Nachdenklich👎0Daumen runterRemo, 01.08.2022, 09:40 Uhr Geschätzte lena
Wenn fu die schweiz auf diktatorenhelder, bankgeheimniss …. Reduzierst kennst du die geschichte dieses landes nicht wirklich…..
Welches land darfs den sein?👍1Gefällt mir👏0Applaus🤔1Nachdenklich👎3Daumen runterAlbert von Hasle, 01.08.2022, 10:22 Uhr Die Schattenseiten gehören eben zu unserer Geschichte – Nazigold, Diktatorengelder, Verdingung, Abtötung der Schwächsten während der Pandemie (nein, die Schweiz hat die Pandemie nicht gemeistert – merkt man spätestens beim Todeszahlenvergleich – aber für unsere Politiker und Medien ist der Auslandsvergleich halt Tabu).
👍2Gefällt mir👏1Applaus🤔0Nachdenklich👎1Daumen runterRaphael, 01.08.2022, 10:55 Uhr Und die klassische Haudraufkeule: «Welches Land darf es denn sein?»
Mein Gott, man darf sich mit seinem Land auch kritisch auseinandersetzen, propagierte «Geschichte», wie auch die wirkliche Geschichte hinterfragen.
Niemand muss patriotisch sein, das ist auch eine Errungenschaft in unserem Land. Solche Bemerkungen sind zumindest unschweizerisch. Dass Sie das nicht wissen, erstaunt mich jetzt aber doch, werter Remo. Denn in der Schweizer Geschichte und Gesellschaftslehre scheinen Sie ja gemäss eigener Implikation ein Hirsch zu sein.👍4Gefällt mir👏1Applaus🤔0Nachdenklich👎1Daumen runterRemo, 01.08.2022, 16:22 Uhr Nur negative „schweizerisches“ auftischen….. die schweiz hat such viele gute erungenschaften erbracht…. Ausgeglichen wäre doch schön …. Finde den artikel sebr einseitig , komisch, dürftig
👍0Gefällt mir👏0Applaus🤔1Nachdenklich👎2Daumen runterRemo, 01.08.2022, 17:19 Uhr Kein Hirsch aber einer der alle Seiten anschaut und doch noch froh ist eine Schweizerin zu sein. Ich feiere ja auch meinen Geburri und bin auch nicht nur super toll
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Paul, 01.08.2022, 09:37 Uhr Schade lena habt ihr den 1.august nicht gefeiert. Ich feriere nicht als patriot oder sonst was. Aus dankbarkeit in der schweiz wohnen und leben zu dürfen. Ein privileg wie ich finde.
👍1Gefällt mir👏0Applaus🤔1Nachdenklich👎2Daumen runterRoli Greter, 01.08.2022, 10:33 Uhr Für mich ist das auch ein Privileg, ein glücklicher Zufall. Eine solche Feier ist mir 2022 aber dann doch zu viel gelebte Doppelmoral…
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