Eine Kulturlandschaft neu entdeckt

An der Rigi verbirgt sich ein «Chestene»-Paradies

Der Rigi-Chestene-Weg führt von Immensee bis nach Brunnen. (Bild: Christian Roth)

Seit Jahrhunderten wachsen an den exponierten Hängen des Rigi-Südfusses Edelkastanien. zentralplus begibt sich mit Wanderschuhen auf die Spuren der Kastanien-Kulturlandschaft der Zukunft.

Rigi-Chestene-Weg. So heisst der Weg, der seit 2006 von Immensee SZ entlang der Rigi immer weitergezogen worden ist, vorläufig bis nach Brunnen. Er galt zwar schon lange als Kastanien-Weg, nur war in den Jahrzehnten zuvor in Vergessenheit geraten, welche zentrale Rolle die Edelkastanie gerade in früheren Zeiten gespielt hatte.

Wir haben das Glück, mit dem Weggiser Josef «Seppi» Waldis (78) unterwegs zu sein. Der ehemalige Förster der Region und Ehrenpräsident der IG Pro Kastanie Zentralschweiz kennt jeden Kastanienbaum auf der Strecke persönlich und weiss alles über diese in früheren Jahrhunderten so wichtige Frucht für die Menschen hier. Ebenfalls begleitet werden wir von Hans-Peter «Buda» Rust (75), den Sekretär dieser Organisation für die Sache der Edelkastanie.

Greppen, das Kastaniendorf schlechthin

Unsere Wanderung starten wir beim «Büelwäldli» auf dem Gemeindegebiet von Greppen. Die 1200-Seelen-Gemeinde gilt als das Kastaniendorf schlechthin. So findet immer am vierten Oktober-Wochenende der wohl grösste Kastanienmarkt der Deutschschweiz hier statt, heuer am 23. Oktober. Nur wenige Schritte oberhalb des kleinen Wäldli erreichen wir den Wegweiser, der uns auf den Rigi-Chestene-Weg schickt.

Am Dorfrand von Greppen verlassen wir den Weg und wandern in Richtung Hertenstein. Auf dem bequem begehbaren, erhöhten Weg geniessen wir die prächtige Aussicht auf den Vierwaldstättersee; in der Ferne, gleich hinter einem alten Kastanienbaum, zeigt sich der Pilatus. Seppi Waldis skizziert die Vorteile des Edelkastanienbaums, gerade auch angesichts des fortschreitenden Klimawandels: Anders als Buche, Fichte und Konsorten kämen die Kastanienbäume mit hohen Temperaturen und der Trockenheit gut zurecht.

«Feigen lieben dieselben Standorte wie die Edelkastanien.»

Josef «Seppi» Waldis, Ehrenpräsident der IG Pro Kastanie Zentralschweiz

Dafür sind sie leider anfällig für den sogenannten Kastanienrindenkrebs. Es handelt sich um einen aggressiven Pilz, der vor Jahrzehnten fast die ganzen Bestände der amerikanischen Kastanien in den USA vernichtet hat. Seit der Pilz ab den 1950er-Jahren vermehrt auch in der Schweiz vorkommt und die Blätter und ganze Kronenteile letztlich zum Verdorren und Absterben bringt, kann man heute bei rechtzeitigem Eingreifen den Krebs befallener Bäume mit einem Gegenvirus biologisch behandeln.

150 Kilogramm Kastanien wirft ein Baum ab

Wir kommen am stattlichen Hof der Familie Stocker vorbei. Neben der hauseigenen Brennerei, die die Früchte des Betriebs zu feinen Schnäpsen und Likören veredelt, findet man im Hofladen auch das exklusive Marronidestillat «Marroni Gold». Ebenfalls nur 10 Flaschen à 2 dl jährlich sind vom Feigendestillat «Feige Gold» zu haben.

Feigen? Tatsächlich setzen Stephan und Andrea Stocker-Wyss auf ihrem Hof nebst Fleisch, Eiern, Obst und Edelkastanien auch auf Feigen. Dazu haben sie extra eine Feigenplantage oberhalb ihres Hofs erstellt. «Feigen», sagt Seppi Waldis, «lieben dieselben Standorte wie die Edelkastanien».

Die Edelkastanie leistete früher einen wichtigen Beitrag zur Ernährung der Bevölkerung. (Bild: Christian Roth)

Bei unserem Besuch erfreuen sich die reifenden Stocker-Feigen am prächtigen Sommerwetter, während eine kleine Schafherde das Gras um die Feigenbäume kurz hält. Die ganze Anlage ist mit einem feinen Netz eingepackt, das einerseits gegen Hagel, andererseits gegen die ärgerliche Kirschessigfliege schützt.

Die Stockers verkaufen ihre Feigen, die von Mitte Juli bis Mitte Oktober reifen, nicht nur als frische unbehandelte Delikatesse, sondern auch in Form von Konfitüren, Feigensenf und Balsamico. Die meisten Edelkastanienbäume auf dem Land der Stockers sind alt genug, um jeweils ab Oktober eine Vollernte von bis zu 150 Kilogramm Kastanien zu bringen.

Baumruinen zeugen vom strengen Frost 1956

Wir wandern weiter, queren die Hauptstrasse und gelangen, durch eine junge Chestene-Allee zum Haldihof. Eingebettet zwischen Rigi und See am Waldstätterweg auf halber Strecke Küssnacht am Rigi–Weggis, wird er seit Generationen als Landwirtschafts- und Obstbaubetrieb bewirtschaftet. Doch heute leben auch Alpakas, Geflügel und Pfauen hier. Auf dem Haldihof werden Edelbrände, Trockenfrüchte und viele weitere Naturprodukte produziert und sind im Hofladen zu haben. Eine kleine Gaststube lädt zum Verweilen ein.

Uns zieht es weiter Richtung Hertenstein und Weggis. Der schöne Wanderweg führt vom Haldihof zunächst bergab. Wir bewundern die verschiedenen Bäume und Büsche, die den Pfad säumen: Da finden sich nebst Kastanien auch Nussbäume, Kornelkirschen, Mirabellen und Mispeln. Kaum haben wir den See erreicht, steigt der Weg wieder an – wir durchqueren den sogenannten «Herrenwald» auf der Hertensteiner Halbinsel.

Viele Kastanienbäume haben eine besonders strenge Frostnacht im Jahr 1956 nicht überstanden. Heute zeugen noch Baumruinen davon. (Bild: Christian Roth)

Immer wieder bietet sich uns eine prächtige Sicht auf Vierwaldstättersee und Berge. Bald erreichen wir den Tanzenberg als eines der eindrücklichsten Kastanienhainrelikte der ganzen Zentralschweiz. Hier wurden bis 1955 rund 350 Kastanienbäume bewirtschaftet und die Marroni in Luzern verkauft, berichtet Seppi Waldis. Nach einem extrem strengen Frost im Frühjahr 1956 sind viele Kastanienbäume erfroren und mussten gefällt werden. Heute zeugen noch viele mächtige Altbäume und Baumruinen von damals.

Im Jahr 2011 wurde auf dem Tanzenberg unter der Trägerschaft der IG Pro Kastanie Zentralschweiz ein neuer Kastanienhain (wie die Kastanienselven in der Zentralschweiz heissen) angepflanzt. Nebst Sponsoren wie Fonds Landschaft Schweiz und Stiftungen wurde dieser Kastanienhain durch den Kanton Luzern, die Gemeinde Weggis und den Grundeigentümer mitfinanziert.

Halbinsel Hertenstein bietet Stoff für allerhand Geschichten

Die Halbinsel Hertenstein und der Tanzenberg bieten Stoff für allerhand Geschichten und Überlieferungen. Hans-Peter Rust erwähnt den Besuch der britischen Königin Victoria (1819–1901) anno 1868. Der Bayernkönig Ludwig II. (1845–1886) wollte einst das idyllische Terrain zwischen den beiden Endmoränehügeln Tanzenberg und Hertenstein zu einem Lustgarten mit chinesischen Pagoden, Grotten und Tempeln verwandeln lassen.

Doch die Pläne blieben zum Glück Makulatur. Dafür wurde später ein Schlosshotel erbaut, das temporär dem letzten Kaiser von Österreich, Karl I. (1887–1922) samt Familie und Entourage als Exil diente.

Der Rigi-Chestene-Weg zieht sich durch eine idyllische Landschaft mit herrlichen Aussichten. (Bild: Christian Roth)

Und auch der russische Komponist und Pianist Sergei Rachmaninow (1873–1943) lebte mehrere Jahre in seiner Villa Senar hier ganz in der Nähe und fand Inspiration für sein Wirken. Gemäss Rust wurde in den Jahren 1909 bis 1914 und kurz nach dem Ersten Weltkrieg auf der höchsten Erhebung des Tanzenbergs ein viel beachtetes Freilichttheater betrieben. Die Besuchenden kamen per Schiff an und spazierten damals via den mit Chestenebäumen gesäumten Fussweg von Hertenstein bis zum Theaterplatz hinauf.

Edelkastanie leistete wichtigen Beitrag zur Ernährung

In Weggis sind Edelkastanienbäume erstmals ums Jahr 1378 schriftlich bezeugt. Jedoch geht man davon aus, dass die stachelige Frucht bereits vor rund 2000 Jahren zusammen mit den römischen Besatzern in unsere Gegend gekommen sein muss. Hans-Peter Rust berichtet: «Am Vierwaldstättersee hat die Kastanie neben Hirse, Gerste, Hafer und Roggen früher einen wichtigen Beitrag zur Ernährung der Bevölkerung geleistet, bevor ab dem 18. Jahrhundert Mais, Bohnen und Kartoffeln auf den Speisezettel kamen.»

Der Rigi-Chestene-Weg führt von Weggis weiter Richtung Vitznau, Gersau bis Brunnen. Gleich an mehreren Kastanienhainen kommt man vorüber. Der grösste zusammenhängende Hain – die «Chesteneweid» oberhalb Weggis – ist ein einzigartiger Zeuge der Zentralschweizer Kastanienkultur von nationaler Bedeutung.

Bis 1955 wurden die dortigen Bäume und das damit verknüpfte Recht am Einsammeln der Kastanien jeweils von der Korporation Weggis versteigert. Diesem Geschäftsmodell hat ein harter Frost im Jahre 1956 ein jähes Ende bereitet. Seither ist der Hain frei zugänglich für alle.

Die Chestene-Landschaft an der Rigi

Rigi-Chestene-Weg

Der Rigi-Chestene-Weg beginnt bei der Hohlen Gasse in Immensee – am Ort also, wo der Legende nach Gessler von Wilhelm Tell mit der Armbrust erschossen wurde. Der Weg führt nicht nur entlang historischer Wahrzeichen der Schweiz, er widmet sich auch ganz dem Thema Kastanien. Er verläuft auf bereits bestehenden Wanderwegen (Rigi-Lehnen- und Waldstätterweg) entlang des Rigi-Südhanges über Greppen, Weggis, Vitznau und Gersau bis nach Brunnen-Ingenbohl.

www.kastanien.net/rigi-chestene-weg

Chestene-Baumschule

Zwischen Küssnacht am Rigi und Greppen führen Toni und Marianne Sidler eine Baumschule mit Hunderten von jungen Kastanienbäumen. Ebenfalls auf ihrem Grundstück ist die bisher landesweit einzige Kastanien-Sortensammlung beheimatet. Derzeit sind es gut 60 verschiedene Sorten aus der Zentralschweiz, die sie – unterstützt vom Bundesamt für Landwirtschaft BLW – hegen und pflegen.

www.sidler-gartenpflege.ch

Chestene-Chilbi

Immer am vierten Oktober-Sonntag, heuer ist das der 23. Oktober, steht das beschauliche Kastaniendorf Greppen im Zentrum des Interesses zahlreicher Kastanienfreunde. Gut 5’000 Besucherinnen zieht es hierher, um die Angebote der rund 70 Anbieter zu begutachten und zu erwerben. Das Angebot umfasst Produkte von Marroni über diverse andere Kastanienerzeugnisse (wie Mehl, Teigwaren, Honig, Konfitüren, Bier und Liköre) bis hin zu Produkten und Kunsthandwerk aus Kastanienholz. Zur Chilbi gehören selbstverständlich auch eine Festbeiz sowie ein spezielles Rahmenprogramm.

www.kastanien.net/chilbi

IG Pro Kastanie Zentralschweiz

Die Interessengemeinschaft Pro Kastanie Zentralschweiz wurde im Jahr 2000 in Greppen gegründet. Seither lanciert und realisiert diese ideelle Vereinigung zusammen mit Fachexperten, Institutionen, Stiftungen und weiteren Partnern verschiedene Initiativen und Projekte zur Erhaltung und Wiederbelebung des alten Kulturguts Kastanienbäume. Gefördert wird die Edelkastanie insbesondere in der Zentralschweiz.

www.kastanien.net

Autor: Robert Bösiger

Verwendete Quellen
  • Magazin echt, Ausgabe Herbst 2022
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