«Der Sandmann» im Luzerner Theater

Der Höhepunkt besteht in der fulminanten Eröffnung

Zwischen Eros und Thanatos – die Leidenschaft schwappt auf die Erzählenden über. Wiebke Kayser und Lukas Darmstädt, im Hintergrund Mira Rojzman.

(Bild: zvg/Ingo Hoehn)

Was haben vom Himmel fallende Knochen, eine Partie Golf und eine rudelhafte Zerfleischung eines süssen Plüschhasen mit E.T.A. Hoffmanns «Der Sandmann» zu tun? In einer ganz eigentümlichen Interpretation fokussiert die Luzerner Inszenierung den Blick durch das knöcherne Perspektiv auf die geistlose, gelangweilte und äusserst triebgesteuerte Gesellschaft Nathanaels. Freud lässt grüssen.

«Langsam und schmachtend» öffnet sich das Auge zu Wagners Prélude von Tristan und Isolde. Riesig hängt es über der Bühne und bewegt sich rhythmisch zu den spannungsträchtigen Bläserakkorden. Das Schwarz der Pupille wird bald grösser, bald kleiner, genauso wie der Augapfel sich mal nach aussen und mal nach innen wölbt. Es ist dieses ständige Hin und Her, diese Zerrissenheit zwischen dem dunklen, triebhaften Inneren und dem gegensätzlichen Äusseren, das E.T.A. Hoffmann in seinem «Sandmann» zum Thema macht.

In dieser äusserst gelungenen Eröffnungsszene des Stücks schaffen es der Regisseur Nicolas Charaux und der musikalische Leiter David Lipp, die unbestrittene Wirkung Hoffmanns auf das Wagner’sche Œuvre fokussiert anzuklingen. Während die niemals enden wollende Sehnsucht Hoffmanns ihren Höhepunkt im Zusammentreffen von Eros und Thanatos findet, lässt Wagner im Tristan-Akkord die dualistischen Grenzen zwischen Dur und Moll sprengen.

Ticktack, ticktack – Stägeli uf, Stägeli ab

Nach diesem imposanten Vorspiel richten wir unseren Blick auf drei maskierte Figuren, Nathanael und seine Eltern, die sich in ihrem gutbürgerlichen Leben zu Tode langweilen. Die grotesk anmutenden Masken schirmen dabei ihr getriebenes Inneres von der Aussenwelt ab. Auch die computeranimierten Stimmen lassen kaum Raum für Menschlichkeit. Man fragt sich, wer hier eigentlich der Automat ist.

Maskenbildnerin Pia Greven hat tolle Arbeit geleistet. Nathanael und seine Eltern im Hintergrund.

Maskenbildnerin Pia Greven hat tolle Arbeit geleistet. Nathanael und seine Eltern im Hintergrund.

(Bild: zvg/Ingo Hoehn)

Ein penetrantes Ticken im Hintergrund verdeutlicht die ungeheure Leere, welche in einem ekelhaften gegenseitigen Ohren- und Nasenbohren der Eltern gipfelt. Ein Schmunzeln geht durch das Publikum. Plötzlich fällt ein Knochen herunter, das Ticken beschleunigt sich und es erklingen laute, eiserne Schritte. Coppelius stolziert über eine Treppe auf die Bühne und bringt sich gekonnt in Szene.

Es ist der Beginn eines ständigen Auf- und Abtretens, eines Katz-und-Maus-Spiels über die beiden Treppen der Bühne. Die Bühnen- und Kostümverantwortliche Pia Greven verpasste den Figuren nicht nur düstere und traurige Masken, sondern legt zwei menschengrossen Hasen den roten Teppich, welche im Laufe des Stücks liebkost und zerfleischt werden.

Groteske Absurditäten

Die dramatischen Szenen mit den maskierten Figuren wechseln sich ab mit Erzählszenen, in welchen die Schauspielerinnen und Schauspieler unmaskiert die «Sandmann»-Geschichte in der Hoffmann’schen Sprache erzählen. Während man zu Beginn des Stücks noch einiges von der Originalgeschichte in den maskierten Szenen wiedererkennt, verkehrt sich das Ganze allmählich in einen wahnsinnigen, triebgesteuerten Exzess.

Der Vater, eigentlich von Coppelius getötet, ist plötzlich auch wieder da. Jetzt ist es Nathanael selber, der den Vater zu töten versucht. Der Ödipuskomplex, wie er leibt und lebt. Nach einem erneuten Erzähleinschub, in dem Wiebke Kayser die entsetzliche Schlussszene eindrucksvoll spielt, reisst schliesslich alles ein.

Christian Baus erzählt die Geschichte Nathanaels auf eindringliche Art und Weise.

Christian Baus erzählt die Geschichte Nathanaels auf eindringliche Art und Weise.

(Bild: zvg/Ingo Hoehn)

Da der Vater es nicht einmal mehr schafft, den Golfball einzulochen, holt sich die Mutter woanders Befriedigung. Lasziv stöhnend vor Erregung tänzelt sie über die Bühne und reibt sich an Nathanael in Ekstase, während dieser vom Sandmann durch das immer tiefere Hineinschieben des Essens und das ständige Rein und Raus seines Armes oral vergewaltigt wird. Die Hasen werden zerfleischt und langsam verschwindet die getriebene Meute unter einer Blackbox. Nur Nathanael und seine Olimpia bleiben aussen vor.

Fehlender Brückenschlag

Leider gelingt es dem Ensemble rund um Regisseur Nicolas Charaux und Dramaturg Nikolai Ulbricht nicht, die Brücken zwischen dem erzählenden und dem dramatischen Spiel genügend zu schlagen. Das Stück entzweit sich allmählich und die Maskeraden entfernen sich immer mehr vom «Sandmann»-Stoff.

Auch das Publikum scheint nicht ganz mitzukommen, rutscht ungeduldig auf den Sitzen hin und her, blickt herum und räuspert sich. So fällt dann auch der Applaus am Schluss eher verhalten aus.

Bis 19. Januar, Luzerner Theater

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