Selbstversuch in der Artothek Meggen

Mit einem gemieteten Bild gegen das Dezembergrau

«Wäre ein schwarzer Hintergrund nicht besser gewesen?»: Mitbewohner Iqbal findet das Bild schön.

(Bild: Remo Wiegand)

Teilen ist das neue Kaufen: In Meggen kann man professionelle, moderne Kunst ausleihen. Noch ist Meggens Artothek kein Renner, es gibt da ein paar Berührungsängste. Auch unser Autor hatte sie – und liess sich im Selbstversuch überzeugen. Ein Tagebuch.

So befinden wir und also bereits mitten im Advent: In einer Zeit mit viel Nebelgrau, Dunkelheit, Strassenlaternen, die bereits abends um 17 Uhr mondgelbes Licht streuen und Supermärkten, in denen die Weihnachtsschöggeli um Aufmerksamkeit buhlen.

Zeit, in sich zu gehen, Zeit, die Wohnung umzustellen und aufzuhellen. Zum Beispiel eben mit Kunst. In Meggen winkt die Chance, preisgünstig und ohne Ewigkeitshypothek eine schöne Aussicht aus dem Grau ins Haus zu holen.

1. Tag

Online habe ich den Artothek-Katalog bereits etwas durchgecheckt. Hat spannende Sachen drunter, und zum Glück stehen nur etwa überschaubare 100 Kunstwerke zur Auswahl. Es hat Bilder, Drucke, Fotografien und sogar Skulpturen. Da finde ich sicher was.

Autor Remo Wiegand wählt ein Bild aus dem Katalog der Artothek Meggen.

Autor Remo Wiegand wählt ein Bild aus dem Katalog der Artothek Meggen.

(Bild: zvg)

Wo die Kunst hin soll, ist bereits klar: Seit meinem Einzug hängt im Wohnzimmer ein Tischtuch, das irgendwie auf moderne Kunst macht. Da mein innenarchitektonischer Veränderungswille wenig ausgeprägt ist, hängt der Stofffetzen nun eben schon seit zehn Jahren dort. Aber jetzt muss er dran glauben.

Meine grösste Frage ist derzeit: Falls ich ein Bild miete, muss ich es aufhängen wie ein richtiges Gemälde? Mit Löchern, Dübeln, einer Bohrmaschine, die ich nicht habe, und dem ganzen Kram? Oder wird bei einem provisorischen Kunstmietobjekt auch eine provisorische Aufhängevorrichtung mitgeliefert, ein Klettverschluss oder ähnliches?

2. Tag

Die schlechte Nachricht: Das Aufhängen nimmt mir niemand ab. Die gute: Zwei kleine Schräubchen reichen, ohne Bohrmaschine. Das Bild, das ich mir heute geholt habe, ist einiges kleiner als mein Deko-Tischtuch, unspektakulär gerahmt, entsprechend eher leicht. Es stammt von Johanna Näf und heisst «Landscapes». Ich hasse englische Titel, aber ich liebe dieses Bild auf den ersten Blick: Es zeigt leicht hervorstehende weisse Punkte auf einer gelben Fläche. Sonst nichts.

Die Ausleihe in der Artothek verläuft unkompliziert: Ich sehe ein paar ausgestellte Bilder (die aber nicht ausleihbar sind), dann bekomme ich einen Katalog mit den übrigen Kunstwerken in die Hand gedrückt. Ich entscheide mich recht rasch für den Näf. Artothekarin Monika Peer bestätigt, dass das Bild – genau: der Farbprägedruck mit der Inventarnummer 292b – nicht ausgeliehen ist und holt es aus dem Depot. Ich zeige meinen Bibliotheksausweis, zahle 30 Franken Gebühr, unterzeichne einen Mietvertrag («Die Versicherung des Mietgegenstandes ist Sache des Mieters…») und bekomme den Original-Näf in einer praktischen Künstlertasche in die Hand gedrückt. Mit einem leisen Triumphgefühl fahre ich im Bus nach Hause.

Monika Peer holt das Bild aus dem Depot.

Monika Peer holt das Bild aus dem Depot.

(Bild: Remo Wiegand)

Dort, in Luzern Untergütsch, nehme ich das Bild aus der Mappe und bin erstmal enttäuscht: In echt sieht es anders aus als im Katalog. Das Gelb ist viel heller, der Kontrast zu den Punkten nur noch schwach auszumachen. Iqbal, mein afghanischer Mitbewohner, lobt das Bild erstmal höflich als «schön!», fragt dann aber, ob statt des weissen ein schwarzer Hintergrund nicht besser gewesen wäre. Ja, vielleicht, murmle ich.

Doch es ist, wie es ist. Das Bild muss an die Wand. Mit etwas Widerstand nehme ich mein Dauertischtuch ab. Iqbal hält das Bild und hilft, den genauen Platz zu definieren. 55 Zentimeter unter der Decke und im Abstand von 46 Zentimeter drehe ich Schräubchen in die Wand, hänge das Bild daran. Und siehe da: So sehen Näfs «Landscapes» wieder richtig gut aus. Wie echte Kunst. Ich bin zufrieden.

3. Tag

Ich beginne mit dem Bild zu leben. Es wandelt sich stündlich: Mal sehen die weissen Tupfer aus wie Kieselsteinchen, dann wie eine Pusteblume, schliesslich wie Schneebälle.

5. Tag

Aurel, ein Freund, kommt zu Besuch. «Ich habe gestern unsere Wohnung gemalt», spöttelt er, «die Flecken auf dem Boden sahen ähnlich aus.»

8. Tag

Meine Mutter findet den Farbprägedruck «lustig». Sie sieht in den weissen Tupfern einen Hinterkopf mit Haarstoppeln.

Kunst statt Dauertischtuch – das Vorher-Nachher-Bild im Wohnzimmer:

10. Tag

Das Aufregendste an den «Landcapes» ist ihre Unscheinbarkeit. Da ist etwas und doch fast nichts. Mir kommt Adornos Diktum in den Sinn, wonach es in jedem Kunstwerk etwas gebe, «das es nicht gibt». Geheimnisvoll hängt das gerahmte Nichts da, blinzelt manchmal kurz von der Wohnzimmerwand und verwandelt für den Bruchteil einer Sekunde seine ganze Umgebung in Kunst.

13. Tag

Mittlerweile weiss ich auch, wie Näfs Hintergrund-Gelb in der Farbnomenklatur genau heisst: schwefelgelb. Was ich bislang immer noch nicht weiss: Was genau ist eigentlich ein Farbprägedruck?

15. Tag

Für solche Fragen kommt ein Mann vom Fach gerade recht. Benjamin Heller, Bachelor of Arts in Kunst und Vermittlung, lobt das Werk: «Ein feines, subtiles Bild. Es verflüssigt sich unaufdringlich in die Umgebung, auch dank des schlichten Holzrahmens.» Was ein Farbprägedruck genau ist, weiss Beni allerdings ebenso wenig wie das Internet. Bleibt die Nachfrage bei der Künstlerin. Per Mail erklärt Johanna Näf das komplexe Verfahren. Was ich verstanden habe: Die weissen Punkte entstehen durch Hohlräume in einer eingefärbten Druckplatte. Darauf wird das Papier gedrückt. Um die Prägung zu erhöhen, wird zwischen Walze und Platte Filz angebracht.

20. Tag

Ich merke, dass ich das Bild kaum mehr wahrnehme. Es gehört jetzt zur Familie wie ein entfernter Verwandter, den man erst wieder zur Kenntnis nimmt, wenn er stirbt.

24. Tag

Es kommt Leben ins Wohnzimmer: Iqbal hat einen grossen Teppich gekauft, den Tisch verrückt und beim Staubsaugen aus Versehen eine Zimmerpflanze geköpft. Ein paar angeregte WG-Diskussionen folgen, alles stoisch beobachtet und ausbalanciert von den schneeweissen Kieselsteinchen auf schwefelgelben Grund.

27. Tag

Iqbal erwartet hohen Besuch, entsprechend soll das Wohnzimmer eine gute Falle machen: Auf dem Esstisch drapiert er Früchte in einer grossen Schale. Schön sieht‘s aus, zieht aber auch eine Horde Fruchtfliegen an. Einzelne fliehen bei Gefahr gerne in die «Landscapes».

30. Tag

Wie in jeder Beziehung gilt: Man soll gehen, wenn es am schönsten ist – bevor man sich vor lauter Gewöhnung übersieht oder zu nerven beginnt. Heute bringe ich das Bild also zurück. Es folgt ein kurzer Schreckmoment: Just vor dem Herunternehmen des Kunstwerks, als ich eine Fruchtfliege wegzuklopfen versuche, fliegt doch tatsächlich eine Schraube aus der Wand, das Bild baumelt bedrohlich auf einer Seite – zum Glück bleibt es an der anderen Schraube hängen. Beinahe hätte meine Versicherung noch ihren Auftritt bekommen.

Nach einem Monat heisst es: Abschied nehmen vom Kunstwerk.

Nach einem Monat heisst es: Abschied nehmen vom Kunstwerk.

(Bild: zvg)

Ich schnappe die Künstlermappe, versorge vorsichtig das Bild darin und besteige den Bus nach Meggen. Bezeichnenderweise ist heute seit langem wieder einmal gutes Wetter. Johanna Näf hat mein Dezembergrau wahrlich aufgehellt. Danke dafür! Ihr Nachfolger wird es nicht leicht haben.

Kulturförderung der anderen Art – die Artothek in Meggen

Seit 2010 kann man in Meggens Bibliothek nicht nur Bücher, sondern auch Original-Kunst ausleihen. Die Artothek basiert auf der gemeindeeigenen Galerie Benzeholz, die rund 560 zeitgenössische Bilder und Objekte lokaler Künstlerinnen und Künstler besitzt, darunter so bekannte Namen wie Rolf Brem. «Die Galerie ist unser Kulturfördermodell», erklärt Urs Brücker, Meggens Gemeindepräsident und Kulturbeauftragter, «sie unterscheidet uns von den meisten Gemeinden, die Kulturförderbeiträge sprechen.»

In der Artothek ist eine Auswahl der Galerie-Werke für die Bevölkerung zugänglich. Für eine Mietgebühr von 30 Franken kann ein Werk ein halbes Jahr gemietet werden. Pro Jahr würden etwa 30 bis 50 Werke ausgeliehen. «Das Angebot ist nicht ganz barrierefrei. Man braucht Platz und muss die Kunstwerke richtig montieren», erklärt Urs Brücker die eher bescheidene Nachfrage. Weitere Artotheken gibt es in der Zentralschweiz in Luzern und in Sarnen.

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