Die Luzernerin Andrea Belliger zur Digitalisierung

«Ich würde mich sofort chippen lassen, wenn die Chips heute schon mehr könnten»

Andrea Belliger versteht die Angst vor der Zukunft. Doch teilen tut sie diese überhaupt nicht.

(Bild: jav)

Es ist eines der grossen Themen unserer Zeit: die Digitalisierung. Die einen bangen um ihre Jobs, die anderen um die Menschlichkeit. Wir haben mit einer Frau gesprochen, die klare Vorstellungen von der technologisierten Zukunft hat: mit der Luzerner Digitalexpertin Andrea Belliger. Sie erzählt, welche Berufe verschwinden werden – und wieso sie trotzdem nicht in Sorge ist.

In den 90er-Jahren zählte sie zu den Nerds und wurde für ihre Begeisterung fürs Internet belächelt. Heute lacht keiner mehr. Denn die Theologin Andrea Belliger hat sich mit ihrem Interesse für die digitalisierte und technologisierte Zukunft an die Spitze geforscht.

Ihr Studium in Theologie, Philosophie und Geschichte absolvierte sie in Luzern, Strassburg, Athen und Boston. Heute ist sie Prorektorin der Pädagogischen Hochschule Luzern, Co-Leiterin des Instituts für Kommunikation und Führung IKF in Luzern, Verwaltungsrätin in verschiedensten Unternehmen – und Expertin für digitale Transformation, die mit viel Enthusiasmus einer neuen Welt entgegengeht. Privat lebt die 48-Jährige mit ihrem Mann und den beiden Kindern im Luzerner Hinterland.

zentralplus: Viele Menschen haben Angst, von einer digitalisierten Gesellschaft abgehängt zu werden. Teilen Sie diese Angst?

Andrea Belliger: Überhaupt nicht. Das wirft man mir teilweise vor – ich sei zu euphorisch. Obwohl ich gewisse Sorgen berechtigt finde. Denn wir wissen nicht, wohin es geht. Wir haben viele Algorithmen nicht im Griff, auch nicht die Robotics, geschweige denn die künstliche Intelligenz. Wir können uns nicht mal vorstellen, was Blockchain eigentlich ist. Klar macht das Angst. Wir sind nicht so programmiert, freudig in eine unbekannte Zukunft zu wandern. Und besonders in der Schweiz nicht. Denn uns geht es extrem gut und wir haben deshalb auch viel zu verlieren.

zentralplus: Oft wird im selben Atemzug mit der Digitalisierung auch die Enthumanisierung genannt. Verbinden Sie die beiden Dinge?

Belliger: Beides sind absolute Hype-Begriffe. Um überhaupt über einen Zusammenhang zu sprechen, müsste man erst klären: Was ist human? Was ist Menschsein? Ich glaube, wichtig ist für die Zukunft die Frage: Wie geht der Mensch, das Tier, die Natur mit der Technologie zusammen? Also Biologie und Technologie. Vielleicht ist es bald human, dass ein Mensch durch Technik ergänzt wird. Der Transhumanismus forscht dazu in unglaublich spannenden Bereichen.

«Algorithmen übernehmen Arbeiten von Buchhaltern und Juristen.»

zentralplus: Einige Jobs sind durch die Technologisierung bereits unnötig geworden, etwa am Fliessband in Fabriken. Sie prophezeien, in naher Zukunft werden aber auch ganz andere Branchen auf den Kopf gestellt. Wen betrifft dies vor allem?

Belliger: Die Banken und Versicherungen. Wenn man Technologien wie Blockchain anschaut, dann wird klar, dass dort alles «peer to peer», unvermittelt zwischen zwei Parteien, funktioniert. Und das wirkt sich auch auf die Branchen aus. Die Technologie macht grosse Verwaltungsapparate und Mittlerinstanzen überflüssig. Ich bezahle zum Beispiel direkt über digitale Abläufe und brauche mein Geld nicht mehr irgendwohin zu bringen und wieder abzuholen. Betroffen sind auch jene Jobs, die Daten sammeln, aggregieren und auswerten. Künstliche Intelligenz und Algorithmen übernehmen einen grossen Teil der Arbeit von Buchhaltern und Juristen. Dieselben Entwicklungen betreffen das Bildungs- und Gesundheitswesen.

zentralplus: Wie sehen Sie dort die mögliche Entwicklung?

Belliger: Ein Computer kann Krankheiten diagnostizieren, indem er die Symptome und Vorgeschichte beim Patienten abfragt und mit grossen Datenmengen, wie beispielsweise Röntgenaufnahmen, abgleicht. Und zur Bildung: Ich kann heute schon global studieren. Wahrscheinlich wird sich das noch stärker auflösen – weg von den lokalen Hochschulen hin zum Wissensaustausch unter Menschen, die sich gegenseitig Informationen und Wissen vermitteln.

zentralplus: Und was machen dann all die ehemaligen Banker, Fliessbandarbeiter und Ärzte, Buchhalter und Juristen?

Belliger: Unsere Kinder hüten. (Lacht.) Nein, natürlich gibt es viele Felder, die man kaum an Maschinen abgeben kann. Ideen entwickeln – das wird dann wohl noch das Humane sein. Und tatsächlich sehe ich das auch bei vielen Jobs, die heute eher niedrigen Stellenwert in unserer Gesellschaft haben. In der Kinder- und Altenbetreuung, der Seelsorge und der Pflege – überall, wo zwischenmenschliche Interaktion einen grossen Teil ausmacht. Dort, glaube ich, wird es immer «Menschenjobs» geben und wir werden ihnen jene Wertschätzung zukommen lassen, die sie eigentlich heute schon verdient hätten.

«Ich würde mich sofort chippen lassen, wenn die Chips heute schon mehr könnten.»

zentralplus: Es sitzen also in Zukunft nicht alle Menschen an einem Computer?

Belliger: Natürlich nicht. Der Computer ist dann sowieso im Körper drin. (Lacht.)

zentralplus: Aber auch diesbezüglich sind Sie bestimmt optimistisch eingestellt?

Belliger: Das bin ich. Ich würde mich sofort chippen lassen, wenn die Chips heute schon mehr könnten. Ich war auch ein paar Mal nahe dran. Aber er kann noch etwas gar wenig: die Haustüre, das Auto öffnen, den Swisspass oder andere Tickets speichern.

zentralplus: Gibt es einen zentralen Punkt, um den sich Ihre Theorien drehen?

Belliger: Konnektivität, Vernetzung. Ich untersuche die Art, wie wir uns organisieren, und das geschieht zunehmend in Netzwerken, die sich stark von Systemen unterscheiden. Netzwerke kann man beispielsweise nicht «top down» steuern. Es gibt keine Grenzen, keine klaren Rollen und Funktionen mehr.

zentralplus: Welche Kompetenzen braucht der Mensch künftig, um in der Wirtschaft noch gefragt zu sein?

Belliger: Es gibt tatsächlich sehr viele Studien darüber, welche Jobs verloren gehen werden, aber sehr wenig dazu, welche Kompetenzen wir Menschen brauchen werden, um Probleme in Zukunft lösen zu können. Man muss sich dabei fragen: Was können uns Maschinen nicht abnehmen?

«Wir benötigen die Kompetenzen wie kritisches Denken.»

zentralplus: Und das wäre?

Belliger: Es existiert eine spannende Auflistung der University of Phoenix. Dabei wird genannt: Sensemakig, also sinnstiftendes Denken, oder Design Mindset. Es geht um eine offene und flexible Geisteshaltung, um das Ausprobieren, Testen, Verwerfen, Umsetzen. Und darum, alles immer wieder zu hinterfragen, Dinge genau zu denken, neu zu denken.

zentralplus: Nun ist der Mensch dafür nicht gerade bekannt. An welchen Schrauben muss gedreht werden, damit unsere Köpfe künftig so funktionieren? In den Schulen?

Belliger: Dazu könnte man beispielsweise über die Grenze nach Finnland schauen, wo der neue Lehrplan in der Primarschule die altbekannten Fächer etwas aus dem Fokus nimmt und dafür stärker auf Kreativität, kritisches Denken und Zusammenarbeit setzt. Bei uns funktioniert die Schule noch immer stark fächerorientiert. Doch wir benötigen die Kompetenzen wie kritisches Denken oder «Lesen zwischen den Zeilen». Denn es ist menschlich, dass man ziemlich blind für Dinge ist, wenn man mittendrin steckt.

zentralplus: Was sagen Sie in diesem Zusammenhang dazu, dass man in Luzern vor nicht so langer Zeit das Fach «Ethik» streichen wollte?

Belliger: Genau das Gegenteil sollte passieren.

zentralplus: Sie sind Theologin und eine Vordenkerin in der Technologisierung. Wie geht das zusammen?

Belliger: Das geht sehr gut zusammen. Wenn man sich jahrelang mit virtuellen Dingen wie dem Sinn des Lebens auseinandersetzt, dann liegt das Internet doch nahe. Ich konnte mir in den 90ern einfach sofort vorstellen, dass das Internet mit dem Potenzial der Vernetzung etwas Riesiges werden würde. Seither geht es mir mit den technischen Entwicklungen immer wieder so. Und ich bin freudig gespannt, was noch kommt.

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